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zweiten Weltkrieges praktisch zu einer autonomen Macht neben Partei und Staat entwickelt ...«1) Sie beherrschte durch Personalunion die Polizei, die Gestapo, verfügte mit dem SD (Sicherheitsdienst) über einen eigenen Spionagedienst, betrieb die Konzentrationslager und beeinflußte die Siedlungspolitik in den eroberten Ostgebieten.
     Mit der 600 000 Mann starken Waffen-SS besaß sie eine eigene Armee, für deren Versorgung sie selbst verantwortlich war.
     Im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit unterhielt die SS u. a. Baubetriebe, besaß Siedlungen, Ernährungsbetriebe, Forschungsinstitute. Zu den exotischen Unternehmungen der SS gehörten sicher solche wie die Mineralwasserfabrik Apollinaris, die Porzellanmanufaktur Allach, die Deutsche Edelmöbelfabrik sowie Ziegeleien.
     Zusammengefaßt wurden alle Unternehmen, insgesamt 40 mit 150 Betrieben, 1940 in der »Deutsche Wirtschaftsbetriebe GmbH.«2) Die Leitung oblag der Amtsgruppe B (Verpflegung/Bekleidung/Unterkunft) des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes.
     Die anderen Amtsgruppen befaßten sich mit Haushalt/Besoldung/ Recht (A), Bauwesen/Technik (C) und Konzentrationslagern (D). Die Hauptwirtschaftslager und die Truppenwirtschaftslager (TWL) unterstanden also der Amtsgruppe B mit Sitz in Berlin-Lichterfelde, Unter den Eichen 126–135.3)
Joachim Rechenberg
Der »Bauch der SS«

Wo einst die SS »ihre Bäuche« füllte, stehen heute die Autos der Anwohner in einer Tiefgarage. Darüber toben Kinder auf einem großflächigen Abenteuerspielplatz. An das einstige Hauptwirtschaftslager der SS erinnert nur noch ein verbogenes Stück Eisenbahnschiene am Ende des Geländes, verborgen unter Bäumen und dichtem Buschwerk.
     Hier, direkt an den Anlagen des früheren Nordbahnhofes, in unmittelbarer Nähe des Gleimtunnels, lag früher ein großes Gewerbegrundstück. Im November 1940 ging es in den Besitz der Reichsleitung der SS über. Unter Regie des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes (WVHA) wurde ein zweites Berliner SS-Hauptwirtschaftslager (HWL) eingerichtet. Bis dahin bestand nur das Hauptwirtschaftslager in Berlin-Südende, Oehlertstraße 16/Turmstraße 4 (heute Brinkmannstraße).
     Aufgabe der Hauptwirtschaftslager war es, die Einheiten der SS, der kasernierten Polizei sowie die Bewachungsmannschaften der Konzentrationslager mit lagerfähiger Verpflegung zu versorgen. Auch die sogenannte Marketender- und Kantinenware wurde von dort aus verteilt.
     »Die SS, ihrer Stellung nach eine Gliederung der NSDAP, hatte sich bis Ende des

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     Das 7 158 Quadratmeter große Grundstück in der Gleimstraße 62, das einen Gleisanschluß zum Nordbahnhof hatte, war seit 1901 systematisch bebaut worden. Glasermeister Gustav Alt — die Firma Alt betrieb in Berlin seit 1815 eine Fenster- und Spiegelglashandlung – erwarb die Liegenschaft im Jahre 1900 und begann mit der Errichtung eines großen Spiegelglaslagers.
     Die Bauarbeiten müssen sich über längere Zeit hingezogen haben. Aus einem Bericht des 99. Polizeireviers an den Polizeipräsidenten ist ersichtlich, daß monatelang offenstehende Baugruben die Standsicherheit angrenzender Wohngebäude in der Graunstraße gefährdeten. Auch eine Anzeige gegen Zimmermeister Vorpahl aus der Pappelallee ist aktenkundig, der auf dem Grundstück angeblich unvorschriftsmäßig Bretter lagerte und damit eine Brandgefahr heraufbeschwor.
     1903 kam es zu einem ersten Umbau des Speichergebäudes, es wurden u.a. Pferdeställe eingerichtet. Ab 1904 betrieben die Brüder Podzuwill hier auf 3 500 Quadratmetern einen Kohlenplatz. Ab 1908 firmierte das Glaslager als »Berliner Spiegelglas-Verkaufskontor« mit Zweigstellen in Breslau und Danzig, 1927 als »Hartmann, Alt & Co GmbH«. Auch eine »Kittfabrik Vereinigter Glasermeister« hatte im Jahr 1927 ihren Sitz in der Gleimstraße 62. 1932 kam der »Eier-Import und Großhandel« Leo Adams dazu, aus demselben Jahr datiert die noch lange
nach Kriegsende betriebene Tankstelle mit ihren Garagenbauten. Als Bauherr zeichnete Kurt Hirschrohbruck verantwortlich. Die Akten nennen als Eigentümer des Grundstücks jetzt Albert Alt und den Kaufmann Storm.
     Mit Beschluß vom 20. Dezember 1940 wurde dann das Grundstück enteignet, alle bisherigen Nutzer mußten ihre Räumlichkeiten bzw. Lagerflächen räumen. Neuer Eigentümer wurde der Reichsführer SS.
     Die SS verfügte damit über ein ideales Lagerobjekt, welches sie sofort, ohne wesentliche Veränderungen, nutzen konnte. Ein Lageplan vom 20. November 1943 weist neben der Tankstelle (bis Dezember 1940 von Wilhelm Brandenburg betrieben) zwei Garagengebäude und neun zum Teil mehrgeschossige Lagerhallen aus, fünf davon unterkellert. Einige waren mit Fahrstühlen ausgestattet. Allerdings bemängelte die Baupolizei – angesichts der geplanten Nutzung – den baulichen Zustand der Hallen.
     So das Fehlen feuerbeständiger Türen und verstellte Fluchtwege.
     Trotzdem wurde der SS »mit Rücksicht auf den Kriegszustand«, eine befristete Nutzungsberechtigung »bis sechs Monate nach Kriegsende« erteilt.4)
     Bis dahin hortete die SS hier im Lager Lebensmittelbestände, die angesichts allgemeiner Knappheit für Außenstehende wie ein Schlaraffenland wirken mußten.
     Allerdings hatten Außenstehende keinen
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Zugang zur SS. Und deshalb erfuhren auch die Bewohner der Gleimstraße erst nach Kriegsende etwas von diesen Schätzen.
     Bis dahin aber waren es noch einige Jahre. In ihnen fuhren die LKW und Güterwagen der SS die wertvolle Fracht regelmäßig in die Standortbezirke Babelsberg, Bitterfeld, Dessau, Frankfurt an der Oder, Ravensbrück, Rathenow, Bad Freienwalde, Glau, Hohenlychen, Küstrin, Oranienburg. Gleichzeitig wurden die Truppenwirtschaftslager in Stettin, Lüneburg, Radeberg/Sachsen und Rendsburg beliefert.
     Insgesamt betrieb die SS im damaligen Reichsgebiet und den besetzten Gebieten sechs Haupt- und 20 Truppenwirtschaftslager.5)
     Das Lager Gleimstraße erhielt im Juli 1942 den Auftrag, ein Truppenwirtschaftslager in Paris einzurichten. SS-Untersturmführer Held mußte seinen Dienstsitz nach Paris verlegen, um der dort stationierten SS das Leben so angenehm wie möglich zu machen.6)
     Ein Blick in die Inventurlisten zeigt, was alles in der Gleimstraße gelagert wurde: Suppenkonserven, Hülsenfrüchte, Reis, Kaffee-Ersatz-Mischung, gekörnte Suppenwürze, Zucker und Zuckerwaren, Puddingpulver, Bratlingspulver, Gemüsekonserven, Eier, Delikateßgurken im Faß, Trockengemüse, Gewürze, Backobst, Tabakwaren und Spirituosen. Damit niemand zuviel »harte Getränke« bekam, mußte der Alkoholgehalt auf der Bezugsberechtigung vermerkt und
quittiert werden. Leicht verderbliche Ware durfte von den Einheiten gegen Bezugsberechtigung direkt vor Ort erworben werden.
     Bevorzugt bedient wurden junge SS-Leute. Für die Angehörigen der SS-Panzergrenadierdivision »HJ« (Hitlerjugend) gab es regelmäßig Sonderzulagen. Statt 4 900 Gramm Brot wöchentlich erhielten sie 6 650 Gramm, statt 700 Gramm Fleisch oder Wurst 900 Gramm. Statt 1,65 Liter Milch 5,15 Liter in der Woche. Nichtraucher bekamen anstelle der Tabakwaren ersatzweise 30 Gramm Drops. Akribisch genau war festgelegt, daß die Fleisch- und Wurst-Zulage zur Abendkost gereicht werden mußte, Nährmittel- und Milchzulage für die Frühstückssuppe zu verwenden waren.7)
     Im Verlauf des Krieges wurden immer mehr SS-Leute »kv«, kriegsverwendungsfähig. Damit verloren sie ihre Druckposten, auch die an der unmittelbaren Futterkrippe, und wurden an die Fronten abkommandiert. Die daraus resultierende Personalknappheit führte dazu, daß ab 1944 auch Häftlinge aus Konzentrationslagern im Hauptwirtschaftslager Gleimstraße eingesetzt wurden. Die SS hatte zu diesem Zweck ein Außenlager des KZ Sachsenhausen in Berlin-Südende, neben dem Hauptwirtschaftslager Oehlertstraße, eingerichtet.8)
Ältere Anwohner der Gleimstraße wissen, daß die Häftlinge mit LKW oder Bussen an- und abtransportiert wurden. Herr K. erinnert sich, daß oft Laster »kamen ..., wo dann
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Sträflinge – ob das KZler oder Zuchthäusler waren, kann ich nun nicht sagen – darauf waren.«9)
     Wie es den Häftlingen dort erging, schildert Rudolf Wunderlich, seit 1939 im KZ Sachsenhausen und zeitweiliger Lagerältester in Lichterfelde: »In diese Arbeitsstellen wurden stets solche Häftlinge geschickt, welche entweder gesundheitlich nicht in der Lage waren, schwere Bauarbeiten zu leisten, oder so geschickt waren, um an solchen Stellen im Interesse der Häftlinge zu arbeiten, entweder um zusätzliche Nahrungsmittel zu beschaffen oder um illegale Arbeit zu leisten (fremde Sender hören usw.)«.10)
     Dieser Außenposten war sehr begehrt. Den Häftlingen gelang es auch gelegentlich, trotz strenger Kontrollen, eine Kleinigkeit für sich abzuzweigen. So konnten sie ihre Lebensbedingungen verbessern, anderen Leidensgenossen helfen.
     Die Leiter der Hauptwirtschaftslager waren angewiesen, Sabotageakte, Fluchten und Diebstähle zu verhindern und die Häftlinge alle sechs Monate auszutauschen. Außerdem durften sie nicht für qualifizierte Arbeiten eingesetzt werden, die eine längere Einarbeitung notwendig machten. In einem Erlaß des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes war festgelegt worden, daß während des Krieges »eine vereinfachte Buchführung in engstem Rahmen zu schaffen sei«.11)
     Das Lager bestand bis weit in den April 1945 hinein, dann wurden die Häftlinge
in das Stammlager zurückbeordert. Am 23. April 1945 gegen 18.30 Uhr steckte die SS auf der Flucht vor den Truppen der Roten Armee das Lager in der Gleimstraße in Brand.12) Es gelang nur mit Mühe, die angrenzenden Wohnhäuser in der Graunstraße vor dem Übergreifen des Brandes zu bewahren.
     Unter den Bewohnern der Umgebung verbreitete sich in Windeseile die Kunde, daß noch viel Eßbares dort zu holen sei. Auf den Gleisen standen unausgeladene bzw. zum Transport bereitgestellte Güterwagen. Ihr Inhalt bestand nach Angaben von Frau K. u. a. aus Kartoffeln, Roggen, Schmalzblöcken.13)
     Der Zeitzeuge Herr A. erinnert sich, daß »da alles dringeblieben« ist »und die Bevölkerung versuchte, sich dort zu bedienen. Da war ein so starker Verkehr, daß die Russen ... annahmen, daß da was los ist und deshalb schossen die ... mit Haubitzen und da sind eine unheimliche Anzahl von Zivilisten getötet worden. Die lagen alle im Zugang zum Proviantlager.«14) Auch Frau M. berichtet, daß das brennende Lager trotz starkem Beschuß von der Bevölkerung gestürmt wurde.15) Frau P. nennt sogar Details: »... mein Vater und mein Bruder haben da einen Kartoffelflockensack geholt, bei Kriegsende, oder während der Kämpfe sogar ... und Eimer mit Marmelade ...«16) Auch Eier und Zigaretten werden herausgeholt, wie Herr W. erzählt.17)
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     Nach Kriegsende verfielen die nicht zerstörten Gebäude zusehens. Auch das, was eigentlich niet- und nagelfest war, wurde herausgeholt und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Das Senatsbauprogramm bezog schließlich das Grundstück in das Wohnungsbauvorhaben Gleimstraße/Graunstraße mit ein. Die Tankstelle, Garagen, die Ruinen der Lagergebäude und die Gleise wurden abgetragen oder entfernt, nichts erinnerte mehr an das Hauptwirtschaftslager der SS.

Quellen und Anmerkungen:
1     Georg: Die wirtschaftlichen Unternehmungen der SS, Stuttgart, S. 9
2     Ebenda, S. 11
3     Ebenda, S. 30 – 31
4     Alle voranstehenden Fakten entstammen der Bauakte Gleimstraße 62, Bauamt Wedding von Berlin, Bauaktenarchiv
5     BA Potsdam, NS 3, 1373, S. 140
6     Ebenda, S. 114
7     Ebenda, S. 127
8     Demps: Zwangsarbeitslager in Berlin, Berlin 1986, S. 161
9     Interview mit Frau und Herrn Kabrowski, geführt von Annett Gröschner und Heike Stange am 15. Juni 1995, S. 7
10     Sandvoß: Widerstand in Steglitz und Zehlendorf, Berlin 1986, S. 183
11     BA Potsdam, NS 3, 1373, S. 113
12     LAB, 134/13
13     Interview mit Frau K., 2. Januar 1996

14     Brief von Herrn Abendroth, ohne Datum, Heimatmuseum Wedding, S. 3
15     Aufzeichnungen von Frau Mühlsteph, ohne Datum, S. 1
16     Interview mit Frau Pape am 20. April 1995, geführt von Annett Gröschner und Heike Stange, S. 2
17     Interview mit Herrn Werner am 29. Juni 1995, geführt von Elke Brederek und Heike Stange, S. 11
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