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Fontanes umfangreichster literaturkritischer Essay gewidmet, »Wilibald Alexis« betitelt (Fontane schrieb diesen Vornamen stets nur mit einem »l«) und erstmals 1872 in der von Julius Rodenberg (1831–1914) in Berlin redigierten Monatszeitschrift »Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft« erschienen. Später wiederholt vom Autor umgearbeitet und neu veröffentlicht, ist der Aufsatz auch ein Beleg für Fontanes Bemühen um literaturtheoretische Selbstverständigung.2)
     »Beziehungen« – das meint zugleich: mancherlei Gemeinsamkeiten. Beide Schriftsteller entstammten hugenottischen Familien – ein Umstand, der sich auch in ihrem erzählerischen Werk niederschlug. Beide standen nach ihrer politischen Gesinnung im bürgerlich-liberalen Lager – der eine dann mehr nach rechts, der andere mehr nach links tendierend. Vor allem aber: Beide haben Bahnbrechendes für den realistischen Geschichtsroman in Deutschland geleistet – der eine für dessen Durchbruch in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, der andere für vollendete literarische Meisterschaft in diesem Genre während dessen letzten Viertels. Gilt Alexis in der deutschen Literaturgeschichte als Begründer des historischen Romans in der Periode des bürgerlichen Realismus, so verkörpert Fontane deren Höhepunkt auf diesem Gebiet. So betrachtet, steht Alexis am Anfang einer Entwicklung, Fontane auf
Gerhard Fischer
Der »märkische Walter Scott«

Zum 200. Geburtstag von Willibald Alexis

Daß 1998 sowohl der 200. Geburtstag von Willibald Alexis (am 29. Juni) als auch der 100. Todestag von Theodor Fontane (am 20. September) zu begehen sind, ist kalendarischer Zufall.1) Ein Zufall allerdings, der uns die Frage nach den Beziehungen zwischen diesen beiden bedeutenden Berliner Schriftstellern nahelegt. Damit sind keine persönlichen Beziehungen gemeint. Fontane bezeugt eine einzige persönliche Begegnung: Sie ergab sich während seiner Kindheit im Ostseebad Heringsdorf, wo Alexis sein Ferienhaus hatte. Als Fontane in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, bereits im Herbst seines Lebens, in die deutsche Literatur eintrat, hatte sich Alexis schon seit geraumer Zeit aus ihr verabschieden müssen: Seit 1852 in Arnstadt wohnend, hatte er 1856 und 1860 Schlaganfälle erlitten, die ihn körperlich lähmten und zu geistiger Untätigkeit verurteilten. Doch sein dichterisches Werk lebte fort, beeinflußte auch den 1819 geborenen Fontane und veranlaßte ihn, sich mit dem Vorgänger auseinanderzusetzen. Ihm ist

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ihrem Gipfel. Beide fanden ihre Stoffe in dieser Hinsicht ganz oder großenteils in der Berliner und brandenburgisch-preußischen Geschichte.
     Die acht großen »vaterländischen Romane«3) von Alexis – Fontane spricht im Zusammenhang mit dem »Roland von Berlin« von »einer Reihe historischer Genrebilder«4) – bieten ein literarisches Panorama jener bewegten Vergangenheit vom 14. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So wahrheitsgetreu, wie dem Verfasser das möglich war, zeichnen sie die sozialökonomischen und politischen Verhältnisse des jeweiligen Zeitraums nach, schildern sie das Schicksal von Menschen aus allen Ständen, von Herrschergestalten und Adligen über Bürgersleute und Bauern bis hin zu Angehörigen der »niedersten Schichten«. Kulturhistorische Detailgenauigkeit und quellenmäßige Fundierung hat man den Romanen nachgerühmt, und auch Fontane bestätigt ihnen, daß sie die Wirklichkeit darstellen, »ganz wie die Dinge damals lagen«.5) Er hebt ferner die Absicht ihres Autors hervor, »der Gegenwart einen Spiegel vorzuhalten: so waren eure Väter, und so seid ihr«.6) Am Beispiel von »Isegrimm« wertet er als positiv »die Idee ..., die den Grundgedanken dieser Erzählung bildet: Die >Gesellschaft< taugte nichts, aber das Volk war gesund.«7) Schließlich übernimmt Fontane in seinem Gesamturteil über Alexis »den immer wiederkehrenden, etwas bequemen Satz, daß er >der
märkische Walter Scott< gewesen sei«.8) (Walter Scott, 1771–1832, Begründer des europäischen historischen Romans)
     Das alles heißt nicht, daß Fontane den Romanen von Alexis etwa unkritisch gegenübergestanden hätte. Er bemängelt ihre oft zu weit ausladende Form, die zuweilen schematische Personenzeichnung und bringt andere künstlerische Einwände zur Sprache. Er wendet sich gegen Tendenzen, die Vergangenheit stellenweise zu verklären, und hält beispielsweise einer »enthusiasmierten« Sicht auf das Berliner Bürgertum des 15. Jahrhunderts im »Roland von Berlin« entgegen: »Ich persönlich habe von dieser Zeit, in all und jeder Beziehung, die allerniedrigsten Vorstellungen ... Es war ... eine rohe, tölpische, allem Geistesleben seitab stehende Bevölkerung und nur von einem noch weiter entfernt als von Geist und Kultur – von wirklicher Freiheit.«9) In gleichem Sinn äußert sich Fontane an anderer Stelle, nämlich in Notizen über Achim von Arnim, 1872, beiläufig: »Wenn W. Alexis uns für das Bürgertum Berlin-Coellns von 1440 interessieren will, so tut er unrecht. Wir finden da nur die häßliche Seite des Mittelalters: Beschränktheit, Selbstsucht, Fehde um kleine Interessen. Alles ist roh. Diese rohe Sorte Freiheit ... flößt mir gar kein Interesse ein und am allerwenigsten die Sehnsucht: solche Zeit möchte wiederkommen.«10)
     Fontane selbst hebt also Berlins und Bran-
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Unerbittlichkeit der Anschauungen, die gesellschaftliche Steifheit, die soldatische Präponderanz« im »Berliner Leben jener Epoche«, in diesem Fall also der friderizianischen, veranschaulicht werden.11) »Cabanis« wird übrigens in Fontanes Essay von allen Alexis-Romanen am ausführlichsten behandelt, vielleicht bedingt durch die großenteils im Berliner Hugenotten-Milieu angesiedelte Thematik des Buches. – Nicht unerwähnt soll bleiben, daß Fontane wie fast jeder, der über Alexis geschrieben hat – man denke etwa an Franz Mehring12) –, die große Rolle der märkischen Landschaft unterstreicht, die Alexis stets so eng mit der Handlung seiner Romane verflicht.
     Zusammenfassend hat Fontane sein inneres Verhältnis zu Alexis, auch im Vergleich mit Scott, in einem Brief vom 14. August 1893 an seinen jüngeren Romancier-Kollegen Theodor Hermann Pantenius (1843–1915) erklärt, der ihn schriftlich dazu befragt hatte: »W. Alexis las ich erst Ende der 60er Jahre und schrieb einen langen Essay darüber ... Beide Schriftsteller sind mir sehr ans Herz
Theodor Fontane
denburg-Preußens Vergangenheit keineswegs in den Himmel. Im Gegenteil lobt er bei Alexis solche Passagen, in denen – wie im ersten Teil von »Cabanis« – »die Armseligkeit der Zustände, die Beschränktheit und
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   15   Probleme/Projekte/Prozesse Zum 200. Geburtstag von Willibald Alexis  Vorige SeiteNächste Seite
gewachsen – in vielen Stücken (trotzdem er neben W. Scott nur ein Lederschneider ist) stell ich W. Alexis noch höher –, und beide, trotzdem ich den einen als Junge und den anderen erst als Funfziger las, haben meine spätere Schreiberei beeinflußt, aber nur ganz allgemein, in der Richtung. Bewußt bin ich mir im einzelnen dieses Einflusses nie gewesen.«13) Dennoch wird der Kundige, wenn er etwa Fontanes »Vor dem Sturm« (1878) oder »Schach von Wuthenow« (1882) neben Alexis' »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht« oder »Isegrimm« legt, gewisse Parallelen in Stoffwahl und Schreibweise nicht übersehen.
     Berlin hat Grund, sich Willibald Alexis zu seinem 200. Geburtstag ins Gedächtnis zu rufen. Über viereinhalb Jahrzehnte hat er – nur durch Studium oder Reisen unterbrochen – in der Hauptstadt verbracht. 1806 kam seine verwitwete Mutter mit ihm von Breslau nach Berlin und fand 14 Jahre lang Aufnahme bei der
Willibald Alexis
verwandten Familie Rellstab in der Jägerstraße 18. Dann zog sie mit dem Sohn in die Kochstraße 20 um. Seit Mitte der zwanziger Jahre wohnte Alexis in der Zimmerstraße 95, bis er 1836 für 16 Jahre
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ein eigenes Haus in der Wilhelmstraße 97 beziehen konnte.14) Im thüringischen Arnstadt, wohin er dann aus gesundheitlichen Gründen übersiedeln mußte, hat ihn der Tod am 16. Dezember 1871 von seinen Leiden erlöst.

Quellen:
1      Zu Alexis vgl. Helmut Fickelscherer, Märkischer Erzähler und deutscher Schriftsteller. In: BM 12/1996, S. 47 ff.
2      So 1883 im Berliner »Magazin für die Literatur des In- und Auslandes« (vgl.: Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse, Berlin und Weimar 1972, S. 471). Eine in Fontanes Nachlaß gefundene Fassung wurde wieder abgedruckt in: Theodor Fontane, Schriften zur Literatur, Berlin 1960, S. 26 ff.
3      In der Reihenfolge des Erscheinens: »Cabanis« (1832), »Der Roland von Berlin« (1840), »Der falsche Woldemar« (1842), »Die Hosen des Herrn von Bredow« (1846) mit der Fortsetzung »Der Werwolf« (1848), »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht« (1852) mit der Fortsetzung »Isegrimm« (1854), »Dorothé« (1856). Hinzu kommen zahlreiche Novellen.
4      Theodor Fontane, Schriften zur Literatur, a. a. O., S. 42
5      Ebenda, S. 56
6      Ebenda, S. 43
7      Ebenda, S. 61
8      Ebenda, S. 64
9      Ebenda, S. 46
10     Theodor Fontane: Aufzeichnungen zur Literatur.

Ungedrucktes und Unbekanntes. Berlin und Weimar 1969, S. 31
11      Theodor Fontane: Schriften zur Literatur, a. a. O., S. 53
12      Vgl. Franz Mehring, Willibald Alexis (Artikel in der »Leipziger Volkszeitung« vom 16. 5. 1903).
      In: Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Bd. 11, Berlin 1961, S. 7 ff.
13      Fontanes Briefe in zwei Bänden, Berlin und Weimar 1968, 2. Bd., S. 310
14      Die Angaben im wesentlichen nach Werner Liersch, Dichters Ort, Rudolstadt 1985, und Karl Voß, Reiseführer für Literaturfreunde Berlin, Berlin 1980

Bildquellen: Max Ring, »Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung«, 1884; Verein für die Geschichte Berlins

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