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Jörg Klitscher
Der Häuserkampf in Kreuzberg

Ende der sechziger Jahre bricht die erste Abriss- und Neubauwelle über die alten Kreuzberger Stadtquartiere herein. Ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bewohner werden ganze Häuserblöcke abgerissen und durch anonyme Betonburgen wie z. B. das »Neue Kreuzberger Zentrum« am Kottbusser Tor ersetzt. Diese Form der Sanierungs- und Wohnungsbaupolitik, die preiswerten Wohnraum und nachbarschaftliche Sozialstrukturen zerstört, gelangt als Kahlschlagsanierung zu zweifelhaftem Ruhm. Mitte der siebziger Jahre artikuliert sich dagegen jedoch immer lauter der Protest von Mietern, alternativen Gruppen und engagierten Kirchenvertretern. Daraufhin veranstaltet die Senatsbauverwaltung 1977 den Wettbewerb »Strategien für Kreuzberg«, der den Betroffenen die Möglichkeit geben soll, bei der Sanierung des Kreuzberger Stadtteils SO 36 mitzuentscheiden.

»Lieber instandbesetzen als kaputtbesitzen«

Im Zusammenhang mit den »Strategien für Kreuzberg« entsteht u. a. die Bürgerinitiative (BI) SO 36, die Missstände der Sanierungspraxis (Wohnungsleerstand,

unterlassene Instandhaltungsmaßnahmen der Eigentümer usw.) anprangert und so die Betroffenheit der Bewohner organisiert. Nachdem Appelle und Anzeigen beim Landeswohnungsamt erfolglos geblieben sind, besetzen Mitglieder der BI SO 36 am 3. Februar 1979 demonstrativ zwei leer stehende Wohnungen der senatseigenen Wohnungsbaugesellschaft BeWoGe, um der Forderung nach Wiedervermietung von ca. 300 Wohnungen in SO 36 Nachdruck zu verleihen. Die Besetzer beginnen sofort mit der Instandsetzung und prägen den öffentlichkeitswirksamen Begriff »Instandbesetzung«, der bei der Kreuzberger Bevölkerung auf viel Sympathie stößt. Die Aktion der BI SO 36 hat Erfolg, denn die BeWoGe bietet wenige Tage später für ca. 40 leer stehende Wohnungen Instandsetzung und Wiedervermietung an. Am 26. November 1979 wiederholt die BI ihre sanierungspolitische »Propaganda der Tat« mit erneuten Wohnungsbesetzungen in der Cuvrystraße. Mittlerweile wird diese Aktionsform auch von anderen Gruppen aufgegriffen. So besetzen arbeitslose Jugendliche am 8. März 1979 eine leer stehende Fabriketage in der Waldemarstraße 33 und am 7. September 1979 das Haus Leuschnerdamm 9, um dort kollektiv wohnen und arbeiten zu können. Im Frühjahr 1980 gehen die Hausbesetzungen weiter, denn viele Gruppen aus der Alternativbewegung suchen nach geeigneten Räumen, um neue Formen des Zusammenlebens und -arbeitens auszuprobieren.
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Ende März 1980 schließen sich die Kreuzberger Instandbesetzer im Besetzerrat K 36 zusammen, damit der Erfahrungsaustausch zwischen den einzelnen Häusern sichergestellt ist und ein gemeinsames Vorgehen (Öffentlichkeitsarbeit, Verhandlungen mit Senat und Eigentümern, Räumungen) koordiniert werden kann.1)
     Anfang Juni 1980 wird das erste Haus in Kreuzberg 61, im Sanierungsgebiet rund um den Chamissoplatz, besetzt und kurz darauf von der Polizei geräumt. Bei der Instandbesetzung des Hauses Fichtestraße 29 ist der SPD-Abgeordnete Walter Momper dabei und dokumentiert so symbolisch seine Unterstützung. Im Herbst 1980 wird ein leer stehendes Fabrikgebäude in der Cuvrystraße (»Kerngehäuse«) von alternativen Projektgruppen besetzt. Erstmals greifen auch Türken zur Selbsthilfe und besetzen zwei Häuser in der Forster Straße. Diese Aktion wird wenig später vom Bezirksamt Kreuzberg durch Mietverträge legalisiert. Zunehmende Räumungsängste in der Besetzerszene führen dazu, dass es am 10. Oktober 1980 nach einem Fackelzug am Kottbussser Tor zu Straßenschlachten mit der Polizei kommt. Die Mieter der bis dahin 14 instandbesetzten Häuser in Kreuzberg sind aber weiterhin an einer Verhandlungslösung, d. h. Legalisierung durch Mietverträge oder Kauf der Gebäude, interessiert. Nach den Krawallen vom 12. Dezember 1980 ändert sich jedoch die Ausgangslage grundlegend.
Die Polizei räumt an diesem Tag das kurz zuvor besetzte Haus Fraenkelufer 48, woraufhin die Situation eskaliert und in einer schweren Straßenschlacht zwischen Polizei und Instandbesetzern rund um das Kottbusser Tor gipfelt. Plünderungen, Polizeiübergriffe und zahlreiche Festnahmen sowie Verletzte sind die Folge. In den nächsten Tagen kommt es auch am Kurfürstendamm zu Demonstrationen und Straßenschlachten mit hohem Sachschaden. Als Reaktion auf das harte Vorgehen des Senats bricht die Besetzerszene alle Verhandlungen ab, solange die Verhafteten nicht wieder frei gekommen sind. Die Freilassung der Gefangenen ist fortan, neben einer Veränderung der Wohnungspolitik, die zentrale Forderung der Hausbesetzerbewegung in West-Berlin, aber auch der kleinste gemeinsame Nenner dieses überaus heterogenen Protestpotenzials.2)

»Keine Atempause - Geschichte wird gemacht. Es geht voran.« (Fehlfarben)

Im Frühjahr 1981 nimmt die Hausbesetzerbewegung einen unerwarteten Aufschwung. Fast täglich werden in Kreuzberg und nun auch verstärkt in anderen Bezirken leer stehende Miethäuser instandbesetzt. In Schöneberg (rund um den Winterfeldtplatz) und Charlottenburg (Sanierungsgebiet Klausener-Platz) entstehen neue Zentren der Besetzerszene.

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Die Bewegung nutzt das Machtvakuum, das durch den Legitimationsverlust des Berliner Senats (Garski-Bauskandal, Wohnungsnot usw.) entstanden ist, und geht in die Offensive. Träume von einer »Freien Republik Kreuzberg« scheinen wahr zu werden. Eine eigene Infrastruktur der Szene entsteht: ein Frauenstadtteilzentrum, ein Bauhof für Besetzer, das Kunst- und Kulturzentrum »KuKuCK«, ein Kinderbauernhof, ein Gesundheitszentrum im »Heilehaus« usw. Der SPD/FDP-Senat unter der Führung von Dietrich Stobbe tritt am 15. Januar 1981 zurück. Ein Interims-Senat unter Hans-Jochen Vogel (SPD) regiert bis zu den von der Opposition durchgesetzten Neuwahlen weiter. Der Vogel-Senat entwickelt die »Berliner Linie der Vernunft«. Danach sollen besetzte Häuser nur dann geräumt werden, wenn die Eigentümer es beantragen und die Voraussetzungen für einen sofortigen Beginn von Sanierungsmaßnahmen vorliegen.
     Mit der Räumung von drei besetzten Häusern am Fraenkelufer geht der Berliner Senat am 24. März 1981 wieder in die Offensive. Die Besetzerbewegung wird mit Räumungsdrohungen, ständigen Durchsuchungen und Ermittlungen nach § 129 StGB (Bildung einer kriminellen Vereinigung) unter Druck gesetzt. Während einer großangelegten Durchsuchungsaktion am 7. April 1981 wird der gesamte Besetzerrat in der Luckauer Straße 3 festgenommen.
Unter den 132 Verhafteten ist auch der Sohn des Polizeipräsidenten Hübner. Die staatliche Repression und damit die Möglichkeit hoher Haftstrafen führt zu einer breiten Solidarisierung der Hausbesetzerszene mit dem Hungerstreik von Gefangenen der RAF und der »Bewegung 2. Juni«.
     Die Bewegung wächst bis zum 15. Mai 1981 auf 169 besetzte Häuser an (ca. 80 Häuser in Kreuzberg) und wird immer unüberschaubarer. Angesichts des zu erwartenden CDU-Wahlsiegs mit großangelegten Räumungsaktionen kommt es in der Besetzerszene zu Auseinandersetzungen um die Verhandlungsfrage. Die Einen wollen durch Legalisierungen besetzter Häuser erkämpfte Freiräume noch vor den Wahlen sichern. Die Anderen betrachten die besetzten Häuser als enteignet und lehnen Verhandlungen darüber kategorisch ab. Es kommt zwar nicht zur Spaltung der Bewegung, aber der Dissens bleibt längerfristig bestehen. Durch die Wahlen vom 10. Mai 1981 verschiebt sich dann das politische Kräfteverhältnis in West-Berlin. Eine CDU-Minderheitsregierung unter Richard von Weizsäcker regiert fortan die Stadt. Der neue Senat betont, dass er die »Berliner Linie« weiterführen wolle. Um besetzte Häuser vor Räumungen zu schützen und besser im Kiez zu verankern, übernehmen Kirchengemeinden und Stadtteilgruppen Patenschaften für einzelne Häuser in Kreuzberg.3)
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Wenig später kündigt der neue Bausenator Rastemborski (CDU) an, in Kürze neun besetzte Häuser räumen zu lassen. Von der Instandbesetzerbewegung wird diese Ankündigung als offene Kriegserklärung gewertet. Deshalb beschließt der Besetzerrat, vom 25. August 1981 an ein vierwöchiges Spektakel unter dem Titel »TUWAT« durchzuführen, um gegen die bevorstehenden Räumungen zu mobilisieren. Der provokativironische TUWAT-Aufruf führt zu z. T. hysterischen Reaktionen in Presse und Politik. In diesem aufgeheizten Klima kommt es am 22. September 1981 zur Räumung von acht besetzten Häusern. Bei den nachfolgenden Auseinandersetzungen wird der Demonstrant Klaus-Jürgen Rattay von einem BVG-Bus überfahren.

»Legal - illegal - scheißegal«?

Die Eskalation der Gewalt führt im alternativen Spektrum zu verstärkten Anstrengungen, eine friedliche Lösung zu erreichen. Es beginnt eine intensive Diskussion über verschiedene Trägermodelle, die eine Legalisierung besetzter Häuser ermöglichen sollen. In Kreuzberg gründet die Bezirksverordnetenversammlung einen Sonderausschuss, der Vorschläge für eine politische Lösung des Hausbesetzerproblems entwickeln soll. Als Ergebnis dieser Bemühungen schließen sich am 13. November 1981 sowohl die senatseigenen Sanierungsträger als auch die Privateigentümer besetzter Häuser einem Räumungsmoratorium bis Ostern 1982 an,

um den Diskussionsprozess nicht zu gefährden. Einzelne besetzte Häuser in Kreuzberg schließen jetzt Mietverträge ab oder werden als Selbsthilfeprojekte, betreut vom Sozialpädagogischen Institut der Arbeiterwohlfahrt, legalisiert. Versuche der Besetzerszene, wieder offensiv zu agieren und neue Häuser zu besetzen, bleiben erfolglos. Im Vorfeld eines Besuchs von US-Präsident Reagan im Juni 1982 kommt es zum so genannten Lappenkrieg. Besetzer hängen Protesttransparente aus ihren Fenstern, und die Polizei entfernt sie wieder. Als Schritt zur Legalisierung schließen sich am 4. Juli. 1982 acht besetzte Häuser aus SO 36 in einer selbstverwalteten Genossenschaft (S.H.I.K.) zusammen.4)
     Die Legalisierungsbemühungen von Vermittlern, Bausenator Rastemborski und alternativen Sanierungsträgern wie NETZBAU (später STATTBAU), werden jedoch immer wieder von der Räumungspolitik des Innensenators Lummer torpediert. So wird z. B. das Haus Willibald-Alexis-Straße 43 am 1. Juli 1983 kurz vor der Vertragsunterzeichnung polizeilich geräumt. Die Spaltung der Besetzerbewegung in Verhandler und Nicht-Verhandler wird dadurch noch verstärkt. Als die Polizei im Sommer 1983 die Hochburg der Nichtverhandler-Fraktion am Leuschnerdamm räumt, führt dies noch einmal zu Krawallen in SO 36. Erst im September 1983 unterzeichnet der Senat einen Vertrag mit STATTBAU, wodurch acht besetzte Häuser in Kreuzberg legalisiert und selbstverwaltet saniert werden können.5)
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     1984 werden dann die letzten noch besetzen Häuser in Kreuzberg, darunter das Kunst- und Kulturzentrum »KuKuCK«, geräumt, der Bezirk wird somit vorerst »befriedet«. Ein bleibendes Ergebnis dieser Konflikte um die Sanierungspolitik sind die 1983 vom Senat beschlossenen Grundsätze der »behutsamen Stadterneuerung«. Darin heißt es u. a., dass die Bedürfnisse und Interessen der Bewohner sowie ihr Beteiligungsrecht bei städtebaulichen Planungen anerkannt werden.6)

Quellen:
1 Bernd Sonnewald, Jürgen Raabe-Zimmermann, Die »Berliner Linie« und Hausbesetzer-Szene, Berlin 1983, S. 48 ff.
2 Kuno Haberbusch (Hg.), »Berliner Linie« gegen Instandbesetzer. Die »Vernunft« schlägt immer wieder zu! Dokumentation der Ereignisse vom 3. 2. 1979 bis zum 11. 8. 1980, 2. erw. Aufl., Berlin o. J. (1981), S. 7 ff.
3 Renate Mulhak, Der Instandbesetzungskonflikt in Berlin, in: Peter Grottian/ Wilfried Nelles (Hg.), Großstadt und neue soziale Bewegungen, Basel-Boston-Stuttgart 1983, S. 229 ff.; zur Besetzungsstatistik vgl.: Senator für Inneres: Pressemitteilung Nr. 14 b/82
4 Gemeindeberatung im Kirchenkreis Kreuzberg (Hg.), Kirche und Hausbesetzungen in Berlin (West), o. J. (1983), S. 62 ff.
5 Franziska Eichstädt-Bohlig, Der mühselige Weg zur behutsamen Stadterneuerung, in: Stattbau Stadtentwicklungs-GmbH (Hg.), Stattbau informiert, Berlin 1984, S. 43 ff.

6 Verein SO 36 (Hg.), ... außer man tut es! Kreuzberg abgeschrieben - aufgestanden, Berlin 1989, S. 64; vgl. hierzu die Kritik von Karl Homuth, Statik Potemkinscher Dörfer. »Behutsame Stadterneuerung« und gesellschaftliche Macht in Berlin-Kreuzberg, Berlin 1984
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2001
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