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Zeitzeugen

Im Gespräch mit Wilfried Bütow

Mit diesem Beitrag setzen wir die Reihe „Kanon und Norm. Ein Forschungsprojekt zur Literaturgeschichte der DDR“ fort, in deren Rahmen bereits in den Heften 7 und 8/1997 Interviews mit Horst Haase und Peter Gosse veröffentlicht wurden.

Martina Langermann und Dieter Schlenstedt sprachen mit Wilfried Bütow.

Prof. Dr. Wilfried Bütow hat in der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR über zwanzig Jahre verantwortlich an der Entwicklung der Lehrpläne für den Deutschunterricht und der Methodik des Literaturunterrichts mitgewirkt.

Unter seinen vielen Publikationen sind für die diskutierte Sicht auf das Fach Deutsch aufschlußreich: „Zur schöpferischen Arbeit im Literaturunterricht“, 1974 (Hrsg.); „Methodik Deutschunterricht. Literatur“, 1977 (Autor und Leiter des Autorenkollektivs); „Hören und Anschauen“ (mit H. Dahm); „Literatur und Persönlichkeit“, 1986 (Mitautor); „Literatur im Überblick“, 1989 (Autor und Leiter des Autorenkollektivs).

Nach der Wende leitete Prof. Bütow im Rahmen der Internationalen Lesestudie (IEA) empirische Untersuchungen in den neuen Bundesländern. Er ist Autor und Herausgeber anerkannter Lesebücher, darunter der Reihe „LeseEcke“ (Klassen 2 bis 4, ab 1994) sowie „Texte. Literatur. Medien“ (Klassen 5 bis 10, ab 1994). Die beiden Lese-Seh-Bücher „Augenreise I“ (1992) und „Augenreise II“ (1993), verfaßt mit Barbara Schütze, wurden auf der Frankfurter Buchmesse ausgezeichnet.

Zu seinem 70. Geburtstag 1997 widmeten ihm Wissenschaftler aus Ost und West die Festschrift „Aber spätere Tage sind als Zeugen die weisesten. Zur literarisch-ästhetischen Bildung im politischen Wandel“, herausgegeben von Hubert Ivo und Kristin Wardetzky, Verlag Volk und Wissen, Berlin 1997.

Sch.: Zunächst noch ein paar Informationen zur Person. Sie waren an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW). Wir wissen, daß es einige heftige Umschwünge in Ihrer Biographie gegeben hat. Möchten Sie das skizzieren?

Zum Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut (so hieß die Einrichtung, bevor sie Akademie wurde) bin ich 1968 gekommen.

Ich war damals Lehrer an der Erweiterten Oberschule „Max Planck“ in Berlin-Mitte. Mich reizte das Angebot, im Bereich Deutsche Sprache und Literatur an der Weiterentwicklung des Faches mitzuwirken, zumal sich mir die Möglichkeit für längerfristige Forschungen bot.

Das Angebot hatte mich damals ermuntert. Sicher gab es Gründe, die für mich sprachen: Eine zwanzigjährige Lehrertätigkeit, meine Tätigkeit als Fachberater, 1966 hatte ich mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger promoviert. 1967 war ich für eine pädagogische Lesung, in der ich meine Erfahrungen als Klassenlehrer und meine Ansichten über Mitgestaltung festgehalten hatte, ausgezeichnet worden. Doch eigentlich war meine Kaderakte gar nicht so günstig: Es gab da eine große „Westverwandtschaft“, drei meiner Geschwister hatten die DDR verlassen. Mein Bruder arbeitete an der Freien Universität, kandidierte für die SPD. Als mich die Staatssicherheit 1965 um Mitarbeit angesprochen hatte, hatte ich unmißverständlich abgelehnt und war auch nie wieder behelligt worden. Meine politische Haltung hatte ich bald nach Kriegsende mit dem Eintritt in die SPD bekundet. Ich nenne dies, weil es das, was Sie Umschwünge in meiner Biographie nennen, mit erklären hilft, aber auch zeigt, wie wenig Klischees beim Verständnis unserer komplizierten Geschichte helfen. Unter diesem Blickwinkel etwas zu den „Umschwüngen in meiner Biographie“:

Vor meiner Lehrertätigkeit an der Planck-Schule war ich bis 1960 Lehrer am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster gewesen und nach politischen Auseinandersetzungen versetzt worden. Der Streitpunkt war die von oben verfügte Relegierung von Schülern, deren Geschwister nach dem Abitur in Westberlin das Studium aufgenommen hatten. Eine kleine Gruppe von Lehrern akzeptierte diese Verfügung nicht und blieb bei dieser Haltung trotz der sich über viele Tage hinziehenden harten Diskussionen. Wir sahen in der Relegierung einen Verstoß gegen humanistische Grundsätze, eine Art Sippenhaft. Als Sekretär des Pädagogischen Rates - er wurde durchaus demokratisch gewählt - fühlte ich mich verpflichtet, unsere Ablehnung in dieser Frage gegenüber der Partei und der Abteilung Volksbildung zu vertreten.

Von der Relegierung wurde schließlich Abstand genommen. Was letztlich dazu geführt hat, weiß ich nicht. Unsere konsequente Ablehnung hat vielleicht etwas dazu beigetragen.

Diese und ähnliche Erfahrungen hatten mich darin bestärkt, Brechts Satz zu bejahen, wenn auch mit einer skeptischen Einschränkung: Es setzt sich soviel durch, wie wir durchsetzen.

Diese Erfahrung hat sich in meiner Tätigkeit an der APW einerseits bestätigt, andererseits wuchs meine Skepsis im Laufe der Jahre doch beträchtlich. 1983 wurde ich als Leiter der Abteilung Deutsche Sprache und Literatur abgelöst. Anlaß war, daß ich eine Auffassung in der Ausbildung des Lesens vertrat und die auch in weiterentwickelten Lehrplänen der Unterstufe umzusetzen versuchte, die nach der Meinung der Leitung den Leseunterricht ernsthaft gefährde. Als besonders belastend kam hinzu, daß wir Forschungsergebnisse aus der BRD in unsere Untersuchungen einbezogen hatten.

Ein zweiter Streitpunkt betraf die Lehrplanarbeiten im Bereich Literatur und hier die Literaturauswahl, die u. E. besonders in der Oberstufe offener zu halten war und stärker die realen Leseinteressen der Schüler berücksichtigen müßte.

In den 80er Jahren zeigte es sich immer deutlicher: Die ideologische Erziehung, so wie sie von der Leitung der APW und des MfV gefaßt wurde - nach meiner damaligen Auffassung war sie dogmatisch -, schränkte die differenzierten Wirkungsmöglichkeiten von Kunst und Literatur erheblich ein und war mitverantwortlich dafür, daß stereotypes Vorgehen im Literaturunterricht - trotz der Fortschritte in der zweiten Hälfte der 80er Jahre - nicht überwunden werden konnte.

Jede Debatte zu diesen Problemen brachte das Argument der Entideologisierung ins Spiel, und das wiederum schüchterte manchen Kritiker des dogmatischen Ideologie-Konzepts ein.

Nach meiner Ablösung als Abteilungsleiter konnte ich trotzdem - begrenzt auf den Bereich Literatur - weiterarbeiten und meine Forschungen mit Aspiranten weiterführen. Sie waren auf zehn Jahre angelegt und betrafen vor allem den Leseprozeß und die Veränderungen im Leseverhalten und der Leseinteressen.

Die vorausgesagten Probleme im Literaturunterricht kamen übrigens bald nach der Einführung des Lehrplanes für die Klassen 9 und 10 als Kritik aus der Schulpraxis zurück. Als dann der Pädagogische Kongreß 1989 vorbereitet wurde, forderte uns die Leitung der Akademie auf, ein realistisches Bild der Situation in den Schulen zu geben. Ich war damals erstaunt, als ich aufgefordert wurde, mich auch zur Haltung und Einstellung der Jugendlichen zu äußern, generell und nicht nur vom Deutschunterricht her. Die Untersuchungen zum Leseverhalten und zu den Leseinteressen gaben dazu vieles her.

Diese Analyse wurde zwar in der Akademie akzeptiert, aber dann verschwand sie wie andere irgendwo in einem Schreibtisch. Das hat bei vielen zu einer Verstimmung geführt und manchen bewogen, diesen Kongreß zu ignorieren.

Meine Weigerung, in der Lehrerzeitung einen „richtungsweisenden“ Artikel zur ideologischen Erziehung im Literaturunterricht zu schreiben, brachte strenge Ermahnungen und Auflagen ein, doch der vom Ministerium nachdrücklich verlangte Beitrag wurde nicht geschrieben. Mit der Wende hatte sich dies dann erledigt.

Forschung und Dienstleistung waren die beiden Aufgaben der Akademie (APW), und das war ihr Dilemma

Sch.: Die APW war eine Forschungseinrichtung, aber zugleich doch wahrscheinlich auch ein Arbeitsinstrument für das Ministerium?

Die Akademie war eine Einrichtung, an der geforscht wurde und die pädagogische Forschungen leitete. Sie arbeitete dem Ministerium für Volksbildung zu, und zwar in allen wesentlichen Fragen, die mit der Weiterentwicklung der Schule verknüpft waren.

Sie war zum einen für die Ausarbeitung und Erprobung von Lehrplänen sowie für Untersuchungen über deren Wirksamkeit zuständig. In dieser Funktion war sie eine Art Dienstleistungskombinat für das Ministerium. Von der Satzung her war sie zum andern eine Forschungseinrichtung mit einem weiten Forschungsfeld: Fragen wie die Weiterentwicklung der Allgemeinbildung, wie Bildungsinhalte und Formen, die Voraussetzungen und Bedingungen eines effektiven Zusammenwirkens reichten ins Künftige.

Beide Aufgaben prägten das Profil der Akademie und waren ihr Dilemma. Die „führende Rolle des Ministeriums“ machte allen zu schaffen, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Besonders aber den Unterrichtsinstituten an der Akademie, vor allem dem gesellschaftswissenschaftlichen Institut. Abgestuft auch den anderen Instituten, die sich mit Fragen der Didaktik, der Theorie der Erziehung, der pädagogischen Psychologie, der Geschichte der Pädagogik, der Bildungsökonomie befaßten.

Sch.: Was gehörte im einzelnen zu den Aufgaben der Forschungsführung?

Als Leiteinrichtung für die pädagogische Forschung war die APW verantwortlich für die Ausarbeitung und Abstimmung der Forschungspläne in den jeweiligen Bereichen.

In meinem Bereich waren dies die Forschungspläne für Methodik des Muttersprachunterrichts sowie für Methodik des Literaturunterrichts. In der DDR hatte das Fach Deutsche Sprache und Literatur im Vergleich zur Bundesrepublik zwei deutlich unterschiedene Bereiche: Muttersprache und Literatur.

Sch.: Sie waren zuerst Fachgebietsleiter?

Fachgebiete gehörten zu einer Abteilung. Deutsch wurde später in den Rang einer Abteilung gehoben, was wir von den Aufgaben und der Zusammensetzung her schon lange waren. Aber das hing wohl auch mit meiner Person zusammen. Die Voraussetzungen für einen staatlichen Leiter (ab Abteilungsleiter) erfüllte ich von der Kaderakte nur bedingt, man tat sich in solchen Fällen immer schwer. Übrigens war es schon merkwürdig: Als ich an der Akademie Abteilungsleiter wurde, war mein Bruder Vizepräsident an der Freien Universität in West-Berlin. Diese Ost-West-Konstellation hat übrigens für uns beide Probleme aufgeworfen. Für meinen Bruder änderte sich das mit der Ostpolitik Willy Brandts.

Sch.: In der Abteilung Deutsch gab es zwei Bereiche?

Zunächst drei: Deutsch-Unterstufe, Muttersprache (Klasse 5 bis 12) und Literatur (Klasse 5 bis 12). Als ich als Leiter abgelöst wurde, wurde Deutsch-Unterstufe herausgenommen und mit anderen Fächern der Unterstufe (außer Mathematik) eine Arbeitsstelle für Unterstufe gebildet. Von da ab gab es dann nur noch zwei Bereiche: Literatur und Muttersprache.

L.: Ihr Einfluß auf die Forschung beschränkte sich vor allem auf die Pädagogischen Hochschulen? Inwiefern gab es eine Zusammenarbeit mit den Universitäten?

Auch die Universitäten waren eingebunden, denn an allen Universitäten gab es einen Bereich Deutschmethodik. An jeder Einrichtung waren die Bereiche Methodik des Muttersprachunterrichts und Methodik des Literaturunterrichts repräsentativ vertreten. Ziel war, an jeder Hochschule oder Universität, die einen hohen Anteil an Deutschlehrerstudenten hatte, in beiden Bereichen Lehrstühle für Methodik einzurichten.

L.: Hatten Sie Einfluß auf die Ausbildungspläne der Germanistik?

Nein. Für die Ausbildung an den Universitäten war das Hoch- und Fachschulministerium zuständig; das Ministerium für Volksbildung wiederum für die Fachausbildung an den Pädagogischen Hochschulen. Es gab jedoch zwischen uns und den Fachwissenschaftlern eine freundschaftliche Zusammenarbeit. Auch mit den Akademien, die mit Kunst und Literatur zu tun hatten.

Diese Zusammenarbeit konzentrierte sich vor allem auf die Lehrplanarbeiten. In unseren Forschungsgemeinschaften, die sich später Wissenschaftlicher Rat für Literatur bzw. Muttersprache nannten, waren auch Vertreter der Akademie der Wissenschaften (AdW), der Akademie der Künste (AdK) und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (AfG).

L.: Dieser Beirat hatte beratende Funktion?

Ja. Die Wissenschaftlichen Räte haben nicht nur Forschungsfragen beraten, sondern auch die Forschungspläne im Fach bestätigt. Eine Abstimmung mit den Fachvertretern der Hochschu len und Universitäten war selbstverständlich.

Veränderungen der Lehrpläne für den Literaturunterricht gingen primär auf bildungspolitische Entscheidungen zurück

Sch.: Uns interessieren die Mechanismen der Anweisungen und Entscheidungen. Sie sind für die Ausarbeitung der Lehrpläne zuständig gewesen. Wer hatte die Initiative, eine neue Stufe der Lehrplanarbeit zu beginnen, und wer entschied dann letzten Endes?

Veränderungen der Lehrpläne in den Fächern sind im allgemeinen durch die schulpolitische Entwicklung in der DDR bestimmt gewesen. Bildungspolitischen Entscheidungen folgten über kurz oder lang auch Veränderungen im Fach. Ihre Eckdaten sind 1951, 1959, 1966 und 1980.

Sch.: Man redet von vier Stufen der Lehrplanarbeit. Sind das diese vier Phasen?

Etwa. Wir dürfen dabei den Anfang nicht vergessen: 1946 gab es den ersten neuen Lehrplan. Sein antifaschistischdemokratischer Charakter wies auf einen tiefgreifenden bildungspolitischen Wandel, stark geprägt von reformpädagogischen Ideen. Im Bereich Deutsch war es ein sehr offener Plan. In Literatur von beachtlicher Qualität mit wenig Pflichtwerken, großen Wahlmöglichkeiten und Freiräumen und einem hohen Anteil an Weltliteratur, eine Antwort auf das bis 1945 geltende chauvinistische Literaturkonzept.

1951, zwei Jahre nach der Gründung der DDR, wurde der Plan stark verändert, da er den neuen gesellschaftlichen Bedingungen entsprechen sollte. In ihm wird (noch) von staatsbürgerlicher Erziehung gesprochen, der Einfluß sowjetischer Pläne ist groß. In diesem Zusammenhang ist auch der Bruch mit der Reformpädagogik vollzogen worden.

1959 trat ein neuer Plan in Kraft. Ziele und Inhalte spiegeln die im Bildungsgesetz von 1958 formulierten Grundsätze sozialistischer Erziehung wider. Ihnen lag die Auffassung von der Allgewalt der Erziehung zugrunde. Dem entsprach, Literatur vor allem als Mittel der ideologischen Erziehung zu sehen. Eine Konsequenz war der hohe Anteil an sozialistischer Literatur, auch an sowjetischer.

Dieser Plan wurde ab 1966 präzisiert.

Eine hohe literarische Bildung als Allgemeinbildung, konzipiert in dem stringenten Plan von 1966, war ein ehrgeiziges, doch recht widersprüchliches Projekt

Sch.: Wenn man Zwischenstufen wegläßt, begann damit die dritte Phase?

Ja, für das Fach Deutsch war diese Phase wichtig. Denn was ursprünglich als Präzisierung gedacht war, änderte unterwegs den Charakter. Es wurde ein neuer Lehrplan, und zwar ein recht detaillierter.

Literarische Bildung wurde aufgewertet und die Erziehungsfunktion der Literatur besonders betont. Sozialistische Erziehung wurde zum Leitbegriff.

Die Präzisierungen der Aussagen zu den Zielen und Stoffen ließen ein sehr geschlossenes Konzept entstehen.

Rückblickend läßt es sich so beschreiben: Es wurde damit eine hohe literarische Bildung als Allgemeinbildung konzipiert. Dieses ehrgeizige Konzept, in dem das humanistische Erbe wie die Gegenwartsliteratur als historisch zusammengehörend gesehen wurden, maß dem Umgang mit Literatur bleibenden Wert zu und war für alle Schüler gedacht.

Seine Umsetzung warf jedoch nicht wenige Probleme auf. Ihre Ursachen sehe ich darin, daß Literatur stark instrumentalisiert wurde, schon unter dem Gesichtspunkt der Bildung, vor allem aber der Erziehung. Dadurch kam ein stereotyper Zug in die Literaturvermittlung.

Mit der präzisierten Ziel-Stoff-Beziehung war eine stringente Linie für die Umsetzung vorgezeichnet. Das angespannte Verhältnis Stoff - Zeit rückte bald methodische Fragen ins Blickfeld:

Wie können solche Vorgaben umgesetzt werden? Können sie überhaupt umgesetzt werden? Worauf sollte man sich konzentrieren? Welche Werke erreichen den jungen Menschen, welche nicht?

Wie man sich auch im einzelnen zu den Plänen stellte, die hohen Anforderungen und die detaillierten Vorgaben führten zum Erproben neuer methodischer Wege, zur Intensivierung der methodischen Forschung.

Es gab bemerkenswerte Vorschläge und zugleich Erkenntnisse, die nachdenklich stimmten. Damals vollzog sich in der Methodik so etwas wie ein Paradigmenwechsel. Das Bedingungsgefüge, von den Prozeßbedingungen bis hin zum einzelnen Schüler als einer Bedingungsgröße, erhielt eine andere Wertigkeit. Damals haben wir - noch bevor das wichtige Buch Gesellschaft - Literatur - Leser von Schlenstedt/Naumann erschien - uns gewissermaßen unter dem Zwang der Unterrichtspraxis der Rezeptionsforschung zugewandt. Wir erkannten die Beziehung Autor - Werk - Leser als eine Größe, über die wir zu wenig wußten und die wir für den Literaturunterricht genauer erforschen müßten. Unser Blick ging auf den realen Leser: Wie kann man ihn zu einer schöpferischen Lektüre motivieren und befähigen?

Damals diskutierten wir heftig über den Gegenstand der Wissenschaftsdisziplin Methodik und über ihre Methodologie.

Sch.: Zu diesen Lehrplänen ab 1966 gab es in der Praxis doch auch eine starke Kritik.

Die wachsende Unzufriedenheit mit dem Literaturunterricht nach zu strengen Vorgaben hat dann zu einer Revision der Lehrpläne geführt. Ihr lagen unterschiedliche Intentionen zugrunde. Für die einen ging es um bessere Voraussetzungen für einen schöpferischen Umgang mit Literatur, für andere vor allem um die Erhöhung der erzieherischen Wirksamkeit.

Notwendig war die Abkehr von einer Auffassung, die Literatur zum einfachen Abbild machte und ihre Wirkung auf Normvermittlung einengte. Mehr Wert auf ästhetische Erziehung zu legen war eine Forderung, eine andere, den Beziehungsreichtum literarischer Werke zu sehen, ihre Originalität zu beachten und sich über die Vielfalt von Wirkungsmöglichkeiten der Kunst klar zu werden. Dies wurde auch auf der Konferenz „Literaturunterricht und kommunistische Erziehung“ 1979 angesprochen.

Sch.: Hans Koch hat auf diesem Kongreß gesprochen?

Er hat das grundlegende Referat gehalten, mit dem die theoretischen Grundlagen für einen wirksamen Literaturunterricht gegeben werden sollten. Es bildete in seinem Kern den Ausgang für das Buch Literatur und Persönlichkeit, das 1986 erschien und das „richtungweisend“ für die Lehrerausbildung und Weiterbildung sein sollte. Der Tod Hans Kochs- er sah 1986 im Freitod den einzigen Ausweg aus seiner Bedrängnis - hat die beabsichtigte Leitbildfunktion dieses Buches beeinträchtigt. In dem Buch wird mehr ausgesprochen als auf der Konferenz. Dort hatte es Beiträge gegeben, die für eine konsequente ideologische Erziehung plädierten, aber auch solche, die dem Ästhetischen starke Beachtung schenkten. Mit dem Thema „Literaturunterricht und kommunistische Erziehung“ war der dort gesetzte Akzent benannt.

L.: Kommunistische Erziehung war demnach der bestimmende Aspekt. Was verstand man darunter?

Über seinen Inhalt sollte damals am Beispiel des Literaturunterrichts befunden werden. Mit dem Begriff „kommunistische Erziehung“ verbanden sich unterschiedliche Vorstellungen. Das ist schon am Referat Hans Kochs ablesbar, der vor allem die moralische Erziehung hervorhob. Die Konferenzbeiträge zeigen, daß Enge wie Weite zu den damals geäußerten Ansichten gehörten. Der Gedanke, daß mit kommunistischer Erziehung eigentlich eine allseitige, die wesentlichen Seiten der Persönlichkeit umfassende Erziehung und Bildung gemeint ist, dies aber oft mit ideologischer Erziehung gleichgesetzt, darauf reduziert wurde, war auch Anlaß, im Buchtitel vom Konferenzthema abzugehen und „Literatur und Persönlichkeit“ als Titel zu wählen. Was nicht der Vorstellung der Ministerin entsprach, die zunächst für den Buchtitel „Literaturunterricht und kommunistische Erziehung“ war.

Unübersehbar war der Widerspruch zwischen dem erhobenen Anspruch an das Denken und Tun einerseits und dem Verhalten im „real existierenden Sozialismus“ andererseits. Er erklärt die idealtypischen Setzungen, aber auch die schließliche Abkehr davon.

Für mich lag ein Problem auch darin - und das war ein fortwährender Streitpunkt -, ob Ideologie als aktueller Wahrheitsanspruch, als verordnete Rechtfertigung aktueller Entscheidungen gehandhabt wird oder ob ihr pragmatischer Charakter kritisch reflektiert werden kann.

Sch.: Wie sah die Mehrheit der Lehrer diese Konferenz?

Viele Lehrer hatten etwas weniger Spektakuläres im Sinn. Sie wollten günstigere Bedingungen für die Begegnung mit Literatur und praktikable Vorschläge, wie der Umgang mit Literatur die Schüler bewegen, ihr Denken und Fühlen bereichern kann und wie schöpferische Fähigkeiten ausgebildet werden können.

Einig war man sich darin, daß Kunst und Literatur zu unserem Leben gehören. Darin sahen viele auch einen Unterschied zur Bundesrepublik, in der literarische Bildung doch oftmals Privileg der Gymnasialstufe blieb.

Sch.: Dann also brachte die Konferenz zur kommunistischen Erziehung der Schuljugend gewissermaßen den Schritt in Richtung einer vierten Phase. Kann man das so sagen, oder ist das zu schematisch?

Es wäre in der Tat etwas schematisch. Sie hat manches aufgegriffen und in Gang gesetzt, was in der Luft lag und was dann eine Eigendynamik gewann. Sie hat erleichtert, dem subjektiven Faktor, wie es damals hieß, größeren Raum zu geben, die Position des Schülers stärker mitzudenken.

In der Betrachtung der Literatur hatten sich ja auch in der Literaturwissenschaft Veränderungen vollzogen. War zunächst die gnoseologische Funktion betont worden, gewannen später axiologische und kommunikative Elemente an Bedeutung.

In unserem veränderten Tätigkeitskonzept waren diese Elemente aufgehoben: Rezeptives und Produktives bildeten ein Ganzes. Jedoch hatten wir Probleme, die produktive Seite im Unterricht angemessen zu berücksichtigen. Lange Zeit galt dies als das Feld der schulischen Arbeitsgemeinschaften, für die es lediglich Rahmenpläne gab. Darin war das Stoff-Zeit-Verhältnis recht offengehalten.

Sch.: Stoff-Zeit-Verhältnis bedeutet, daß festgelegt wurde, wieviel Unterrichtsstunden für welche Unterrichtsstoffe aufgewandt werden sollten?

Dies war lange Zeit stark ausgeprägt und wurde dann in den Plänen ab 1980 vergleichsweise locker gehalten. Stundenangaben waren hier Richtwerte und trugen Empfehlungscharakter.

Sch.: Haben sich denn die Lehrer an die strengen Vorgaben gehalten?

Ich habe diese Zeit zu einem Gutteil als Lehrer mitgemacht und muß sagen, viele sind mit den Vorgaben frei umgegangen.

Andere Lehrer haben sich daran geklammert, zumal ja auch kontrolliert wurde, ob der Plan erfüllt wurde.

Man muß - dies ist mitzudenken - zwischen den Lehrplänen, den Nachfolgematerialien und dem tatsächlichen Unterricht unterscheiden.

L.: Ich kann mir vorstellen, daß Nachfolgematerialien mit ihren praktischen Hinweisen mitunter einen stärkeren Einfluß ausüben als ein doch etwas abstrakter Plan.

Natürlich. Pläne wurden im allgemeinen etwas flüchtig gelesen. Bei der Präambel wußte man ja schon, was darin geschrieben steht. Präambeln glichen sich und zeigten so, daß ihr Text auf einer überfachlichen Ebene festgelegt wurde. Unterrichtshilfen tragen Empfehlungscharakter, sie regen an zu modifizieren, zu variieren.

Diese Funktion wurde in den Unterrichtshilfen zu den Plänen ab 1980 unübersehbar verstärkt.

L.: Wurde ein Lehrplan durch einen Autor formuliert, oder handelte es sich um einen kollektiven Text?

Ja, es war so etwas wie ein kollektiver Text. Bei Bemerkungen zu einzelnen Werken konnte einer noch sagen, das habe ich formuliert. Doch meist waren die persönlichen Formulierungen durch die vielen Phasen der Bearbeitung eingeebnet worden.

Lehrpläne waren das Produkt einer kollektiven Arbeitsweise, verantwortet von der Akademie nach schulpolitischen Vorgaben

Sch.: Von wem ging die Initiative für Neuformulierungen oder Überarbeitungen aus, vom Ministerium oder von der Partei? Diskussionen zur Umsetzung. Aber auch aktuelle kulturpolitische Vorgänge konnten Anlaß für vereinzelte Korrekturen geben. Sie bezogen sich auf einzelne Werke, wenn sich andere Lesarten aufdrängten (Beispiel: Nationalhymne), oder auf Autoren, die eine politisch unerwünschte Haltung eingenommen hatten.

Es zeigte sich dabei: Je detaillierter ein Plan ausgearbeitet ist, desto gefährdeter waren seine Aussagen, vor allem im Bereich der Gegenwartsliteratur. Da brauchte nur ein Autor in Ungnade zu fallen wie Stefan Heym oder die DDR zu verlassen wie Günter Kunert und Sarah Kirsch.

L.: Hat die Lehrplanredaktion darauf reagiert?

Die Änderungen wurden in der Regel vom Ministerium für den Nachdruck dem Verlag mitgeteilt. Es war jedoch nicht so, daß zum Beispiel Ärger der Offiziellen über Stephan Hermlin dazu führte, ihn aus dem Lehrplan herauszunehmen. Doch wurde bereits bei der Lehrplanentwicklung überlegt, wen nennt man mit Namen und wo formuliert man es allgemein. Eine Überlegung war, zwei oder drei Namen zu nennen und dann hinzuzusetzen „und andere“. Man war so aus der Bedrängnis, und jeder konnte ergänzen, auch mit dem Blick auf die Leseinteressen der Schüler. In dem Plan ab 1980 waren solche Freiräume durchgehend enthalten.

Die Freiräume waren das eine, das andere war eine vernünftigere Zielbestimmung, die sich auf das Fachspezifische konzentrierte. Es ist auch eine kritische Durchsicht erfolgt, es wurden Werke herausgenommen, die einfach keine Wirkung hatten und nicht gelesen wurden.

Sch.: Zum Beispiel?

Otto Gotsche, lange Zeit Sekretär des Staatsrats und ein Vertrauter Walter Ulbrichts, hatte sich mit Erfolg darum bemüht, daß sein Roman Märzstürme für die Schulen gedruckt wurde. Im Lehrplan der dritten Phase haben wir sein Buch noch unter der Wahlliteratur aufgeführt. In der Unterrichtshilfe von 1986 wird er nicht mehr erwähnt. Auch Werke der DDR-Literatur, deren Wirkung einer bestimmten Phase geschuldet waren und die inzwischen durch interessantere Werke ersetzt werden konnten, fielen darunter wie in der Abiturstufe Claudius' Menschen an unserer Seite.

Bei manchen Werken gab es jedoch seltsame Entscheidungen. So wurde Fadejews Roman Die junge Garde immer wieder als Wahlstoff aufgenommen, obgleich er in den Schulen nicht mehr gelesen wurde. Für einige Funktionäre wie den Bereichsminister Parr war das Streichen offensichtlich fast so etwas wie ideologischer Verrat. Sie waren mit diesem Buch groß geworden und glaubten tatsächlich, dieses Buch müsse noch Generationen später die Leser tief berühren. Da half auch nicht der Hinweis, daß es sich um eine Fassung handelte, die in manchem politisch überholt sei.

In diesen Fällen gab es dann nur noch die Möglichkeit, diese Bücher durch Oder-Entscheidungen aus der tatsächlichen Schullektüre hinauszudrängen. Sie wurden zwar im Lehrplan noch genannt, aber in der Schulpraxis nicht mehr beachtet.

L.: Die Freiräume für den Lehrer wurden in den 80er Jahren direkt und indirekt größer? Die Lehrpläne für den Literaturunterricht der 80er Jahre wurden in einer westdeutschen Analyse - noch vor der Wende - sinngemäß so bewertet:

Was sich in den Plänen nicht geändert habe: die Bedeutung der Klassiker und die didaktisch entscheidende Stellung der Kategorie des Menschenbildes sowie die etwas erweiterte, aber grundlegende Traditionslinie der Literaturgeschichte: Büchner - Heine - Weerth, die direkt zur sozialistischen Literatur führe.

In dem Lektüre-Kanon lasse sich aber ein Novum konstatieren, das allenfalls im Lehrplan von 1946, aber nicht in der Folgezeit möglich war: die Gliederung in obligatorische, in Wahlpflicht mit Auswahlmöglichkeiten und in frei zu wählende Werke.

Dies allein sei aber nicht das Überraschende. Es bestehe vielmehr darin, daß der Umfang frei zu wählender Stoffe erheblich zugenommen habe. Die starke Berücksichtigung der Kinder- und Jugendliteratur erhält übrigens hohes Lob, da Ähnliches in den Plänen der BRD fehle.

Wenn man bedenkt, daß das Ministerium bei der Auffassung blieb, jedes Werk, das als Auswahlstoff empfohlen wird, müsse auch für jeden Schüler präsent sein, wird die Schwierigkeiten sehen, den Auswahlcharakter noch weiter zu verstärken.

L.: Was heißt „präsent sein muß“?

Das Buch muß in der Schule in einer solchen Anzahl vorhanden sein, daß jeder Schüler bei der unterrichtlichen Behandlung des Werkes e i n Exemplar hat. Mit der Neuaufnahme eines Titels war letztlich eine Auflage von fast 200 000 Exemplaren beschlossen. Festgelegt war damit auch, wenn wir den Reclam Verlag nehmen, der Verzicht auf 6 bis 8 „normale“ Titel. Daher wollten wir auch Werke einbeziehen, ohne daß in jedem Falle eine so umfassende Bereitstellung erfolgte.

L.: Waren im Wissenschaftlichen Beirat Vertreter der Verlage, die das zu bedenken gaben, oder haben Sie diese Schwierigkeit von sich aus mit bedacht?

Es war beides. Wir wußten das, und es war einfach nicht möglich, unter den Gegebenheiten mehr zu fordern.

L.: Es war also auch ein materieller Zwang, der verhinderte, das Entwederoder-Prinzip auszubauen, und statt dessen ein oder zwei Werke festschrieb?

Wenn eine Regelung festlegte, daß für jeden Schüler der 9. Klasse Macbeth zur Verfügung stehen muß, dann ist die geschaffene Wahlmöglichkeit zwischen Macbeth und Romeo und Julia sehr viel. Und dann mußte es eben für Schiller bei Kabale und Liebe bleiben.

Sch.: Gab es denn Abstimmungen mit dem Reclam Verlag oder mit dem Verlag Volk und Wissen?

Das lag in der Verantwortung des Ministeriums. Wir haben überlegt, wie wir das Lesebuch gestalten, um das Wahlangebot zu erweitern.

Sch.: Die Lesebücher waren umfangreicher als der Lehrplan?

Natürlich. Sie waren auch Angebote auszuwählen, zu ergänzen, zu vertiefen, zu entdecken.

Sch.: Wer war für diese Lesebücher zuständig? Auch die Akademie?

Verantwortlich für die Entwicklung von Lesebüchern war der Verlag Volk und Wissen. Er suchte sich die Autoren. Dabei empfahlen sich die Lehrplanautoren, die ja auch jene Texte kannten, an die bei der Erarbeitung der Lehrpläne gedacht worden war und die aus den verschiedensten Gründen nicht aufgenommen werden konnten.

Sch.: Wer hatte die Regie, die Akademie oder der Verlag?

Die Erarbeitung wurde vom Verlag Volk und Wissen geleitet, dem Ministerium oblag es, das Manuskript zu bestätigen.

Neben dem Lesebuch wurden Ergänzungen zum Lehrplan über audiovisuelle Mittel erreicht.

Sch.: Können Sie das etwas näher ausführen?

Jede Schule verfügte in Literatur über einen Bestand an kostenlosen Unterrichtsmitteln. Dafür waren die Fachvertreter des Instituts für Unterrichtsmittel an der APW verantwortlich. Man konnte tatsächlich manches machen. Das Schallplattenangebot zum Beispiel reichte von Gedichten und Balladen, über Dramen und Hörspiele, Hörbilder und Prosa bis zu Dichterlesungen. Ein paar Beispiele: Damit der Lehrplanforderung, ein Hörspiel in den Unterricht einzubeziehen, entsprochen werden kann, standen den Schulen mehrere Hörspiele auf Schallplatten zur Verfügung. Die Auswahl war mit der Hörspielabteilung (Radio DDR) getroffen worden.

Die Versorgung mit audiovisuellen Unterrichtsmitteln wie auch die Unterstützung des Literaturunterrichts durch lehrplanbezogene Funk- und Fernsehsendungen machten sich durchaus bezahlt. Eine Schallplatte, auf der Bobrowski seine Geschichte De homine publico tractatus las, ermöglichte eine Begegnung mit dem Dichterwort, die schwerlich jeder beim Selbstlesen gehabt hätte.

Als wir uns entschieden, Goethes Faust in den Plan für die Klasse 10 aufzunehmen, brauchten wir eine Schallplatte mit einer Neuaufnahme. Nun war der Faust so etwas wie ein Heiligtum. Da redete jeder herein, welche Inszenierung und welche Deutung dem Werk gerecht werde. Wenn wir nach der Meinung einiger Faust-Experten verfahren wären, hätte es Jahre gedauert, bis eine „gültige“ Interpretation entstanden wäre.

Wir haben uns mit den Hallenser Theaterleuten zusammengetan und eine Faust-Schallplatte in kurzer Zeit in Nachtarbeit produziert. Mit Kurt Böwe als Faust und Ursula Werner als Gretchen. Alle waren sehr engagiert. Das war schon spannend, weil wir nicht wußten, wie man höheren Orts reagieren werde. Auch auf die Kosten für eine Doppel-Schallplatte. Als dann bei der Abnahme die Aufnahme eine große Resonanz fand, bedauerten die anwesenden Leiter unsere aus Kostengründen erfolgte Beschränkung auf nur eine Doppel-Schallplatte.

L.: Können Sie noch einmal kurz den Weg schildern, wie ein einzelner Lehrplan entstanden ist, vom Entwurf bis zur Veröffentlichung?

Sch.: In der Regel gingen gesellschaftliche Veränderungen voraus, die dann in Anregungen für Pädagogen umgesetzt werden mußten. Gingen auch von ihnen Initiativen aus?

Allgemein verlief es wie folgt: Das Ministerium gab den Auftrag, einen Lehrplan auszuarbeiten, an die Leitung der APW. Von dort ging er an das zuständige Institut und an die Fachabteilung.

Durch Praxisanalysen wie auch durch Untersuchungen zum Leseverhalten und zu Leseinteressen hatten wir Einblicke, was interessiert die Schüler, was an Werken geht auf einer Klassenstufe und was geht nicht. Deswegen waren wir von der quantitativen zur qualitativen Analyse übergegangen. Was gelesen wurde, das war schon häufiger untersucht worden. Kaum dagegen die Frage, wie Kinder und Jugendliche eigentlich lesen, wie sie bestimmte Werke aufnehmen. Mit diesem Wissen konnten wir Empfehlungen geben, wie ein Plan besser umgesetzt werden kann, aber auch auf notwendige Veränderungen hinweisen bzw. sie begründen. Der Entwurf eines Planes entstand in unserer Fachabteilung. Daran waren auch Fachmethodiker verschiedener Einrichtungen beteiligt.

Sch.: Auch Lehrer?

Selbstverständlich. Mit dem Lehrplan-Entwurf gingen wir in den Wissenschaftlichen Rat „Literatur“. Das war ein relativ großes Gremium mit etwa 50 Leuten. In ihm war jede Ausbildungseinrichtung mit mindestens einem Kollegen vertreten. Dem Rat gehörten ferner an: Vertreter des Verlages Volk und Wissen, der Lehrerweiterbildung, der Akademien. Eingeladen wurden aber auch Vertreter des Kinder- und Jugendbuches, des Theaters, des Funks und last but not least Fachberater und Lehrer.

Sch.: Waren das Kreis-Fachberater?

Ja, und es waren in der Regel anerkannte Lehrer. Sie verstanden ihr Handwerk und waren im allgemeinen auch recht kritisch.

L.: Und dieses Gremium war arbeitsfähig?

Durchaus. Die Mitglieder erhielten unsere Vorlagen zugeschickt, und dann wurde dazu diskutiert. Überzeugende Vorschläge wurden eingearbeitet. Die meisten Einrichtungen gaben eine schriftliche Stellungnahme ab, die bei der Vorlage der überarbeiteten Fassung mitgegeben wurden. Die demokratische Mitbestimmung war eigentlich gut organisiert. Was den Effekt schmälerte war, daß nach oben hin immer stärker mit angezogener Handbremse argumentiert wurde.

Die Verteidigung der Pläne erfolgte in der APW auf Ebene des Instituts, dann auf der Ebene des Präsidiums und schließlich im Ministerium. Auf der Institutsebene beteiligten sich an der Debatte auch Vertreter anderer Fächer. Beim Präsidenten bzw. beim Vizepräsidenten waren anwesend: das Leitungsgremium der Akademie, Vertreter des Ministeriums und Vertreter des Verlages Volk und Wissen sowie Gutachter, die der Präsident bestimmte.

L.: Wer waren diese Gutachter?

Sie kamen aus den verschiedensten Bereichen: ein Psychologe, ein Pädagoge, ein Didaktiker, und immer waren Fachlehrer dabei.

Wenn der Plan die Zustimmung gefunden hatte, wurde er dem Ministerium übergeben. An der Verteidigungsrunde dort nahmen teil: Vertreter der Akademie und des Ministeriums, des Verlages Volk und Wissen sowie der Lehrerausbildung und -weiterbildung. Lehrplanrunden, die anfangs bei Ministerin Margot Honecker stattfanden, waren keineswegs von vornherein entschieden. Es war möglich, Sachargumente vorzutragen und zu diskutieren.

Sch.: Auf welche Phase bezieht sich das?

Meine Erfahrungen beziehen sich auf die Jahre Ende 1960 und Anfang 1970. Später fielen die Entscheidungen auf der Ebene des Bereichsministers in Gremien, in denen die Lehrplanautoren oft nicht mehr anwesend waren.

L.: Warum ist diese Veränderung vorgenommen worden?

Es war eine weitere Spezialisierung im Ministerium im Gange. Es gab sogenannte Bereichsminister, die zugleich Stellvertreter des Ministers waren. Wir hatten mit dem Bereichsminister Parr besonderes Pech. Er war der ideologische Zerberus. Noch im November 1989 drohte er Andersdenkenden, als bereits weitgehende bildungspolitische Veränderungen zur Diskussion standen.

Margot Honecker hat sich zum Schluß zwar den Lehrplan für Deutsche Sprache und Literatur angesehen, aber die Debatte mit Fachleuten in der Ministerdienstbesprechung fand nicht mehr statt. Die Möglichkeit, an Ort und Stelle eine abweichende Meinung vorzutragen, gab es nicht mehr.

L.: An Ort und Stelle heißt mit der Ministerin, die die letzte Entscheidung trifft?

Am obersten Ort. Und ich muß hinzufügen, mit dieser Veränderung war auch die Möglichkeit eingeschränkt, daß sich Fachvertreter der Akademie gegenüber ministeriellen Wertungen und Festlegungen in einer Sachdebatte durchsetzen konnten. Es funktionierte vor allem hierarchisch.

Sch.: Jetzt kommen wir auf einen wichtigen Punkt. Es gab doch offensichtlich verschiedene Interessen: Das Ministerium hatte Interessen und die Akademie.

Das Ministerium hatte den grundsätzlichen Standpunkt, die Bildungspolitik ist gut, die Konzepte haben sich im Prinzip bewährt. In der Akademie wurde das oftmals schon etwas anders gesehen. Aber das war hierarchisch bestimmt. Unser Präsident, der Kandidat des Zentralkomitees der SED war, vertrat meist den Standpunkt des Ministeriums. Jedenfalls nach außen. Je weiter das in der Hierarchie herunterging, desto kritischer wurden hier und da die Meinungen, besonders wenn es um Fachfragen ging. Doch in den Lehrplan-Verteidigungen trat in der Regel Fachliches zugunsten des Ideologischen und Bildungspolitischen zurück. Fortschritte im Fachlichen kosteten große Anstrengung. Man brauchte Bündnispartner. Manchmal hatte man sie, oft hatte man sie nicht.

L.: Wie oft wurde in der Regel ein Lehrplanentwurf überarbeitet?

Nach der Vorlage höchstens zweimal. Dann wurde die endgültige Formulierung im Ministerium festgelegt.

Lehrplanentwicklungen waren geprägt von fachlichen Debatten und ständig begleitet von bildungspolitischen Auseinandersetzungen

Sch.: Man kann also sagen, die Leitungen waren hier (MfV) wie dort (APW) überzeugt, was wir tun ist alles richtig, und wir müssen es nur weiterentwickeln, unter Hervorhebung der ideologischen, der bildungspolitischen Interessen. Und je weiter man in der Hierarchie abwärts geht, um so mehr ist zu beobachten, daß neue wissenschaftliche Erkenntnisse, Bedürfnisse des Umgangs mit den Schülern in die Überlegungen einflossen. Kann man das so sagen?

Kann man so sagen. Es gab auch Vorkommnisse, die den hierarchischen Wirkmechanismus auf etwas groteske Weise demonstrieren. Beim Lehrplan für die Klassen 9/10 (1982) hatte es Streit um Auswahl und erzieherische Aspekte gegeben, und ich war von der Fertigstellung „befreit“ worden. Ein eifriger Vertreter der Ideologie-Linie hatte die Arbeiten zu Ende geführt. Der Plan ging von der Akademie zum Ministerium. Und diesen Plan erhielt in der endgültigen Fassung Hans Koch (AfG). Es wird berichtet, daß er bei Margot Honecker angerufen habe, was denn nun los sei, ob die Konferenz „Literaturunterricht und kommunistische Erziehung“ (1979) gar nicht stattgefunden hätte, er habe einen Plan vor sich, der alles andere als eine Umsetzung dieser Position sei, vielmehr ein Rückfall in die Zeit davor. Dieser Anruf habe dazu geführt, daß Margot Honecker verärgert die umgehende Überarbeitung des Planes verlangte.

Ich wurde damals zum Bereichsminister Parr gerufen, mit dem ich mich überhaupt nicht verstand. Er sprach mich mit dem Vornamen an und meinte, wir müßten da ein paar Probleme lösen. Hans Koch habe interveniert. Aber nicht alles, was Hans Koch da gesagt habe, solle man beachten, denn Hans Koch kenne ja nicht die Schulpraxis, sei Theoretiker, aber in manchem habe er auch recht.

Diesen Widerspruch zwischen Ideologie und Wissenschaft, Forschung und Dienstleistung, Fremdbestimmung und Selbstbestimmung in der Einrichtung habe ich immer wieder erfahren. Er zog sich durch die tagtägliche Arbeit, machte sie auf der einen Seite schwierig, weil schwer voraussehbar, auf der anderen Seite auch spannend, weil mit Räumen für überraschende Möglichkeiten.

Sch.: Wenn ich das richtig verstehe, gab es einen gewissen Spielraum, aber der hatte Grenzen, und das führte z. B. zu Ihrer Ablösung?

Meine Ablösung geht darauf zurück, daß ich - wie bereits gesagt - ein anderes Lesekonzept vertreten habe und nach der Meinung von Gerhart Neuner damit den Anfangsunterricht durcheinandergebracht hätte. Nach der Wende, als ich an der Internationalen Lesestudie (IEA) mitarbeiten konnte, fand ich die Übereinstimmung zwischen meiner Auffassung und den jüngsten Forschungsergebnissen zum Lesevorgang. Schade, daß eine Zusammenarbeit vor der Wende nicht möglich war und ich nicht einmal der Einladung der IRA (International Reading Association) zu einem Kongreß nach West-Berlin folgen durfte, auf der ich als Redner vorgesehen war. Es ist schon eigenartig: Vor der Wende hatte ich die finanziellen Möglichkeiten zur Forschung, aber nicht die auch dazugehörenden Freiheiten im Austausch, nach der Wende war dies nicht mehr das Problem, jetzt aber fehlten die materiellen Voraussetzungen. Mit der Auflösung der APW lösten sich auch die Forschungsgruppen auf, Forschungen brachen von einem Tag zum andern ab.

Aber zurück zum Spielraum in der Forschung. Man konnte manches, aber was mit den Erkenntnissen wurde, war ein anderes. In der Praxis sollte möglichst viel beim alten bleiben.

Sch.: Da war offenbar eine Grenze dieses Spielraumes überschritten?

Ja. Und doch bin ich rückschauend der Ansicht, wenn ich in der Argumentation weniger zurückhaltend gewesen wäre, also auch überzeugender, die Verhandlung wäre anders verlaufen. Dem Rat beizugeben, um anderes nicht zu gefährden, hätte ich nicht folgen sollen.

Sch.: Meinen Sie, wenn Sie hartnäckiger gewesen wären?

Konsequenter. Denn manches fand wenige Jahre später Eingang in den Lese- und Literaturunterricht. Was den Lehrplan für die Klassen 9/10 betrifft, habe ich meine abweichende Meinung erklärt und gebeten, sie zu Protokoll zu nehmen, da ich die getroffenen Festlegungen nicht mittragen könne, weil wir sie - das war meine Überzeugung - in Kürze zurücknehmen müßten.

L.: Der Anruf Hans Kochs im Ministerium ging nur darauf zurück, daß der Plan auf seinen Tisch gekommen war und er dazu ein Gutachten machen mußte?

Es war so, daß zwischen der AfG und unserer Akademie eine engere Zusammenarbeit bestand. Alle Pläne für den Literaturunterricht wurden in der Entstehung und nochmals abschließend im Institut, das Koch leitete, begutachtet. Das Koch-Institut war so etwas wie unser „ideologischer Pate“. Ich muß hier gleich hinzufügen, wir waren in vielem eher Partner.

Ich erinnere mich an eine Aussprache im Ministerium über Kapitel des Buches Literatur und Persönlichkeit. An dieser Aussprache beim stellvertretenden Minister Parr nahmen seitens der Akademie teil Gerhart Neuner, Horst Riechert und ich, seitens der AfG Hans Koch als Herausgeber, Klaus Jarmatz und Werner Jehser als Autoren. Ich hatte in einem Abschnitt Lernen und Kunstgenuß als einen Widerspruch beschrieben, den es produktiv zu machen gelte. Diesen Abschnitt hatte mein Institutsdirektor, ein Philosoph, gelobt. Er fand die Widersprüchlichkeit überzeugend dargestellt. Minister Parr, der die Aussprache leitete, kritisierte heftig gerade diesen Abschnitt und erklärte, daß mit der Aufhebung der antagonistischen Widersprüche in unserer Gesellschaft auch dieser Widerspruch beseitigt worden sei. Alle schauten ernst drein oder zu Boden. Ich habe nach der Meinung meines Direktors falsch reagiert. Er meinte, ich hätte die Einschätzung hinnehmen sollen, so aber hätte ich den stellvertretenden Minister der Unwissenheit bezichtigt. Man muß hinzufügen, daß die fachliche Kompetenz dieses Bereichsministers allgemein angezweifelt wurde. Unmittelbar zu dem umstrittenen Abschnitt äußerte sich in diesem Gespräch lediglich ein Vertreter der AfG. Er hielt dem ideologischen Verriß entgegen, gerade dieser Abschnitt habe ihm gut gefallen.

Wir haben oftmals überlegt, wie bringen wir Vernünftiges am besten an den Mann und an diesem Mann im Ministerium vorbei.

L.: Zum Buch „Literatur und Persönlichkeit“ noch eine weitere Frage. Im Abschnitt zur Kanon-Literatur führt der Autor Horst Hartmann alles auf: Proust, Kafka, Hemingway, Faulkner ... Der gebildete Bürger der DDR müsse dies alles kennen. Im Abschnitt zum Lehrplan wird dann beschrieben, welche Namen und Werke er enthält und welche nicht. Da taucht natürlich manches nicht mehr auf. Inwiefern ging es in den Auseinandersetzungen um konkrete Titel, oder vollzogen sie sich nicht vielmehr auf der Ebene, wie etwas gelesen werden soll?

Beides kann man ja nicht voneinander trennen. Im Ministerium ging es vor allem um Autoren und Werke und um die Schwerpunkte für die unterrichtliche Behandlung. Hemingway ja. Der alte Mann an der Brücke ist eine eindrucksvoll erzählte Episode aus dem Spanischen Bürgerkrieg, und Hemingways Sympathie galt dem spanischen Volk. Kafka nein. Der war belastet durch die Ereignisse um den Prager Frühling, für die er ja nun wirklich nichts konnte. Kafkas Der Kübelreiter stand aber in der Textauswahl für die Klassen 11/12 (Erscheinungsjahr 1980).

Wir sahen im Wie - im Umgang mit Texten - große Möglichkeiten für die literarische Bildung. Kritisches Lesen schärft bekanntlich den Sinn und das Gespür für Qualitätsunterschiede. In ihren Erläuterungen zu den Texten haben Autoren die im Verstehensvorgang liegenden Möglichkeiten reflektiert und die Lehrer ermutigt, Varianten zu probieren und stärker auf die Schüler einzugehen. Deswegen hat es auch gar nicht so sehr belastet, als in der Debatte der Vorwurf fiel, da seien immer noch reformpädagogische Ansichten lebendig.

Sch.: Ich meine, Reste der Reformpädagogik spielen bei Alfred Wellm in „Pause für Wanzka“ (1969) eine ziemliche Rolle, und das war wohl auch einer der Gründe, weshalb das Buch riesiges Aufsehen und Ärger erregte. Das Buch ist noch einmal neu aufgelegt worden. Im Nachwort wird erzählt, daß die Entscheidung über dieses Buch im Politbüro gefallen sei. Ulbricht wollte Honecker eins auswischen und sagte, „man kann doch nicht annehmen, daß auf dem pädagogischen Gebiet alles in Ordnung ist, das kann man bringen“.

Dazu eine Episode. Im Haus des Lehrers fand ein Literaturgespräch mit Alfred Wellm über seinen Wanzka statt. In der Akademie hörte ich von vielen, warum ich denn ausgerechnet Wellm eingeladen hätte und dann noch mit diesem Buch. Man werde kommen und dem Autor einheizen. Das Gespräch fand statt. Viele Lehrer kamen, auch Schriftsteller. Es gab eine lebhafte Diskussion zur Haltung der Lehrer in diesem Buch. Mit großer Zustimmung zur Position des Autors. Die das Buch abgelehnt hatten schwiegen. Hermann Kant forderte die Kritiker auf, sich zu äußern. Die Rezensionen waren ja allgemein nicht so gut ausgefallen, und die in der „Lehrerzeitung“ war schon fast eine Verunglimpfung des Autors. Ich werde nicht vergessen, wie der weißhaarige Sothmann, ein anerkannter Pädagoge - er war viele Jahre Chefredakteur der Zeitschrift „Die neue Schule“ -, erregt aufstand und sagte, er schäme sich für das, was in der „Lehrerzeitung“ zu Wanzka gestanden habe. Auch das ein Beleg für die Widersprüche quer durch.

Lehrpläne, Erläuterungen und Unterrichtshilfen ab 1980 als Ensemble, das den Literaturunterricht von den stringenten Vorgaben allmählich befreite

Sch.: Ausgegangen waren wir von den Erläuterungen. Welchen Charakter hatten sie? Waren es offizielle Materialien der APW, unterstützt vom Ministerium, oder waren sie mehr eine private Sache?

Man muß zwischen Erläuterungen zum Plan und den konkreten methodischen Hilfen unterscheiden. Die Einführung der Lehrpläne für die einzelnen Klassenstufen erfolgte sukzessiv und war von Erläuterungen in der Fachzeitschrift begleitet. Das war eine Festlegung des Ministeriums in Absprache mit der Akademie. Diese Artikel waren eine Auftragsarbeit und mußten vom Fachbereich im Ministerium genehmigt werden.

Dann gab es noch Unterrichtshilfen mit methodischen Vorschlägen. Sie trugen Empfehlungscharakter.

Nach Abschluß der Lehrplanarbeiten legten wir 1988 ein Erläuterungsmaterial vor, in dem die Pläne für den Literaturunterricht in den Klassen 5 bis 10 als Ganzes interpretiert wurden. Darin sind wir stärker auf Zusammenhänge in der Könnensentwicklung und in der Vermittlung von Wissen eingegangen und haben dabei versucht, die Pläne „nach vorn“ zu interpretieren. Wir haben uns überlegt, wie kann man den Fachberatern etwas in die Hand geben, was eine Grundlage für produktive Gespräche sein kann. Es waren - auch daran ist die inzwischen erfolgte Entwicklung ablesbar - Orientierungen und keine verbindlichen Aussagen.

Solche zusammenfassenden Erläuterungen mußten alle Fächer vorlegen. Manche erblickten nie das Licht der Welt.

Sch.: Die Bemerkungen im Lehrplan engten doch meist eher ein. Wie war das bei den Unterrichtshilfen? Wurde darin versucht gegenzusteuern? Wurde mit Beispielen gearbeitet?

In den Unterrichtshilfen vollzog sich mit dem Plan ab 1980 ein Wandel. Die Erfahrungen hatten gezeigt, daß bei bedeutenden Werken immer wieder überraschte, was sich an Bezügen beim einzelnen Leser einstellt und welche Entdeckungen möglich sind. Darüber wurde viel geredet und gestritten.

Das Bemühen galt einer leserbezogenen Werkanalyse. Ausgeführt wurde, was an diesem Werk heute interessant sein könnte und worauf bei der Vermittlung nach den vorliegenden Erfahrungen zu achten wäre, wie Wirkungsmöglichkeiten von Literatur zum Tragen kommen könnten und Literaturverständnis ausgebildet werden kann.

L.: Uns interessieren Streitfälle, an denen Grenzen erkennbar wurden, was geht und was nicht.

Aufschlußreich sind dafür die Pläne für den fakultativen Unterricht in Literatur. Darin sind viele Werke enthalten (das gilt für die Oberstufe wie für die Abiturstufe), die nicht in den allgemeinen Literaturlehrplan aufgenommen werden konnten oder durften, aber mit dem fakultativen gleichsam in eine Erprobung gingen. Und die Fachvertreter im Ministerium stützten diese Öffnung, die ja auch den Bedürfnissen und Interessen der Schüler entsprach. Im Ministerium gab es - auch das ist anzumerken - nicht nur einen gegenüber der Gegenwartskunst höchst mißtrauischen Bereichsminister.

L.: Gab es diese fakultativen Pläne schon immer?

Einige gab es schon vorher. Aber in den 80er Jahren erhöhte sich ihre Anzahl, die Inhalte wurden differenzierter.

Es kamen fakultative Pläne zur Gegenwartsliteratur hinzu, und zwar zur deutschsprachigen Literatur wie zur Weltliteratur, und der Plan zur sowjetischen Literatur mit einem Werkangebot, das durch den Gedanken der Perestroika geprägt war.

L.: Spielten für die Auswahl ästhetische Fragen eine große Rolle? Die Frage der Verständlichkeit?

Ja. Das waren Kriterien für die Auswahl.

Sch.: Gab es ein Papier, das die Auswahlkriterien beschrieb?

In der Fachmethodik (1977) sind die Kriterien der Stoffauswahl abgedruckt. Diesem Abschnitt lag eine Dissertation zugrunde. In der Neufassung dieser Methodik, deren Erscheinen für 1990 geplant war, gab es dazu weiterführende Aussagen. Diese Methodik konnte jedoch nicht mehr abgeschlossen werden.

Sch.: Wer hätte die herausgegeben?

Wie die erste Fachmethodik war auch die zweite eine Publikation der Akademie, für die Ausarbeitung war der Fachbereich verantwortlich. An ihrer Neufassung waren die Vertreter fast aller Ausbildungseinrichtungen beteiligt.

L.: Gab es ab und zu Tests, ob der eine oder andere Autor vielleicht doch im obligatorischen Lehrplan auftauchen könnte?

Sch.: Zum Beispiel Ulrich Plenzdorf oder Günter de Bruyn, Christa Wolf ...

Ja. Die fakultativen Pläne waren so ein Test. In den obligatorischen Plänen gab es nach 1980 für die jüngsten Bücher Christa Wolfs kaum eine Chance, für Plenzdorf genausowenig. Bei den ersten Entwürfen erschien noch der eine oder andere. Sie wurden unterwegs gestrichen.

Sch.: Wer hat gestrichen?

Es gab eine innere Zensur, die funktionierte schon in der Abteilung. Da wurde schon gegen eine Dissertation vorgegangen, in der u. a. auch Christa Wolfs Störfall getestet werden sollte.

Doch es geschah auch das: Christa Wolf kam als Autorin in den fakultativen Plan dadurch hinein, daß zunächst alle Vornamen der Autoren gestrichen wurden. Ich wählte von Christa Wolf den Text Der gelbe Fleck, den in den Genehmigungsgremien, wie zu vermuten war, keiner kannte, und so stand im Entwurf: „Wolf: Der gelbe Fleck oder eine andere Geschichte.“ Kurios an der Geschichte ist, der Plan wurde genehmigt, und es fand sich in der Zustimmung auch noch zu unserer Freude der Vermerk, besonders hervorzuheben sei, daß man Friedrich Wolf mit einem unbekannteren Werk berücksichtigt habe.

Die Geschichte machte bald darauf die Runde. Ich führe sie an, weil sie zeigt, daß in einer Gesellschaft, in der es mit hierarchischer Strenge zuging, gerade deswegen auch manches möglich war. Dort, wo die Regulatoren freier funktionieren, wäre es wahrscheinlich unterwegs entdeckt worden.

Was hierbei nicht zu übersehen ist: Auch wir stellten in dieser Hierarchie für andere eine bestimmte Autorität dar. Wenn man etwas sagte, wurde das oft als „richtungweisend“ aufgegriffen. Man konnte so Spielräume nutzen und hatte darin auch Verbündete.

L.: Wie groß war der Spielraum für die Lehrer, Vorschläge, die im fakultativen Plan standen, möglicherweise auch in den obligatorischen Unterricht hineinzunehmen?

In jedem Plan gab es ein Stoffgebiet, das frei war für aktuelle Kunsterlebnisse, also Stunden zur freien Verfügung.

Sch.: Wie war in der letzten Phase das Verhältnis zwischen Fakultativem und Obligatorischem?

Wie bereits gesagt, verglichen mit den früheren viel günstiger. Aber nach meiner Auffassung noch nicht weitgehend genug. Das hatte ja auch zum Streit beim Plan für die Klassen 9/10 geführt. Ich war der Ansicht, die Wahlmöglichkeiten müßten in den oberen Klassen zunehmen. Das Ministerium vertrat einen gegensätzlichen Standpunkt.

Sch.: Ein Drittel fakultativ? Oder noch weniger?

Nein, mehr. Nehmen wir als Beispiel die Klasse 8.

Hier sind die Werke fast durchgehend wahlweiseobligatorisch. Es finden sich drei wiederkehrende Muster: Auswahl bei einem Stoffgebiet wie „Lyrik und Prosa aus der Zeit der Romantik (Brentano, Eichendorff, E. T. A. Hoffmann u. a. in Auswahl)“, bei einem Autor (Tschechow: Kurzgeschichten/Auswahl), bei Werken eines Genres (Keller: Kleider machen Leute oder Storm: Der Schimmelreiter).

In welche Richtung Fakultatives gedacht werden kann, dafür gaben wir mit dem Buch Literatur im Überblick vor allem für die Oberstufe Anregungen.

L.: Ist diese kleine Literaturgeschichte überhaupt noch erschienen?

Ihr Redaktionsschluß war der 25. April 1988. Sie lag dann ein Jahr im Verlag Volk und Wissen, bevor sie 1989 erschien. Der Abschnitt zur DDR-Literatur war bald darauf schon Geschichte. Er schloß übrigens mit dem Hinweis auf Volker Brauns Stück Großer Frieden:
„Der Bauer Gau Dsu zieht in den Kampf, um den ,großen Frieden‘ und die soziale Gleichheit zu gewinnen. Doch er scheitert. Nach dem Sturz des alten Kaisers tritt er an dessen Stelle, und die Ungleichheit bleibt bestehen.“ Das Buch ist nach der Wende im „Westen“ mit großem Verständnis rezensiert und seine Konzeption - es war für die Oberstufe (ab 1990: Sekundarstufe I) gedacht - als anregend gewertet worden. Im Überblick gibt es - das muß ich sofort einschränkend nennen- schmerzliche Lücken (Sarah Kirsch, Kunert, Biermann) und manche einseitige Wertungen, die durch politische Festlegungen bestimmt waren. Als anregend wurden genannt das Angebot an Werken und Autoren der Weltliteratur, die historische Sicht auf Werke und Autoren und die Orientierung auf Literatur als einem gesellschaftlichen Vorgang.

Lektüre-Kanon oder Literaturlehrgang - Systematik und Offenheit als wiederkehrendes Problem

Sch.: Kommen wir zu Problemen des Kanons. Welches Literaturbild, welche Vorstellungen von der Funktion und Wirkungsweise der Literatur waren herrschend im pädagogischen Bereich? Welche Konflikte gab es auf diesem Gebiet? In welcher Beziehung standen sie zu Vorstellungen von der Rolle des Literaturunterrichts?

Es gab keine einheitliche Vorstellung, weder vom Wesen der Literatur noch von der Funktion der Literatur in der Gesellschaft, noch von der Rolle des Literaturunterrichts. Es gab zwar Übereinstimmung über die „Polyfunktionalität“ der Literatur, doch schon über Wirkungen des Literaturunterrichts gingen die Meinungen auseinander: Soll im Literaturunterricht durch Literatur oder zur Literatur erzogen werden? Das war eine länger umstrittene Frage. Und wenn beide Aspekte wichtig seien, welchem komme dann die Priorität zu?

Im allgemeinen neigte man zunächst dazu, Erziehung durch Literatur zur Literatur zu sagen. Dieser Streit erledigte sich dann, weil die Praxis zeigte, literarische Bildung war kaum auf eine so dünne Schnur zu spannen. Wichtig war vielmehr, den Blick dafür zu schärfen, daß Weltliteratur und -kunst Zugänge zu Lebensfragen, zur Frage nach dem Sinn des Lebens öffnen, nach dem, was ich bin, nach dem Woher und Wohin. Daß Literatur ein Wirkpotential birgt, das für den einzelnen in ganz verschiedenen Richtungen bedeutsam werden kann als Hilfe bei der Wertefindung, der Identitätssuche, der Sensibilisierung und -wie Brecht es formulierte - auch Impulse geben kann, das Leben zu meistern.

Künstlerisch-ästhetischer Unterricht - und dazu gehört auch der Literaturunterricht- wurde als unersetzbar für die Persönlichkeitsbildung erkannt. Daher sollte jedem der Zugang zur Literatur in ihrer Vielgestaltigkeit ermöglicht werden. Wie er sich dann entscheidet und wie er das Angebot schließlich nutzt, ist seine Sache. Uns lag daran, daß aus einem vorhandenen künstlerischen Bedürfnis, bei Kindern nachweisbar, möglichst dauerhafte und auch wertvolle künstlerische Interessen werden. Zwei Momente sind von Anfang an in der Funktionsbestimmung literarischer Bildung enthalten gewesen, die sich schon bei Horaz finden: prodesse et delectare. Freilich unterschiedlich akzentuiert, das Vergnügen hat es in der Schule im Umgang mit Kunst seit je schwer.

In den Lehrplänen wurden die fachübergreifenden Beiträge zur Erziehung und Bildung immer zuerst genannt, die fachspezifischen traten lange Zeit im Vergleich dazu zurück.

Sch.: In der Vorstellung Erziehung durch Literatur liegt wahrscheinlich auch z. T. die Schärfe der Diskussionen um Autoren und Werke begründet. Vorstellungen wie Erziehung durch Li teratur zu einer bestimmten Weltauffassung, zu einer bestimmten ideologischen Grundhaltung, zu einer bestimmten Verhaltensweise instrumentalisieren Literatur, nehmen sie als Text, der den allgemeinen Vorstellungen entsprechen soll.

L.: Würden Sie dem zustimmen, daß ein instrumentalisierender Umgang mit Literatur auch durch Kategorien gefördert wird, die bereitgestellt werden, um sich der Literatur zu nähern? Ich meine ganz konkret die Kategorie des Menschenbildes. Stellte diese Kategorie für Sie einen Kompromiß dar, wo sich unterschiedliche Auffassungen trafen, mit der man sowohl das eine wie auch das andere machen konnte? Oder war es eine Kategorie, die stärker der instrumentalisierten Richtung zugeneigt war?

Es trifft zu, daß mit dieser Kategorie idealtypisch operiert wurde. Sie ist tatsächlich in vielem zu einem Instrument geworden. Doch auch das hatte zwei Seiten. Affirmatives und Kritisches sind schwerlich auseinanderzuhalten.

Es stimmt: Man reduzierte oftmals gern und rasch auf eindeutige ideologische Wertungen; gesellschaftskritische Werke lassen sich aber auf die Dauer nicht so vereinnahmen. Widersprüchlichkeit im Kunstwerk bleibt wirksam - und das erst recht, wenn Historizität und Aktualität entdeckt werden.

Heinrich Manns Roman Der Untertan zum Beispiel assoziierte Gegenwartserfahrungen, und aus dem historischen Buch wurde im Unterricht ein sehr aktuelles. Werke, in denen Ambivalenz vorliegt oder die in scheinbarer Negation verharren, wurden anfangs an die Peripherie gedrängt. Erst in den Diskussionen zum letzten Lehrplan setzte sich durch, daß diese Werke für die Herausbildung eines produktiven Literaturverhältnisses viel mehr leisten können als jene, die auf einem glatten Illustrationsmechanismus beruhen.

Sch.: Nun läßt sich beobachten, daß jeder sehr persönliche Erfahrungen gemacht hat, es sehr oft krisenhafte Vorgänge bei jungen Menschen gab, wenn sie die Schule verlassen hatten und sich plötzlich mit dem Alltag dieses Sozialismus konfrontiert sahen. Diese Krisen waren sehr oft Krisen, die sich aus dem Zusammenstoß der tatsächlichen Gegebenheiten mit den Idealen ergaben, die man in der Schule vermittelt bekommen hatte. Da sollte man tapfer sein, mutig, aufrichtig, sich durchsetzen usw., und in der Realität soll man sich anpassen, den Mund halten usw. Hat das eine Rolle gespielt in den pädagogischen Diskussionen, in der Auswahl der Werke, um zu verhindern, daß solche Krisen überhaupt auftreten?

Das hat eine Rolle gespielt. Die Schule ist ja auch ein Stück dieses Alltags, und die Familien leben nicht in einem luftleeren Raum. Aufklärerische Worte Lessings oder Brechts werden ja nicht einfach vergessen, wenn man seine Schritte woanders hinlenkt.

Sch.: Aber insgeheim haben vielleicht einige, die bestimmte Einwände gegen bestimmte Werke hatten, an solche Probleme gedacht.

In den Streitgesprächen über die Aufnahme von Werken wie Salingers Der Fänger im Roggen, Christa Wolfs Störfall, Tendrjakows Die Nacht nach der Abschlußfeier, Pludras Insel der Schwäne zeigten sich beide Haltungen. Bei Salinger gab es im Ministerium von einigen strikte Ablehnung, es gab auch eine „klügere“ Version. Hier vertreten von der Ministerin. Danach galt so ein Buch in Inhalt und Sprache als durchaus gelungen und würde zu Recht von vielen gelesen. Gerade deshalb aber brauche man es ja nicht aufzunehmen.

In den 80er Jahren sprachen sich immer mehr Fachleute dafür aus, solche Werke in den Lehrplan aufzunehmen, die Probleme darstellen, aber keine einfachen Lösungswege vorgeben, den Leser vielmehr darüber entscheiden lassen. Mit der Aufnahme von Aitmatows Dshamila war das schon sehr früh geschehen wie auch mit Gorkis Anfissa. Beide Werke waren ja in den Lehrplangremien umstritten. Gegen Dshamila sprachen sich zunächst Mitarbeiter im Ministerium aus. Und sie schienen recht zu haben, als Eingaben von Eltern die Herausnahme dieses Werkes aus dem Lehrplan forderten, mit der Begründung, das Bild des Sowjetmenschen würde hier verzerrt. Die Darstellung sei eine Beleidigung der sowjetischen Frau.

Sch.: Eingaben von Eltern? Tabus nicht nur der Herrschenden, sondern auch der Leute. Gab es noch andere markante Tabus?

Ja. Was die Religion betrifft. Es gab wiederholt Einwände gegen die Aufnahme von Heinrich Heines Die schlesischen Weber. Heines Gedicht stelle eine Beleidigung der Kirche dar. Dieses Gedicht zählte zu denen, die auswendig gelernt werden sollten, par coeur, wie der Franzose sagt. Das wurde modifiziert. Das Gedicht blieb im Lehrplan, der im Grunde ahistorischen einseitigen Lesart wurde insofern Rechnung getragen, als religiös überzeugte Schüler jene Verse nicht auswendig lernen mußten, die für sie bzw. ihre Eltern anstößig waren.

Sch.: Haben Sie bei der Lehrplangestaltung solche Tabus bedacht, sie nicht zu berühren, oder umgekehrt, vorsichtig an deren Abbau zu arbeiten?

Ja, eher letzteres, wenn ich beispielsweise an Brecht denke. Die Buckower Elegien berühren eine ganze Reihe von Fragen, zu denen nicht nur die Schüler unterschiedliche Meinungen hatten, sondern auch Eltern. Anders war es, wenn Diskussionen bereits geführt worden waren, wie das bei Strittmatters Ole Bienkopp der Fall war. Das war schon historisch und doch auch wieder aktuell.

Unsicherheiten gegenüber dem Neuen nährte die Haltung bei manchen, Bewährtes zu bevorzugen und sich nicht auf ein Feld zu begeben, das man schwer überschauen konnte. Alle neu vorgeschlagenen Werke wurden immer recht kritisch beäugt. Aitmatows Erzählung Dshamila, die schon in den Plan 1968 aufgenommen wurde, konnte ich mit der hohen Wertschätzung Aragons stützen, der Dshamila eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur nannte.

Sch.: Es gibt also einen Komplex von literarischen Werken, die schon längere Zeit in der pädagogischen Arbeit waren und denen man deshalb vertraute. Jede Erneuerung war ein auffälliges Ereignis?

Das kann man so sagen, vor allem, wenn das Werk zu den obligatorischen Stoffen zählen sollte. Stand es unter der Rubrik des Zusätzlichen, war es etwas anderes. Wichtig war daher, im Plan auszuweisen, daß in einer Klasse auch über Werke gesprochen werden soll, die aus aktuellem Anlaß die Schüler bewegten.

Sch.: Also, es gab eine Art Lektüre-Kanon?

Ja, den gibt es damals wie heute, wenn auch in modifizierter Gestalt. Die Diskussionen über einen Kanon wurden international in den zurückliegenden Jahrzehnten immer wieder geführt. Wie man sich auch entschied, ob man einen Kanon verwarf, ihn verbesserte oder durch allgemeinere Aussagen ersetzte, es gab über kurz oder lang immer wieder konkrete Empfehlungen für die Lektüre. Und zu beobachten war, eine Reihe von Autoren und Werken aus dem literarischen Erbe wiederholten sich in vielen Plänen. So auch in den damaligen Literaturlehrplänen.

Sch.: Und die haben sich auch über die vier Phasen gehalten?

Ja. Autoren wie Walther von der Vogelweide, Hans Sachs, Shakespeare, Grimmelshausen, Lessing, Schiller, Goethe, Heine, Storm, Keller, Fontane, Hauptmann, Thomas Mann, Brecht. Bei manchen Autoren änderten sich die Werke. So bei Heine, bei Storm, bei Keller. Und bei manchen Werken änderten sich die Schwerpunkte, der Umgang. Andere Kontexte wurden genannt: Epochencharakteristika oder thematische Linien oder stoff- und motivgeschichtliche Beziehungen.

Sch.: Wie die Faust-Linie, die sich durch verschiedene Klassenstufen zog.

Der Gedanke, den Faust-Stoff im Lehrgang zu verankern, war schon früh aktuell gewesen. Wollte man alle Schüler mit Goethes Faust bekannt machen, der ja lange Zeit als Privileg des Gymnasiums galt, war eine stoffliche wie auch eine motivgeschichtliche Linie sinnvoll und verständnisfördernd.

Die stoffliche Linie führte von der Faust-Sage über das Volksbuch vom Doktor Faust zu Goethes Faust. Das Motiv des Teufelsbündners von den Teufelsmärchen über Wilhelm Hauffs Das kalte Herz und vom Jugendbuch Timm Thaler oder Das verlorene Lachen von James Krüss bis zu Goethes Dichtung.

Sch.: Es ist ein Motiv-Komplex, der vertiefend immer wieder aufgenommen wurde.

Er ermöglichte in der Abiturstufe einen Bogen zu spannen bis hin zu Thomas Manns Faustus-Roman und Bulgakows Der Meister und Margarita.

Tradition wird so exemplarisch erfahren und verfügbar. Literaturverständnis kann als Prozeß erlebt und vom Schüler mitgestaltet werden.

Sch.: Wie war das Verhältnis zwischen deutscher klassischer Literatur, Weltliteratur bis hin zur griechischen Mythologie und der Bibel?

Von der deutschen Literatur wurden im Laufe der Jahre immer häufiger Verbindungen zur Weltliteratur gesucht; der Anteil des Weltliterarischen in den Lehrplänen erhöhte sich. Tendenzen in der Gegenwartsliteratur sind schwerlich zu erkennen, wenn ich nur die deutschsprachige Literatur im Blickfeld habe. Der große Einfluß Hemingways zum Beispiel oder die starke Wirkung der Dichtung Nerudas oder der Werke Aitmatows sprachen dafür, diese Dichter in die Lehrpläne bzw. in die Lesebücher aufzunehmen.

Sch.: Trotzdem hieß es aber weiter Deutschunterricht?

Das Fach hieß Deutsche Sprache und Literatur. Auf einer Sitzung in der Akademie der Künste in der Sektion Sprache und Dichtung sprach ich über den Literaturlehrplan. Einige Mitglieder vertraten sehr kategorisch den Standpunkt, wir sollten uns im Fach auf die deutsche Literatur beschränken und die andere Literatur dem Fremdsprachenunterricht überlassen. Auch Stephan Hermlin, ein guter Kenner der Weltliteratur, äußerte diese Meinung.

L.: Sicherlich auch unter dem Aspekt, daß die westdeutsche Literatur kaum vertreten war.

Ich weiß nicht, ob das dahinterstand. Wenn ich an Hermlins Lesebuch denke, hatte er wohl mehr deutschsprachige Dichter der Vergangenheit im Sinn. Doch Sie berühren eine Schwäche unserer Pläne, die auch noch in den 80er Jahren bestand. Die Schwierigkeit, Heinrich Böll aufzunehmen, war schon groß genug; aber Günter Grass aufzunehmen war nicht möglich. Texte von Frisch, Dürrenmatt, Walser, Bachmann, Peter Weiss wiederum waren möglich. Was sehr geschmerzt hat war, daß wir auf Lyriker wie Sarah Kirsch, Günter Kunert u.a. verzichten mußten.

Sch.: Das lag an ihrem Weggang aus der DDR? Danach war alles zu Ende?

Nur noch über Anthologien, die einen besonderen Charakter trugen, war es möglich, diese Autoren einzubeziehen. Im Verlag Volk und Wissen war eine Anthologie erschienen, die an allen Schulen existierte. Sie folgte dem chronologischen Prinzip und enthielt auch Gedichte von Huchel, Kunert und Sarah Kirsch.

Gleiches gilt auch für Schallplatten mit Gedichten, Songs und Lesungen. Auf einer Schallplatte war die urkomische Geschichte von Soschtschenko Die Kuh im Propeller zu hören, vorgetragen von Manfred Krug. Die Schallplatte wurde nach dem Weggang Krugs zwar nicht eingezogen, in der Nachauflage der Schallplatte fehlte jedoch dieser Text.

Doch das war auch eine Frage der Tantiemen. Dieses Problem machte zum Beispiel die Übernahme einiger international erfolgreicher Kinderbücher als Klassensatz unmöglich.

Sch.: Der „Goldene Fond“ war dann, soweit man sich der Gegenwart näherte, ein sehr variables Gebilde, in das ununterbrochen eingegriffen wurde?

Ich operiere mit dem Begriff „Goldener Fond“ nicht. Für die Gegenwartsliteratur ist er sowieso problematisch.

Sch.: Aber schließlich wurde doch im Lehrplan ein Stoffplan festgeschrieben.

Der Stoffplan umfaßt ja mehr als Werke. Biographisches gehört dazu, Literaturkundliches, überhaupt die verschiedensten literarischen Zusammenhänge, auch kulturelle, und auch Verfahren und Methoden im Umgang mit Literatur. Er kann nicht einfach auf Norm hin gesehen werden, er hat auch mit einer flexiblen, lebendigen literarischen Bildung zu tun.

Selbst dort, wo der Stoffplan fakultative Elemente auf der Werkebene hat, wechseln die Blickpunkte. Bei den großen europäischen Erzählern des 19. Jahrhunderts gab es die Wahl zwi schen Maupassant und Puschkin. Bei Shakespeare nannte der Plan Dramen wie Romeo und Julia oder Macbeth, räumte auch die Möglichkeit ein, aus aktuellem Anlaß ein anderes Drama des großen Briten zu wählen.

Und für einen Stoffbereich wie „Weltliteratur der Gegenwart“ waren Autoren wie Werke fakultativ.

Liberalisierung ist ein Problem der Stoffauswahl und des methodischen Vorgehens

Sch.: Also, man kann sagen, es hat insgesamt eine Liberalisierung der Kanon-Idee stattgefunden. Zuerst war es wirklich ein Werk-Kanon und später eher ein Kultur-Kanon von Richtungen?

In den 50er und 60er Jahren gab es in der Tat einen sehr normativen Kanon, einen systematischen Literaturlehrgang, der ein relativ geschlossenes System war.

In den 80er Jahren wurde ein Lehrgang konzipiert, dem eine flexible Vorstellung zugrunde lag, wie Literaturverständnis und ein kreativer Umgang mit Literatur ausgebildet werden könnten. Eine in vielem realistische Vorstellung von literarischer Allgemeinbildung trat an die Stelle eines utopischen Konzepts.

Sch.: Aufbereitet in einem Gesamtkurs?

In einem Kurs, der systematisch und offen sein wollte, der aus dem Erbe und der Gegenwart auswählte, aus der klassischen und der gängigen Literatur, aus Formen, die dem Wort in unterschiedlicher Weise verpflichtet waren, und der selbst zur Auswahl aufforderte.

L.: Kann man sich vorstellen, daß es ein gewisses Aushandeln gegeben hat? Es ist ja ein Unterschied, ob ich von Puschkin einen Roman oder eine kleine Erzählung behandle. Welche Vorstellungen sich bei den Schülern über einen Autor bilden, ist doch sehr abhängig davon, aus welcher Gattung das Beispiel gewählt ist.

Das kommt auf den Kontext an. Will man Puschkin vorstellen, dann würde ich Ihnen recht geben. Wollen Sie Beispiele für Erzählprosa im Europa des 19. Jahrhunderts vorstellen, sähe das etwas anders aus. Ich würde Ihnen aber sofort zustimmen, wenn Sie Brecht nennen. Brecht hatte im Literaturlehrgang einen festen Platz, der Lyriker, der Dramatiker, der Meister der kleinen Prosaform.

Wenn ich dann Phasen seiner Entwicklung ausklammere, seinen Werdegang verkürze, kann ein einseitiges Bild des Dichters gezeichnet werden. Das war übrigens Anlaß, warum in der Abiturstufe im Komplex Brechts Lyrik die Hauspostille und die Ballade von den Abenteurern wie auch die Buckower Elegien aufgenommen wurden.

Sch.: Es beinhaltet ja eine gewisse Schwierigkeit. Wenn man immer diese drei großen Gattungen bewegen will, wird man immer auch Gedichte und Stücke den Schülern anbieten, aber die tatsächliche Lektüre sind doch hauptsächlich Romane gewesen.

Sagen wir genauer, die Prosa. Doch der Einwand übersieht, daß schöpferische Tätigkeiten wie Sprechen, szenisches Gestalten und Schreiben die beiden anderen, von Ihnen genannten Gattungen brauchen. In den oberen Klassen war übrigens der Gattungsaspekt in der historischen Sicht aufgehoben. Da ging es mehr um Richtungen und Strömungen in der Literatur. Und darum, Autoren und Thematisches miteinander, Literatur aus verschiedenen Zeiten miteinander in Beziehung zu setzen, zu vergleichen.

Sch.: Gab es Diskussionen über die sogenannten langen Traditionen wie die griechische Mythologie oder die Bibel?

Was die griechische Mythologie betrifft, ist sie durch die Nach- und Neuerzählungen der Sagen immer ganz gut repräsentiert gewesen. Da hatten wir etwas, worauf wir zurückgreifen konnten. Von Schwab bis Fühmann. Die Neuerzählungen von Sagen und Mythen hatten ihren festen Platz.

Sch.: Sind auch die Parzival-Bearbeitungen in den Unterricht einbezogen worden?

In den Unterrichtshilfen wurde auch darauf orientiert.

Sch.: Das ist interessant, war mir nicht klar.

Internationale Vergleiche zeigen, daß Märchen und Sagen der Weltliteratur in den Literaturlehrplänen der DDR überdurchschnittlich vertreten waren. Mit der Bibel sah das anders aus. Die Bibel haben wir zwar in den Nachfolgematerialien erwähnt, aber da gab es schon aufmerksame Kritiker. In der erwähnten Literaturgeschichte Literatur im Überblick (1989) ist zum erstenmal in einem Kapitel mit dem Motto „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Märchen Mythen Sagen“ auch ein Abschnitt „Die Geschichten der Bibel“ ausgewiesen. Das ist eine Neuheit gewesen und hat einige Debatten gekostet.

Sch.: Weil man Angst hatte, es würde religiöses Bewußtsein reproduzieren?

Ja. Wir haben die Erzählungen der Bibel als Geschichten vorgestellt, die eine unerschöpfliche Quelle für Kunst und Literatur darstellen und schon in wesentlichen Motiven im sumerischbabylonischen Bereich anzutreffen sind.

Sch.: Aber es ging nicht so weit, daß ein Evangelium gelesen wurde oder eines der Moses-Bücher?

Nein. Der Lehrer konnte es aber machen.

L.: Aber nicht, wenn der Fachberater kam.

Da haben Sie sicher recht. Aber das gilt kaum mehr für die 80er Jahre. Als ich Lehrer am Grauen Kloster war (Ende der 50er Jahre), gab es wegen der unterrichtlichen Hinweise auf die Bibel im Unterricht noch „Sondersitzungen“.

Sch.: Aber es war doch eine Schule mit religiöser Tradition.

Im Unterricht wurde auch auf die Bibel immer wieder Bezug genommen. Einzelne Schüler brachten von sich aus solche Bezüge. Sie sind im Literaturunterricht so vielfältig, und man kann sie gar nicht ausklammern. Bei Lessing zum Beispiel oder bei Heine und auch bei Brecht. Aber es gab da lange Zeit Ärger, wenn es zu oft und zu deutlich gesagt wurde. Aber später war das doch anders, zumal es inzwischen auch Nachschlagewerke zur Bibel für Kinder gab. Im Kunstunterricht war die Interpretation vieler Meisterwerke ohnehin gar nicht möglich ohne Bibelwissen.

L.: Sie haben gesagt, Sie sind ein Verfechter des Lektüre-Kanons. Ich nehme noch einmal Ihre Äußerung zu der Lesefähigkeit auf. Sehen Sie da einen Zusammenhang, oder ist der nicht so unmittelbar zu denken?

Ich glaube, daß kein Lehrer umhinkann, ohne eine Vorstellung von so etwas wie einem Lese-Kanon Lesen auszubilden.

Ich bin Verfechter eines flexiblen Lektüre-Kanons, an dem gerade unter dem Blickwinkel der Lesefähigkeit auch die Schüler mitwirken, der also im Bereich der Gegenwartsliteratur die Leseinteressen der Schüler aufgreift.

Oder etwas anders gesagt: Die kontinuierliche Ausbildung des Lesens ist ohne eine Vorstellung, welche Texte auf einer bestimmten Stufe Schüler verstehen können, welche Texte sie selbständig lesen und welche ich als selbständige Lektüre fordern kann, welche die oberste Grenze bilden, schwerlich möglich.

Ich halte nichts davon zu sagen, man dürfe nur solche Werke aufnehmen, die jeder Schüler lesen kann und will. Das ist nach meiner Erfahrung nicht der Weg, um den Zugang zur Literatur in ihrer thematischen und formalen Vielfalt für viele zu öffnen.

Sch.: Also, irgendeine Auswahl muß er treffen?

Ja. Es geht gar nicht anders. Und es existiert ja auch in der Gesellschaft so etwas wie ein Literatur-Kanon.

Die Kanon-Frage ist ein gesellschaftliches und literaturpädagogisches Problem und nach wie vor aktuell

Sch.: Sie machen einen Unterschied zwischen Lektüre-Kanon als eine Schulangelegenheit und dem Literatur-Kanon der Gesellschaft?

Ja. Beides steht in einer Wechselbeziehung. Der Einfluß des Literatur-Kanons auf den Lektüre-Kanon ist unbestritten.

Aber der Lektüre-Kanon der Schule kann manchmal auch Veränderungen im Literatur-Kanon der Gesellschaft nach sich ziehen.

In meiner Schulzeit gehörte Heine weder zum Lektüre-Kanon noch zum Literatur-Kanon. 1946 änderte sich das.

In der DDR gehörte Heine zum Lektüre-Kanon, in der BRD dauerte es lange, bis es soweit war. Da war er schon im Literatur-Kanon der Gesellschaft präsent.

Sch.: Zu diesem Problem ein weiterer Gedanke. In der DDR erschienen jährlich etwa 8 000 Titel, in der BRD jährlich 80 000 bei etwa gleicher Bücherzahl. Wenn man so verfährt, hat man eine Vorstellung, das Angebot auf einen Kernbereich einzuschränken. Denn um so mehr Titel, um so mehr Meinungen. Vor allem dann, wenn Literatur beliebter Diskussionsgegenstand ist. Dies war in der BRD eher der Ausnahmefall. Das hat mit der verringerten Rolle der Literatur in der Gesellschaft zu tun. Und doch braucht eine Gemeinschaft eine bestimmte gemeinsame Ausrüstung. Es müssen ja nicht alle die gleiche Meinung haben, aber es muß ein bestimmter Kenntnisstand vorhanden sein.

Für die nähere Bestimmung der literaturästhetischen Bildung und Erziehung ist dies m. E. wesentlich. Der Literatur-Kanon der Gesellschaft begegnet uns in Gestalt des Literaturangebots in der Gesellschaft, in den Formen der Literaturvermittlung und in den Formen der Literaturkritik. Es besteht da ein enger Zusammenhang, aber keine Identität.

An diesem Punkt wird auch der Unterschied verständlich, wenn ich literaturästhetische Bildung und Erziehung nicht auf den Literaturunterricht begrenze, sondern als einen Vorgang verstehe, an dem viele Kräfte und Einrichtungen in der Gesellschaft mitwirken und dessen Kernstück der Literaturunterricht in der Schule ist.

So steht es sinngemäß in der Methodik des Literaturunterrichts (1977). Das verweist auf Wechselwirkungen und verknüpft den Literaturunterricht mit der kulturellen Praxis.

In der Schule der DDR wurde auf Veränderungen im Literatur-Kanon der Gesellschaft in bestimmten Phasen unmittelbar reagiert, in anderen Phasen wurde gesagt, laßt mal, wir sind die Schule, und das läuft nach anderen Prinzipien ab. Bei einer Liberalisierung hieß es (Ende der 70er Jahre), nun nehmt nicht gleich alles auf.

L.: Allgemeine Liberalisierung führte nicht automatisch zur Liberalisierung des Kanons?

So ist es. Das ist eine der Erfahrungen. Aber auch die andere Seite ist richtig, der Wunsch nach Liberalisierung wurde durch den Lektüre-Kanon geweckt und verstärkt.

Sch.: Insgesamt war eine Art von Entkanonisierung zu beobachten? Durch den Verzicht auf die Festlegung bestimmter Stoffe?

Der strenge Kanon, der alles festschreibt, konnte sich auf Dauer nicht halten. Aber auch das Gegenteil kann sich nicht halten.

Daß bedeutende Werke der Weltliteratur zu einem bestimmten Zeitpunkt auch im Literaturunterricht Beachtung finden sollten, ist für mich eine kulturelle Notwendigkeit. Auf diese Begegnungen klug vorzubereiten, darin sehe ich eine Aufgabe des Literaturlehrers.

Sch.: Welche Rolle hat die westdeutsche Diskussion über den Kanon gespielt? In den 60er Jahren dachten Leute über Kanon-Probleme nach und verwarfen die Kanon-Idee. In der Bundesrepublik war und ist der Kanon auch heute noch umstritten. Alle möglichen Argumente waren und sind zu hören: Kanon als fortschrittsfeindlich, Abwehr moderner Werke, Flucht vor der Wirklichkeit, Kanon als emanzipatorisch, Entdeckung und Belebung demokratischer Traditionen, als Medium der Demokratisierung usw.

Die hessischen Rahmenrichtlinien (1973) hatten zunächst viele Befürworter, als sie die literarischen Werke verabschiedeten. Zehn Jahre später waren die Werke und Autoren wieder da. Ob Lektüreplan oder Lektürehinweise - ohne Ziele und Stoffe geht es nun mal nicht, da mag man nun mit Wertungen, gleich welcher Art, um sich werfen.

Wird der Begriff Kanon in seinem ursprünglichen reglementierenden Sinn gebraucht, dann ist er sicher anachronistisch. Nicht aber, wenn damit ein Literaturplan gemeint ist, der eine abwägende Orientierung für einen kreativen Umgang mit Literatur gibt.

Ich halte einen solchen Literaturplan für notwendig. Sonst greift Uferlosigkeit und Subjektivismus Platz. Dann werden Entscheidungen getroffen, die wenig mit dem Schüler zu tun haben, auch wenn sie so tun.

Keiner kann dem Literaturlehrer abnehmen, sich Gedanken über Ergänzungen zu machen und dabei zu bedenken, was für ein Literatur-Kanon in einer Gesellschaft mit einer modernen Reproduktionsindustrie, die eine Informations- und Bilderflut hervorbringt, lebendig ist und wie Schüler als Subjekte daran verändernd teilhaben.

Sch.: Nun habe ich in mehreren Schriften von westdeutschen Kollegen gelesen, daß in der BRD eine Liberalisierung stattgefunden hat, aber in der DDR an Vorstellungen von einem strikten Kanon immer festgehalten wurde, weil die Schüler immer als ideologische Objekte und nicht als Subjekte ihrer eigenen Kanon-Bildung behandelt wurden. Nach allem, was wir bis jetzt gehört haben, ist das einfach eine ideologische Vorstellung von der DDR oder?

Es ist dann eine ideologische Vorstellung, wenn man die in den 80er Jahren erfolgten Veränderungen der Literaturlehrpläne nicht mehr berücksichtigt. Auf diesen Wandel hat der schärfste Kritiker des Planes von 1966, Motzka-Valeton, 1988 hingewiesen und angemerkt, man greife damit auf den großartigen Plan von 1946 zurück.

Wenn ich natürlich ein Gegner jeglichen Kanons bin, dann werde ich auch den Lektüre-Kanon aus den 80er Jahren prinzipiell ablehnen, selbst wenn der Spielraum für die Schüler noch erweitert worden wäre. Was übrigens in der Absicht einer keineswegs kleinen Gruppe von Literatur-Methodikern der DDR lag.

Es gab eine gewiß nicht kleine Gruppe von Literaturdidaktikern in Ost und West, die für einen Literaturplan sprachen, der intendierte, möglichst viele Heranwachsende zu befähigen, mit Kunst und Literatur kreativ umzugehen. Das erfolgt durch einen Unterricht, der die veränderten Bedingungen der Literaturkommunikation in einer Mediengesellschaft in Rechnung stellt.

L.: Mit Hilfe eines Lektüre-Kanons zur Mündigkeit zu erziehen?

Man kann es so sagen. Mit einem Literaturplan, der systematisch ist und zugleich offen. Neue Inhalte sind ebenso zu bedenken wie die Erfahrung, daß Lesekompetenz heute Textlesen und Bildlesen einschließt, die mehr gemeinsam haben, als bisher angenommen wurde.

Sch.: Die Wende brachte eine neue Arbeit an den Lehrplänen in zwei Stufen mit sich. Anzunehmen ist, daß im Vergleich zu den DDR-Empfehlungen massenhaft Stoffe ausgefallen sind. Es hat eine Umkanonisierung oder eine Umprofilierung des Kanons stattgefunden. Auf der anderen Seite sehe ich, daß es auch Diskussionen gibt, „alles darf man nicht wegschmeißen. Wir sollten vielleicht doch einiges aus der sozialistischen Tradition auch in einem künftigen Lehrplan bewahren.“

L.: Worin besteht heute der Bruch, wenn aus den Lehrplänen Texte verschwinden und neue hinzukommen. Was hat sich verändert?

Der Unterschied zeigt sich weniger am literarischen Erbe. Er zeigt sich besonders an der Gegenwartsliteratur. Die neue Textauswahl bezog Autoren ein, die in den DDR-Lehrplänen fehlten, wie Wolf Biermann, Stefan Heym, Christa Wolf, Günter Kunert, Sarah Kirsch, Günter Grass u. a.

Aus der Textauswahl verschwanden umgehend Bruno Apitz, Johannes R. Becher, Willi Bredel, Hermann Kant, Dieter Noll, Friedrich Wolf, Anna Seghers, Erwin Strittmatter, Arnold Zweig. Erwin Strittmatter und Anna Seghers haben inzwischen ihren Platz zurückgewonnen. Bei anderen bahnt es sich an.

Im Methodischen wurde durch die Rahmenpläne ein freierer Umgang mit der Literatur direkt gefordert. Auch wenn unter dem Begriff des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts zu Recht das produktive Element verstärkt wurde, beunruhigt, daß der Text oft nur noch als Folie fungiert und gründliches Textverstehen zurücktritt. Also wieder der nicht angemessene Umgang mit Kunst. Entweder mache ich den Schüler zum Objekt oder zum Pseudosubjekt.

L.: Diese Extreme gründen in einer allgemeinen gesellschaftlichen Praxis.

Noch eine Nachfrage zu den Veränderungen. Gerät durch die Prozesse nicht auch die Vielfalt der Momente in den Blick, die Kanonisierungsvorgänge prägen: Lehrpläne, die Nachfolgewerke, aber natürlich auch der Lehrer, seine Erfahrungen mit dem aktuellen Literatur-Kanon, seine Ausbildung. Von ihm hängt wesentlich ab, was passiert, was weitergetragen wird, wie die neuen Richtlinien aufgenommen und umgesetzt werden.

An die Stelle improvisierter Übergänge und extrem divergierender Rahmenpläne könnten qualitativ bessere Lösungen treten, wenn man die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre vorurteilsfrei auswertete. Zu den von Ihnen genannten Momenten, die Kanonisierungsvorgänge prägen, möchte ich die Schüler noch hinzunehmen.

Auch sie wirken in einem hohen Maße an einer vernünftigen „Kanonisierung“ mit. Schon durch ihre individuellen Interessen und ihre differenzierten Wahrnehmungsfähigkeiten melden sie Ansprüche an, zeigen Grenzen und gleichzeitig reale Möglichkeiten. Manche Lehrer werden ihr Literaturbild korrigieren, wenn sie das ihrer Schüler kennenlernen. Dann gibt es wieder Rückkopplungen zu den Plänen und den methodischen Veröffentlichungen.

Sch.: Das ist interessant. Meine Kindern hatten einfach zwei Kanons. Der eine war der Schulkanon, und da konnten sie auch den Lehrer bedienen, indem sie die vorgeschriebenen Stoffe lasen und die vorgeschriebenen Meinungen bewerteten. Außerdem hatten sie den, den sie durch unsere Bibliothek bekamen und durch Anregungen von Freunden. Das hatte aber miteinander nichts zu tun.

Das glaube ich schon. In dieser Beziehung hat jeder von uns seine Erfahrungen gemacht. Unsere Kinder hatten ja auch Zugang zu vielem, gerade was die Gegenwartsliteratur betraf, was sonst kaum erreichbar war. Für das Erbe haben sie im Literaturunterricht manche Anregungen bekommen. Spannungen, die sich zwischen ihrer Lesart und der im Unterricht auftaten, liegen in der Sache selbst. Wir haben versucht, ihnen diese Gegensätze zu erklären.

Sch.: Diese Kluft ist dagewesen und war immer da.

Aber, was wir nicht übersehen dürfen: Für viele meiner Schüler war in den 50er und 60er Jahren die Begegnung mit Literatur und Kunst in der Schule die erste Begegnung überhaupt. Für nicht wenige war es der Beginn einer dauerhaften Beziehung. Ich denke, heute ist die Situation für viele junge Menschen wieder ähnlich.

Die Auseinandersetzung mit Literatur im guten Literaturunterricht in der DDR war gerade deswegen eine spannende Geschichte, weil auf eine oft verblüffende Weise erfahren wurde, wie sie mit unserem Leben zusammenhängt. Was man aber erst merkt, wenn man sich ihr intensiv zuwendet und über eigene Reaktionen und die anderer nachdenkt. Dort, wo im Unterricht Verbindungsfäden zu unserem Leben aufgespürt werden, entdecken Lehrer und Schüler, wie sehr Kunst vergnüglich und nützlich sein kann. Das war damals so und ist es auch heute.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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