7   Probleme/Projekte/Prozesse Briefe  Nächstes Blatt
Hamburg, 1. Juli 2001

Sehr geehrter Herr Dr. Mende,

in einer Zeit, in der alles Wesentliche über den cash-nexus läuft, in der die Wissenschaften den Geldgebern ihr Dasein verdanken und ihnen verpflichtet sind, in der der Wahrheitsbegriff amerikanisch gefasst und pragmatisch umgeschlüsselt wird in: truth is what works, in einer Zeit, in der die Wirtschaft im Streben nach Wachstum, Maximierung der Gewinne durch Stellenabbau nach Innen expandiert, da sich die Bilanzen durch den Faktor Arbeit allein nicht steigern lassen, in der die Standortfrage des internationalen Wettbewerbs, der Globalisierung, d. h. Ausbreitung der Privatisierung in die entlegensten Winkel der Welt, einen Sozialdarwinismus nach sich ziehen könnte, wenn das moralische Primat der Politik versagt und das Gespenst eines neu aufstrebenden Manchestertums umgeht. In einer Zeit also, in der der Staat zum Steuereinnehmer allein und Geldausgeber (auch in die eigenen Taschen, wenn es unentdeckt bleibt) sich reduziert und die Infrastruktur verbessert wo es sich rentiert und wo nicht, Schulden macht, in der ein ständig anwachsendes Heer von Arbeitslosen, als Mühselige und Beladene, kein Recht auf Arbeit einfordern kann und der Staat sich bereits damit abgefunden hat, eine perpetuierliche, drogenhafte Arbeitslosenhilfe zu geben, in einer Zeit, in der

an der Börse Geld allein Geld durch Spekulation macht, in der die Vollautomatisierung das Gebot und Ziel aller Arbeitsstunden ist, in der die Noch-Arbeit die Zukunftsarbeit abschafft, ... etc, ist das Geschäft der Aufklärung zu einer misslichen Angelegenheit geworden.
     Der nach Kant geforderte Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit fand bislang weder bei den Politikern, Wissenschaftlern und Industriellen Gehör. Aufklärungsarbeit ist von dort nicht zu erwarten. Als Vorbilder sind sie ebenso untauglich, wie die, die täglich gebannt das up and down des Dow Jones, DAX und wie sonst die goldenen Kälber der Neuzeit heißen mögen, rund um den Globus an allen Bildschirmen verfolgen. Konnte der Philosoph vergangener Tage sich noch metaphysisch die Frage stellen nach der Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, so muss dies allgemein als »nutzloses« Geschwätz gelten, denn die Frage ist nunmehr, was ökonomisch in Japan und New York die Aktienwerte (den Shareholdervalue) im Innersten zusammenhält.
     »Die ganze Welt, sie dreht sich drum, das Geld, das ist die Achse«, erklärte einst Heinrich Heine.
     Dass die Zukunftswerte von jenseits des Atlantiks auf uns zukommen und im allgemeinen in Europa ohne Probleme remoduliert, d. h. den jeweils veränderten Traditionen angepasst werden, bedeutet nicht, dass diese, wie in der Gentechnik, nicht hinterfragt werden müssen.
BlattanfangNächstes Blatt

   8   Probleme/Projekte/Prozesse Briefe  Voriges BlattNächstes Blatt
Wem das zuvor Gesagte übertrieben erscheint, möge bedenken, dass erst die Übertreibung anschaulich macht und diese Magnifizierung das Interesse der Öffentlichkeit weckt.
     So wurde die nachmals so berühmt gewordene Aufklärungsdebatte der »Berlinischen Monatsschrift« durch Kants Aufsatz »Was ist Aufklärung?« der Öffentlichkeit bekannt. Zugrunde lag ursprünglich ein Artikel des Mitherausgebers der Berlinischen Monatsschrift (bis 1791 zusammen mit Friedrich Gedike, der, um seine Karriere nicht durch die preußische Zensur zu gefährden, von der Redaktion zurücktrat) Johann Erich Biester (17. November 1749 bis 20. Februar 1816): »Vorschlag, die Geistlichen nicht mehr bei Vollziehung der Ehen zu bemühen« (1783). Dies forderte den Berliner Prediger Zöllner auf den Plan, der die Frage stellte, was denn eigentlich Aufklärung sei. Die Herren Mendelssohn, Kant, Freunde Biesters, gaben dann die entsprechenden Antworten. Viele andere folgten.
     Es darf der Aufklärung nicht an Umsicht, Einsicht, Übersicht und Durchsicht fehlen, um die Umsetzung dieser Sichtweisen zu fordern und fördern.
     Auf Berlin bezogen: Würde heute jemand zum dritten Mal (das zweite Mal nach dem Mauerbau) rufen: »Schaut auf diese Stadt!«, würde den Hörern nicht wieder der Zorn die Röte in die Gesichter treiben,
wenn sie die Finanzmisere be- und überdenken? Der Blick würde über das Sony-Center mit seinen Spielgärten für Genussfreudige gehen, ein mächtiges Panorama würde sich ihm seit 1990 auftun, doch den »Esprit«, der Anspruch und Wirklichkeit miteinander verbindet, nicht erspähen. Diese Stadtverantwortlichen, die über die finanziellen Verhältnisse ihrer Bürger hinaus unverantwortlich gewirtschaftet haben und im Hauptstadtwahn die Ausgaben als Kosten der Einheit deklarieren und subsumieren, gleichen Schmalspurdenkern und können nicht auf das Verständnis der Berliner rechnen. Diese erfahren, wie journalistisches Hyänentum Divergenzen zwischen Ost- und West-Berlin künstlich fokussiert und genüsslich hochtreibt.
     Die Nahtstelle zwischen Ost und West über zehn Jahre nach der Einheit muss in Berlin zuerst vernarben und verheilen. Dieses Pilotprojekt müsste Berlin zuerst in Angriff nehmen und auf alle anderen Städte in Ost- und Westdeutschland vorbildhaft übertragen.
     Wenn der Nichtberliner die Straße Unter den Linden begeht, lässt dies das Herz höher schlagen, wenn er die Bau(denk!)mäler der Vergangenheit auf sich wirken lässt, dabei ist es dem feinsinnigen Besucher völlig egal, dass sie einmal im »anderen Teil« Berlins gelegen haben. Liberalismus ist hier gefragt, Aufklärung!
BlattanfangNächstes Blatt

   9   Probleme/Projekte/Prozesse Briefe  Voriges BlattNächstes Blatt
Innerdeutsche Vergangenheitsbewältigung findet vornehmlich zuerst in Berlin statt, zwischen den Menschen auf der Straße, unabhängig von den Parteien. Folge jeder seiner Vernunft und nicht den Parteiparolen, so wird er es schon recht machen.
     Als der kleine streitbare »Kommoden«-Bibliothekar J. E. Biester, der seine Geburtsstadt Lübeck gegen Berlin 1777 eintauschte und Berlin bis zu seinem Tode zur Wahlheimat machte, 1797 seine journalistische Tätigkeit an der »Berlinischen Monatsschrift« einstellte, schrieb er am Ende »Abschied von den Lesern«:
     »Aufklärung und Moralität müssen immer das Losungswort, immer der Hauptgedanke aller Schriftsteller und aller Leser in Deutschland bleiben!
Mit dem Bestreben danach hat die Berlinische Monatsschrift angefangen, fortgedauert, ihren Schluss erreicht, nur mit diesem Bestreben hoft auch der Herausgeber seine Thätigkeit und sein Leben einst zu beenden.«
     Es liegt im Wesen der Aufklärung, Sachverhalte, auch wenn sie auf breiter Ebene glänzend dargelegt werden, kritisch zu hinterfragen, ohne dabei die Segnungen der Technik und Wissenschaft grundsätzlich in Frage stellen zu wollen. Keiner würde gerne unter den Bedingungen des 18./19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts mehr leben wollen, oder in Zeiten, wo die medizinische Versorgung mangelhaft und die Lebenserwartung dergestalt, dass der Gratulant zu Klopstocks 70. Geburtstag diesen mit »altehrwürdiger Greis« tituliert.

Johann Erich Biester, der Herausgeber der »Berlinischen Monatsschrift« von 1783 bis 1796

 
     Diese unblutige Revolution, ein Ereignis, dessen Tragweite die Zukunft erst voll ermessen wird, diese »Deutsche Revolution«, die natürlich auch Tod, Blut und Tränen zur Vorbedingung hatte, sollte nicht in sattsame Selbstgefälligkeit umschlagen und weitere Reformen nach sich ziehen, diese Reformen, und der Philosoph Karl Popper würde es ebenfalls so sehen, sollten die geistige Aufklärung fördern auf der Suche nach einer besseren Welt.

BlattanfangNächstes Blatt

   10   Probleme/Projekte/Prozesse Briefe  Voriges BlattNächstes Blatt
Es gibt noch viel zu tun, auch in Europa, um Kriege zu eliminieren.
     Sie, lieber Herr Dr. Mende, der Sie demnächst die papierhafte Ausgabe Ihrer »Berlinischen Monatsschrift« einstellen, haben mit Ihren Kollegen und Freunden die Stadtgeschichte Berlins einem breiten Publikum sowohl im Osten, Westen, Süden und Norden Berlins zugänglich gemacht. Dies ist eine verdienstvolle Aufgabe.
     Wenn Sie im Internet damit fortfahren, werden Sie den Beifall vieler junger Menschen erhalten. Dass Sie diese Unternehmung nach der »Wende« begannen, zeugt von Risikobereitschaft und Mut, und die Gründe, warum Sie diese stadtverbindende Kulturleistung nicht im vollen Umfang fortsetzen, liegen wohl auch mit darin, dass die sogenannte »Öffentliche Hand« wohl für Kulturarbeit weniger offen als geballt und verkrampft ist und Denkmälern zur Vergangenheitsbewältigung politisch mehr Geld abverlangt wird.
     Auch wenn die von Ihnen herausgegebene Monatsschrift Stadtgeschichte weniger polemisch publiziert als die von den Herausgebern der alten BM, so war diese stadtverbindende Tätigkeit in schwierigen Zeiten eine edle Tat, für die ich mich als Leser und Nachkomme des ursprünglichen Mitherausgebers bedanken möchte.
     Mit freundlichem Gruß
     Hans W. L. Biester
Auf den folgenden Seiten veröffentlichen wir Briefe von Sir Karl Popper an Hans Biester, die er uns freundlicherweise zum Abdruck überlassen hat. Karl Raimund Popper (seit 1964 Sir), am 28. Juli 1902 in Wien geboren, lebte in England und starb am 17. September 1994 in London. Popper gilt als Begründer und Hauptvertreter des Kritischen Rationalismus; er entwarf in Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus eine allgemeine wissenschaftstheoretische Methodenlehre. Mit seiner Sozialtechnologie stand er im scharfen Gegensatz zu den Vertretern der »Frankfurter Schule«.
     Sein bedeutendes Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« hat an Aktualität nichts eingebüßt.
BlattanfangNächstes Blatt

   11   Probleme/Projekte/Prozesse Briefe  Voriges BlattNächstes Blatt
Brief
von Sir Karl Popper an Hans W. L. Biester,
Hamburg,
vom 6. 4. 1992
BlattanfangNächstes Blatt

   12   Probleme/Projekte/Prozesse Briefe  Voriges BlattNächstes Blatt
Brief
von Sir Karl Popper an Hans W. L. Biester,
Hamburg,
vom 28. 2. 1990,
Seite 1
BlattanfangNächstes Blatt

   13   Probleme/Projekte/Prozesse Briefe  Voriges BlattArtikelanfang
Brief
von Sir Karl Popper an Hans W. L. Biester,
Hamburg,
vom 28. 2. 1990,
Seite 2
BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
www.berlinische-monatsschrift.de