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Der Name Spreestraße überdauerte fast sieben Jahrzehnte, bis wieder ein neuer Namen gebraucht wurde (Spreestraßen gab es damals in Berlin noch sechs weitere) und ein Geburtstag anstand. Grund genug, die nicht einmal 100 Meter lange Straße mit ihren 18 Häusern zwischen der Friedrichsgracht und der Brüderstraße in Sperlingsgasse umzubenennen.
     Nun hat der Name der Gasse – wie die meisten Berliner wissen – wenig mit den allbekannten Spatzen zu tun. Vielmehr ist sie eine Verbeugung der Stadt vor dem Dichter Wilhelm Raabe, dessen Geburtstag sich 1931 zum hundertsten Male jährte. 1931 erhielt gleichzeitig mit der Straßenbenennung auch eine Gaststätte im Gebäude Nr. 10 den Namen »Raabe-Diele«. Ob mit der Straßenbenennung nun der Dichter tatsächlich angemessen geehrt wurde, mag angesichts des damals schon recht maroden Zustands der Häuser und des nicht gerade guten Rufs dieser Gegend dahingestellt sein.
     Allerdings: Raabe hatte, nachdem er in Magdeburg seine Buchhändlerlehre abgebrochen hatte, während seiner Studienzeit an der Berliner Universität von Oktober 1854 bis Frühjahr 1855 in der Spreestraße – das Haus trug nun die Nummer 11 – gelebt. Er wohnte beim Schneidermeister Wuttke und besuchte als Gasthörer an der Friedrich-Wilhelms-Universität historische und philosophische Vorlesungen. 1855 zog er in die Oberwallstraße, wo er sein Erstlingswerk,
Herbert Mayer
Ein Buch als Namensgeber

Im September 1931 vermeldeten die Amtsblätter, daß die Spreestraße am 29. August den heutigen Namen Sperlingsgasse erhalten hatte. Dies war die vorläufig letzte Umbenennung einer der ältesten Berliner Straßen, deren Spuren sich bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Sie war als Gang zur Spree angelegt worden, damit die Einwohner Cöllns bei Feuergefahr schnell zum Wasser gelangen konnten. Sie wurde deshalb im 16./17. Jahrhundert als Neue Gasse zur Spree bezeichnet. Danach erhielt sie den einfacheren Namen Spreegäßchen bzw. Spreegasse. Als Berlin um 1861/62 daran ging, sich der »Gassen« zu entledigen, wurde die Gasse in Spreestraße umgetauft. Denn mit einer Kabinettsorder hatte am 12. Februar 1862 »des Königs Majestät zu bestimmen geruht, daß die Spreegasse hierselbst fortan den Namen >Spreestraße< führen soll«. Die Bewohner der anschließenden Straße, die zur Breiten Straße führt, hatten da weniger Glück. Sie wollten zwar auch in einer richtigen Straße – und nicht mehr in einer Gasse – wohnen, hatten daher den Namen Kleine Brüderstraße beantragt, doch es blieb bei Neumannsgasse.

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»Die Chronik der Sperlingsgasse«, beendete. Es erschien unter dem Pseudonym Jacob Corvinus im Oktober 1856, war aber vordatiert auf das Jahr 1857. Raabe soll das Manuskript auf gelbem Papier geschrieben haben, das er aus Zigarrenkisten herausgerissen hatte.
     Die Chronik der Sperlingsgasse beginnt am 15. November 1854. Chronist ist der alte und einsame Gelehrte Johannes Wacholder. Dieser unterbricht die Arbeit an seinem Werk »De vanitate hominum«, um die Ereignisse seiner Straße, der Berliner Sperlingsgasse, und das Leben ihrer Bewohner aufzuzeichnen. Es entsteht ein plastisches Bild der politischen, ökonomischen und sozialen Lage in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts. Durch unmittelbar Erlebtes und durch Rückblicke läßt Raabe fünf Jahrzehnte Berliner Schicksale und Geschichte entstehen. Der Karikaturist Strobel, der Journalist Wimmer oder der Maler Ralff verkörpern lebendige Berliner Originale.
     Der Roman – er war in der »Vossischen Zeitung« von Ludwig Rellstab positiv besprochen worden – wurde so erfolgreich, daß Raabe seinen Lebensunterhalt künftig als Schriftsteller verdienen wollte. Er hat bis in die Gegenwart seine Leser, seine Bedeutung, so einschlägige Literaturlexika, »beruht auf dem poetischen Verfahren, mit dem Raabe eine Vielfalt von Vorgängen und gegensätzlichen Stimmungen zu einer Einheit zusammenfügt, eine Technik, die der
Autor in seinen weiteren Werken zur Vollendung führen sollte«. Auch in ihnen spielt die Handlung oft in Berlin, so in »Der Hungerpastor«, der Trilogie »Deutscher Adel« und der »Villa Schönow«.
     Die Gestaltung der Straße – in der auch Fontane einst gewohnt haben soll – hat sich seit ihrer Benennung in Sperlingsgasse grundlegend geändert. Im Zweiten Weltkrieg war die ursprüngliche Bebauung kurz vor Kriegsende weitgehend vernichtet worden. Raabes Wohnhaus – es gehörte nun einer Versicherungsgesellschaft – war zwar nur teilweise zerstört, doch durch das zerstörte Dach dann – wie alle Häuser in der Straße – dem Zerfall preisgegeben. Die alten, baufälligen, inzwischen weitgehend unbewohnten und einsturzgefährdeten Fachwerkhäuser wurden Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre abgerissen. Nur die alte Kneipe in der Nummer 10 wurde rekonstruiert, um alsbald ebenfalls abgerissen zu werden. In den 60er Jahren entstand auf der einen Straßenseite ein Neubaublock; die andere Seite wurde in den »Park« an der Rückseite des DDR-Staatsratsgebäudes einbezogen. Die »Raabe-Diele« ist in das Ermeler-Haus am Märkischen Ufer »verlagert« worden. Wer heute durch die Sperlingsgasse geht, findet nur die Hausnummer 1 des erwähnten Neubaublocks. Er gelangt an der Friedrichsgracht zur ältesten Berliner Brücke, zur Jungfernbrücke, die aber gegenwärtig durch Rekonstruktionsarbeiten gesperrt ist.
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