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sammlung, Abgesandte der Staatsregierung, an der Spitze Handelsminister Siering, sowie, besonders zahlreich, Vertreter des Handels und der Industrie teil. Unter den Anwesenden sind auch der frühere Stadtbaurat Dr. Krause und sein Nachfolger Dr. Hahn. Die Arbeiten am Westhafen waren nach Entwürfen und zum größten Teil unter Leitung von Dr. Friedrich Krause erfolgt. Krankheit hinderte ihn daran, das Werk zu vollenden, so daß es nach 1920 unter Dr. Hahn zu Ende gebracht wurde. Ihre Leistungen würdigt Oberbürgermeister Gustav Böß (im Amt von 1921 bis 1930) in seiner Weiherede, die er von einer mit Eichenlaub geschmückten Tribüne aus hält. Wohl niemanden mag es verwundern, daß der Redner dabei noch einmal die Schwierigkeiten betont, die dem Projekt von Anfang an entgegenstanden und die sich während des Krieges und in der Nachkriegszeit in ungeahnter Weise steigerten. Die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse, die finanzielle Notlage der Stadt waren, selbst wenn es kaum offen eingestanden wird, wohl wichtige Gründe für den Beschluß, die Häfen und Ladestraßen bis auf weiteres an eine Aktiengesellschaft zu verpachten. Der Magistrat hatte sich zu diesem kurze Zeit zuvor noch als undenkbar angesehenen Schritt durchgerungen; so hoffte man, die bisher isolierten Berliner Häfen besser mit der Binnenschiffahrt und der Seeschiffahrt in Verbindung zu bringen. Einer entsprechen-
Hans Aschenbrenner
3. September 1923:

Die Eröffnung des Westhafens

Fast zehn Jahre nach dem ersten Spatenstich für den Westhafen am 6. April 1914 (vgl. BM 4/94) kann Berlins fortan leistungsfähigste Hafenanlage – in Moabit (Tiergarten), zwischen See- und Beusselstraße und der Putlitzbrücke, angelegt – ihrer Bestimmung übergeben werden. All jene, die Gelegenheit haben, an der für den Vormittag des 3. September 1923, einem Montag, anberaumten Einweihungsfeier teilzunehmen, erfreuen sich an dem Bild des fahnengeschmückten, im Sonnenschein liegenden Hafens. In seinem tags darauf veröffentlichten Bericht über dessen Lage und Bauten gibt der »Berliner Börsen-Courier« ein treffendes Stimmungsbild: »Am Tag der Eröffnung bot der Hafen mit seinen buntbewimpelten Schiffen einen erfreulichen Anblick. Inmitten der Trostlosigkeit unserer wirtschaftlichen und politischen Lage sah man einmal den Erfolg zielbewußter, unter schwersten Bedingungen durchgeführter Arbeit.«
     An der schlichten Feier vor dem imposanten, alle anderen Bauten noch überragenden Verwaltungsgebäude nehmen Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordnetenver-

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Lageskizze des Westhafens, 1922

den Vorlage, eingebracht am 3. Januar 1923, stimmte die Stadtverordnetenversammlung wenige Wochen später mit überwiegender Mehrheit zu. Bereits am 26. Februar wurde dann die BEHALA, die Berliner Hafen- und Lagerhaus A.-G., ins Leben gerufen; am 1. März übernahm sie den Hafenbetrieb.
     An ihr sind mit 75 Prozent zwei Speditionsfirmen (Schenker, Carl J. Busch) sowie mit 25 Prozent die Stadt Berlin beteiligt. Oberbürgermeister Böß übergibt im Rahmen des Festaktes nun auch den Westhafen an die BEHALA, deren Generaldirektor, Kapitän Wilhelm Ulderup, im Namen der Hafenbelegschaft den Behörden der Stadt dankt
und erfolgreiche Fahrt verspricht. An die Eröffnungsfeier schließt sich die Besichtigung der Hafenanlagen an. Bereits zwei Tage zuvor hat Ulderup Journalisten durch das Gelände geführt.
     Der Hafen hat eine außerordentlich günstige Lage. Er entfaltet sich im (damals) nördlichen Vorgebiet Berlins, am Rand eines betriebsamen Stadtteils, inmitten eines weiten Industrie- und Laubengeländes, unmittelbar an der Nordring-Bahnstrecke. Vom Nordring her sieht man zwischen den Bahnhöfen Beusselstraße und Putlitzstraße seine wuchtigen Gebäude – die Hochbauten wurden von dem Architekten Richard Wolf-
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bzw. Lübeck, der später über den im Bau befindlichen Mittellandkanal zum Rhein führen wird.«
Zum Zeitpunkt der Eröffnung des Westhafens sind zwei Hafenbecken fertiggestellt, die eine Halbinsel umschließen: Becken I mit 448 Meter Länge und Becken II mit 635 Meter Länge. Selbst bei niedrigstem Wasserstand beträgt die Wassertiefe im Hafen 2,50 Meter.
fenstein gestaltet. Der schönste Anblick über die gesamte Hafenanlage bietet sich wohl aus den Turmfenstern des Verwaltungsgebäudes. Regelrecht ins Schwärmen gerät da der Reporter der »Deutschen Tageszeitung« in einem am 2. September 1923 veröffentlichten Vorausbericht: »Kann man sich von der Illusion freimachen, in Berlin zu sein, so ist der vorherrschende Eindruck der, daß man sich in einem Teil des Hafenbetriebs einer Seestadt befindet.« Auf dem Gelände des Westhafens, so hebt der »Berliner Börsen-Courier« (4. September 1923) hervor, »treffen drei Kanäle zusammen, der Großschiffahrtskanal für den Stettiner und Oderverkehr, der Spandauer Schiffahrtskanal für den Verkehr mit Oberschlesien und der Charlottenburger Verbindungskanal, der Wasserweg zwischen Berlin und Hamburg 68 große Elbschiffe oder 225 Finowkähne können zugleich anlegen, und für 109 000 Tonnen Gut ist Raum in den Lagerhallen. In langgedehnten Speichern sammeln sich Vorräte aller Art an: Stahl, Eisen, Benzin, Öl, Fleisch, Tabak, verschiedene besondere Lebensmittel, Mehl und Getreide. Für Güter, die nicht unbedingt unter Dach und Fach aufgehoben werden müssen, stehen 26 000 Quadratmeter Freiladefläche zur Verfügung.
     Auffallendstes Gebäude ist neben dem Verwaltungsgebäude der große Getreidespeicher in der Mitte des Hafens auf der Halbinsel, der bis zu 29 000 Tonnen aufnehmen kann. Der Zollspeicher liegt am äußersten Ende der Halbinsel. In seinem Erdgeschoß werden die zollpflichtigen Güter revidiert, so daß die Krane die Ware nur auf der Rampe abzulagern brauchen. Die Ladevor-
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richtungen im Hafen werden elektrisch betrieben. Das Verwaltungsgebäude soll vor allem im Hafen tätigen Unternehmungen Büroräume bieten. Es gibt ein Wirtschaftsgebäude, eine Reparaturschlosserei und einen Lokomotivschuppen, in dem die zum Verkehr mit dem Lehrter Güterbahnhof eigenen Verschiebelokomotiven, Marke Borsig, ihre Unterkunft haben.
     Fast 40 Jahre, nachdem die Berliner Kaufmannschaft erstmals zwei große, städtische Umschlagplätze mit Bahnanschluß gefordert hatte, ist nun nach dem 1913 eingeweihten Osthafen (BM 9/97) auch der Westhafen seiner Bestimmung übergeben. Nicht lange nach der Eröffnung werden seine Erweiterungsbauten in Angriff genommen.
     Am 1. September 1924 erfolgt in feierlichem Rahmen der erste Spatenstich für das dritte Hafenbecken – ausgeführt mit einem riesigen Löffelbagger!
     Am 1. August 1927 werden die neuen Anlagen dem Betrieb übergeben. Gleichzeitig wird der gesamte Eil- und Stückgutverkehr Berlins von seinen fast ein Jahrhundert alten »Ladestraßen« im Zentrum – Kronprinzenufer und Humboldthafen – übernommen. Einschließlich des neuen Beckens III umfaßt das Hafengelände 431 713 Quadratmeter, davon 74 000 Quadratmeter Wasserfläche; die Länge der Kaianlagen beträgt jetzt 3 472 Meter.
     Für den Westhafen gibt es noch einmal einen Aufschwung nach 1938, als der Mittel-
landkanal zugleich mit der Eröffnung des Schiffshebewerkes Rothensee bei Magdeburg bis zur Elbe in Betrieb genommen wird. Im Zweiten Weltkrieg wird der Hafen zu 60 Prozent zerstört, die Schäden werden in den 50er Jahren beseitigt. In den Jahren des geteilten Berlin lagert hier ein großer Teil der Senatsreserven zur Versorgung der Stadt für den Fall einer Blockade. Heute wird nur noch ein knappes Drittel der umgeschlagenen Waren per Schiff angeliefert. Die BEHALA, mit Wirkung vom 1. Januar 1937 städtischer Eigenbetrieb, seit 1994 Anstalt des öffentlichen Rechts, hat ihre Zentrale im Westhafen. Die unter Denkmalschutz stehenden Gebäude sind an Speditionen und Firmen, an kleine und mittlere Gewerbetreibende vermietet; im einst zweitgrößten Getreidespeicher Europas stehen inzwischen sogar die zentralen Zeitungsbestände der beiden Häuser der Berliner Staatsbibliothek zur Nutzung bereit. Wer den Hafen besichtigt oder gar das über 40 Hektar große Hafengelände umwandert (es bieten sich interessante Einblicke auf die drei Becken und die Bauten), wird es – so nostalgisch vieles anmutet – möglicherweise bedauern, gelänge es nicht, in etwas fernerer Zukunft den Hafen durch Modernisierung wieder flottzumachen.

Bildquellen:
»Deutsche Allgemeine Zeitung«, 22. Oktober 1922; »
Vorwärts«, 30. Juli 1927

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