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Herbert Mayer
Geschichtslektion im Bayerischen Viertel

Wer in Schöneberg durch das Bayerische Viertel geht, erlebt einen Spaziergang nachdenklicher Art. 80 Tafeln, die in ihrer Gestaltung Kunstwerk, Denkmal und Gedenktafel zugleich sind, führen zu den Schatten der braunen Vergangenheit. Drei Hinweistafeln (am Bayerischen Platz, in der Münchener Straße und am Rathaus Schöneberg) weisen den Weg und erleichtern das Auffinden der Gedenktafeln. Sie sind das Ergebnis eines Wettbewerbs »Mahnen und Gedenken im Bayerischen Viertel«, der vor fünf Jahren von Renate Stih und Frieder Schnock realisiert wurde. »Orte des Erinnern – Ausgrenzung und Entrechtung, Vertreibung, Deportation und Ermordung von Berliner Juden 1933 bis 1945« ist das Leitthema, das den Gang durch das Bayerische Viertel begleitet. Miteinander verknüpft werden mehrere Beziehungsebenen: die historische Realität, der öffentliche Raum und die Kunst.
     Das Bayerische Viertel entstand nach der Jahrhundertwende und war ein Gebiet besonderer Art. Seine Straßennamen – z. B. Münchener, Passauer, Regensburger Straße und Bayerischer Platz – gaben ihm die Bezeichnung. Die Bewohner waren in den er

Juden erhalten keine Eier mehr.
   22. 6. 1942

Keine Frischmilch für Juden.
   10. 7. 1942

sten Jahrzehnten in der Regel Akademiker, Anwälte, Ärzte, Beamte, Geschäfts- und Kaufleute, Rentiers und andere gutbetuchte Bürger. Der Anteil jüdischer Bürger war bis 1933 ungewöhnlich hoch. Kein Wunder daher, daß es auch als »Jüdische Schweiz« bezeichnet wurde. 1933 wohnten in Schöneberg mehr als 16 000 jüdische Bürger, ein Großteil von ihnen, genaue Zahlen sind nicht bekannt, im Bayerischen Viertel. Ende Februar 1943 kam es im Viertel zu Razzien und Verhaftungen, im Juni 1943 waren das Bayerische Viertel und ganz Schöneberg, wie Göring verlangte, »judenfrei«.
     Das Entstehen des Bayerischen Viertels ist eng mit dem Namen Haberland verbunden. Salomon Haberland und Sohn Georg
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Nördlinger Straße umbenannt. 27. 7. 1938.« Erst seit jüngster Zeit trägt zumindest die Nördlinger Straße – vorausgegangen waren heftige Proteste – wieder den Namen Haberlandstraße. Die Straße mit ihrer eigentümlichen, yförmig verlaufenden Straßenführung hatte 1907 ihren Namen nach Salomon Haberland erhalten. Sie war als architektonisch einheitlich geplante Straße entstanden und sollte, wie das Viertel insgesamt, an Alt-Nürnberg erinnern. Das Tun der Erbauer des Viertels, die ihre patriotisch-kaiserliche Gesinnung immer wieder zu beweisen suchten, fand nicht ungeteilte Zustimmung. Zu ihren Widersachern gehörten der Schöneberger Stadtälteste Fritz Heyl, aber auch der Bodenreformer Adolf Damaschke. Neben inhaltlichen Differenzen über die Art des Baus und die Größe der Wohnungen – gebaut wurden Wohnhäuser mit großen Wohnungen und Vorgärten, es fehlte aber an kleineren Wohnungen – gab es persönliche Querelen insbesondere mit den Stadtvätern Schönebergs. Auch offener und verhüllter Antisemitismus war eine der Ursachen für die Auseinandersetzung mit den als »Bauspekulanten« apostrophierten Haberlands. Wie Georg Haberland 1931 in seinen Erinnerungen schrieb, habe ihn Heyl durch die Brechung eines mündlich geschlossenen Vertrags um 50 000 Mark betrogen und freimütig geäußert, »einem Juden brauche man sein Wort nicht zu halten«.
     Albert Einstein wohnte von 1918 bis zu seiner
Die Versorgung von Juden mit Fleisch, Fleischprodukten und anderen zugeteilten Lebensmitteln wird eingestellt.
      18. 9. 1942
gründeten 1890 die Berlinische Bodengesellschaft. Die Gesellschaft hatte um die Jahrhundertwende das sogenannte Schöneberger Westgelände aufgekauft und erschlossen. Die damalige Struktur mit wenigen Hauptverkehrstraßen, vielen Wohnstraßen und zahlreichen Vorgärten ist bis heute erhalten. Nicht erhalten sind die Bausubstanz und der architektonische Charakter des Viertels, das im Zweiten Weltkrieg zerstört und nicht wieder original aufgebaut wurde. Auch das geistige und kulturelle Gut dieses Wohnviertels gibt es nicht mehr.
     Am Bayerischen Platz orientieren wir uns an der Hinweistafel, auf der in einer Karte von 1933/1993 die Tafelstandorte vermerkt sind. Sie wecken Neugier, den Spaziergang in der Haberlandstraße zu beginnen: »Straßen, die Namen von Juden tragen, werden umbenannt. Die nach dem Gründer des bayerischen Viertels benannte Haberland Straße wurde in Treuchtlinger und
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Emigration 1933 in der Haberlandstraße 5. An ihn erinnert ein Gedenkstein (heute Nr. 8). Dicht daneben wohnte für einige Jahre der Berliner Stadtverordnete und preußische Minister, der Sozialdemokrat Rudolf Breitscheid. Auch die Schriftsteller Gottfried Benn und Kurt Pinthus sowie der Politiker Eduard Bernstein lebten im Viertel.
     In der Treuchtlinger Straße sind auf einer Tafel Schal und Handschuhe abgebildet. Der Text erklärt, daß ab Januar 1940 Juden keine Kleiderkarten mehr erhielten und für sie ab Januar 1942 Ablieferungszwang für Pelze und Wollsachen bestand. In der Barbarossastraße befinden sich mehrere Tafeln. Sie sind, wie alle Tafeln 50 x 70 cm groß und in etwa drei Meter Höhe an den Masten der Straßenbeleuchtung angebracht. Vor der Barbarossastraße 36 a ist zu erfahren, daß die faschistischen Behörden am 12. 11. 1938 anordneten: »Der Besuch von Kinos, Theater, Oper und Konzerten wird Juden verboten«. In der Landshuter Straße wird erklärt, was nach einer einschlägigen Bestimmung von 1933 einen deutschen Film auszeichnet, daß er nämlich »in Deutschland von deutschen Staatsbürgern deutscher Abstammung hergestellt« ist. Ein paar Schritte weiter, vor der Landshuter Straße 25 a, werden die Zusammenhänge vollends sichtbar: Am 5. März 1934 erhielten jüdische Schauspieler und Schauspielerinnen Bühnenverbot.
     Deutlich wird das Konzept der Tafeln: Auf einer Seite sind Zitate bzw. Texte aufgeführt.
Lebensmittel dürfen Juden in Berlin nur nachmittags von 4–5 Uhr einkaufen.
      4. 7. 1940
Sie beinhalten Auszüge aus Gesetzen und Verordnungen und dokumentieren Aktionen, mit denen die Nationalsozialisten jüdische Mitbürger diskriminiert, entrechtet und ausgegrenzt, ihre systematische Vernichtung und Ermordung betrieben haben. Auf der Rückseite sind künstlerisch stilisiert dargestellt: Waren, Zeichen, Piktogramme, Symbole und ähnliches. Sie haben entweder eine direkte Beziehung zum Text oder verweisen auf entgegengesetzte Sachverhalte. Oft stellen die Texte und der Standort der Schilder einen Bezug zu den in der Nähe stehenden Gebäuden und vorhandenen Einrichtungen her.
     In der Heilbronner Straße/Westarpstraße lenken in der Nähe einer Postfiliale Tafeln mit ähnlichen Motiven die Aufmerksamkeit auf sich. Auf ihnen sind Symbole von Postkarte, Briefumschlag und Telefonwählerscheibe zu sehen. Ihre Texte vermitteln: Seit 1937 wurden mit Jüdinnen verheiratete Post
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fahrt verboten«) in der Heilbronner Straße bestätigt, daß ab Dezember 1938 Juden »bestimmte Bereiche der Stadt« nicht mehr betreten durften. 1933 verbot die Stadt, daß Juden am Strandbad Wannsee badeten.
     Mehrere Tafeln befassen sich mit den faschistischen Rassengesetzen. In der Barbarossastraße macht ein Zeitungsfaksimile auf sich aufmerksam, auf der Rückseite wird vermeldet: »Journalisten müssen für sich und den Ehepartner bis in das Jahr 1800 ihre arische Abstammung nachweisen.« Eine Katze in der selben Straße kontrastiert zum Text auf der Rückseite der Tafel: Seit 1942 durften Juden keine Haustiere halten. Bereits 1936 bestand Niederlassungsverbot für jüdische Tierärzte, seit 1939 generelles Berufsverbot.
     Betroffen macht auch ein Bild, das eine Ampulle mit Tabletten darstellt. Das dazugehörige Zitat aus einem Polizeibericht: »Am 1. 4. 43 wurde das Revier benachrichtigt, daß der Jude Professor Alex Israel C., 29. 10. 61 Berlin geb., Berlin W 30, Barbarossastr. 52 wohnhaft gewesen, in seiner Wohnung Selbstmord durch Einnehmen von Schlafmitteln beging.«
Vor der Münchener Straße 9 wird noch einmal deutlich, daß die faschistischen Machthaber alle Lebensbereiche der Juden einschlossen, um sie zu diskriminieren und zu verfolgen. Auf der einen Seite ein stilisiertes Fußballfeld, ist auf der Rückseite unter dem Datum vom 25. 4. 1938 zu lesen: »Juden
Niederlassungsverbot für jüdische Tierärzte
      3. 4. 1936

Generelles Berufsverbot.
      17. 1. 1939

beamte »in den Ruhestand versetzt«, 1940 kündigte die Post Juden Telefonanschlüsse, seit Dezember 1941 durften sie öffentliche Fernsprecher nicht mehr benutzen. Ein weiterer Text, vor der Deportation geschrieben: »Nun ist es soweit, morgen muß ich fort und das trifft mich natürlich schwer.
     ... Ich werde Dir schreiben.«
Seit dem 25. 7. 1938 durften jüdische Ärzte nicht mehr praktizieren, worauf an der Ecke Heilbronner/Barbarossastraße ein Fieberthermometer hinweist. Erwähnt sei, daß noch 1937 im Bayerischen Viertel 125 jüdische Ärzte lebten. Seit 1939 hatten (so eine Tafel in der Meraner Straße) jüdische Zahnärzte, Zahntechniker, Apotheker, Heilpraktiker und Krankenpfleger ebenfalls Berufsverbot.
     Die Stadt Berlin hat mit eigenen Erlassen die Diskriminierung und Verfolgung ihrer jüdischen Bürger verschärft. Ein Schild (auf einer Seite das Verkehrsschild für »Durch
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werden aus Sport- und Turnvereinen ausgeschlossen.« Seit 1. 9. 1941, so eine Tafel in der angrenzenden Rosenheimer Straße, mußten »alle Juden, die älter als 6 Jahre sind, den gelben Stern mit der Aufschrift >Jude<tragen«.
     In der Münchener Straße 34–38 nennt eine Tafel eine damals allen bekannte Tatsache: »Juden müssen den Namen >Israel<, Jüdinnen den Namen >Sara< als zusätzlichen Vornamen führen. 17. 8. 1938.« Hier befindet sich auch ein Denkmal für die jüdische Synagoge, die sich in der Münchener Straße 37 (heute 34–38) befand. Sie war für den Synagogenverein Schöneberg 1909/10 unter Leitung von Max Fraenkel erbaut worden. In den Räumen der Gemeinde wurden 1939/40 Wert- und Sachgegenstände gesammelt, die jüdische Bürger nicht mehr besitzen durften: Fahrräder, Wollsachen, Kämme und Haarscheren, Radios und andere Elektrogeräte, Schmuck (hierauf verweisen mehrere Gedenktafeln). Erstaunlicherweise überstand die Synagoge den von den Nazis als Kristallnacht bezeichneten Pogrom vom 9. zum 10. November 1938 nahezu unbeschädigt. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie schwer beschädigt, obwohl wiederaufbaufähig, ließen sie die Stadtbehörden 1956 abreißen. Das Gelände gehört heute zu einer Schule. Am Eingang in der Berchtesgadener Straße erinnert eine Tafel, daß bereits im April 1933 die Bezirksämter jüdische Lehrkräfte an den städtischen Schulen
Eheschließungen und außerehelicher Verkehr zwischen Staatsangehörigen deutschen Blutes und Juden werden mit Zuchthaus bestraft. Trotzdem geschlossene Ehen sind ungültig.
      15. 9. 1935
»beurlaubten«. Seit November 1938 durften jüdische Kinder keine öffentlichen Schulen mehr besuchen; am 20. Juni 1942 erhielten sie Verbot jeglichen Schulbesuchs. In das Wernervon-Siemens-Realgymnasium in der Hohenstaufenstraße, nicht weit vom Wohngebäude Egon Erwin Kischs, gingen bis zu seiner Schließung 1935 viele jüdische Kinder, u. a. der spätere Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.
     In der Apostel-Paulus-Straße ist zu erfahren: »Juden kann ohne Angaben von Gründen und ohne Einhaltung von Fristen die Wohnung gekündigt werden. Sie können zwangsweise in sogenannte >Judenhäuser< eingewiesen werden.« Solche Judenhäuser gab es im Viertel mehrere, so in der Bamberger Straße 22, in der die Publizistin Inge Deutschkron lebte.
     Vor dem Amtsgericht in der Grunewaldstraße ist folgende Tafel aufgestellt: »Polen und Juden werden vor Gericht nicht als
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ber 1942 die erste Massendeportationen Berliner Juden begann, nachdem bereits am 11. Juli 1942 die erste Direktdeportation nach Auschwitz erfolgte.
     Vor dem Verlassen des Bayerischen Platzes, am U-Bahnhof, ist noch zu erfahren, was seit September 1941 galt: »Juden dürfen öffentliche Verkehrsmittel nur noch auf dem Weg zur Arbeit benutzen«; bei großem Andrang durften sie die öffentlichen Verkehrsmittel nicht benutzen, Sitzplätze nur einnehmen, wenn andere Fahrgäste nicht stehen mußten. Am 24. 4. 1942 erhielten sie vollständiges Benutzungsverbot.
     Die Diskriminierungen der Juden, ihre Denunziation und Enteignung bis zur Massendeportation und grausamen Vernichtung waren ein Teil des Alltäglichen, das nicht nur im Bayerischen Viertel, sondern in Berlin und in ganz Deutschland vor sich ging und (von fast allen Deutschen) hingenommen wurde.
     Wer sich näher informieren möchte, dem seien die entsprechenden Publikationen des Schöneberg-Museums empfohlen.

Bildquelle: Stih/Schnock, Arbeitsbuch für ein Denkmal in Berlin, Berlin 1993

Juden sollen keine Seife und Rasierseife mehr erhalten.
      26. 6. 1941
Zeugen gegen Deutsche gehört«. Auch Schilder in der Wartburgstraße und in der Salzburger Straße (in der Nähe, im Nordsternhaus, befand sich bis vor kurzem die Senatsverwaltung für Justiz) behandeln die faschistische Justizwillkür. Ein schwarzumrandetes Haus vermeldet für den 31. 7. 1938, »testamentarische Zuwendungen an Juden sind nichtig, wenn das gesunde Volksempfinden mißachtet wird«.
     Am Bayerischen Platz 8, an der Meraner Straße, hängt eine der Tafeln, die an den Holocaust erinnern. Am 4. 3. 1941 wurden alle Juden zur Zwangsarbeit verpflichtet, seit 26. 3. 1943 Verhaftungen am Arbeitsplatz zur Deportation vorgenommen. In der Grunewaldstraße ist zu lesen, daß am 18. Okto
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