Eine Rezension von Bertram Winde


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Wie die Berliner in die Röhre guckten

 

Dieter B. Herrmann/Karl-Friedrich Hoffmann (Hrsg.): Die Geschichte der Astronomie in Berlin

Eigenverlag (nicht im Buchhandel), Berlin 1999, 159 S.

 

Wissenschaft braucht Geld. Um es aufzutreiben, muß man den Nutzen eines Unternehmens nachweisen. Welchen Nutzen aber bringt die Astronomie? Die beiden Herausgeber - der Direktor der Archenhold-Sternwarte, Berlin-Treptow Dieter B. Herrmann, bzw. das Vorstandsmitglied des Vereins Wilhelm-Foerster-Sternwarte e. V. am Insulaner, Berlin-Steglitz, Karl-Friedrich Hoffmann - machen im Vorwort zu diesem Buch auf die bedeutende volksbildende Wirkung der Vermittlung naturwissenschaftlicher Kenntnisse aufmerksam, die schon seit Alexander von Humboldts Kosmosvorträgen in Berlin beständig gepflegt wurde. Man kann nur wünschen, daß potentielle Sponsoren heute noch die Beschäftigung mit den Himmelswundern für wenigstens etwa gleichrangig mit dem Spielen am Computer halten, und es scheinen ja recht viele junge Menschen wieder Geschmack an Problemen zu finden, die nicht unmittelbar mit dem Haben sondern mit dem Sein (Erich Fromm) zusammenhängen. Vorträge und Bücher z. B. über Fragen der Kosmogonie, der Elementarteilchen und eben auch der Astronomie sind gefragt. Vielleicht führt das zu der Einsicht, daß es besser ist, „den gestirnten Himmel über uns und das sittliche Gesetz in uns“ zu bewundern und darüber ins Grübeln zu kommen - wie Kant vor 200 Jahren -, als sich mit unfruchtbaren esoterischen Spekulationen, Horoskopen oder abwegigen Ideen über die Einwirkung außerirdischer Zivilisationen auf unsere Erde zu beschäftigen. Dieses Buch kann dazu beitragen.

Herrmann und Hoffmann gewannen zehn weitere namhafte Fachleute, Astronomen, Wissenschaftshistoriker, Pädagogen, die mit der Astronomie in Berlin, Babelsberg oder Potsdam eng verbunden sind, unentgeltlich an dieser gelungenen Publikation mitzuwirken. Das Ergebnis ist leicht lesbar, gut gestaltet, vor allem aber sehr instruktiv für Liebhaberastronomen und alle, die sich für die Wissenschaftsgeschichte der deutschen Hauptstadt interessieren.

Der Nutzen der Astronomie in früheren Zeiten war freilich ganz anderer Art. Astronomische Beobachtungen für das Kalendermachen und als Grundlage verwegener astrologischer Prophezeiungen sind ja bekanntlich uralt; später kam die genaue Berechnung der Ephemeriden, des jeweiligen, ephemeren Ortes von Sonne, Mond und Wandelsternen relativ zum Fixsternhimmel hinzu. Diese Kenntnisse waren schließlich unerläßlich für die Orientierung auf hoher See und wurden im 15./16. Jahrhundert bares Geld wert.

Schon vor der Anwendung des Fernrohrs für Himmelsbeobachtungen (Galilei, 1610), ja sogar vor der „Kopernikanischen Wende“ (1546) spielte Astronomie/Astrologie in Berlin eine Rolle. Johann Carion (Johannes Nägelein, 1499-1537) wurde 1522 von Kurfürst Joachim I. als Hofmathematiker, Lehrer für den Thronfolger und Hofastrologen von der Viadrina nach Berlin befohlen. Der naturwissenschaftlich interessierte Kurfürst hatte eine Art Sternwarte „auf dem Schloß zu Cölln“ einrichten lassen. Carion soll für den 15. Juli 1525 aus einer seltenen Planetenkonstellation (Konjunktion von Mars, Jupiter und Saturn im Sternbild der Fische) eine Sintflut für Cölln und Berlin berechnet haben, vor der sich der abergläubische Kurfürst mit seinem Hof angeblich auf den Kreuzberg „gerettet“ hat. Die hübsche Geschichte ist immer wieder erzählt worden. Am ausführlichsten ausgeschmückt wohl in dem Roman Am Himmel wie auf Erden von Werner Bergengrün.

Wegen seiner Kalender mit astrologischen Prognostiken wurde Carion ebenso bestaunt wie ein halbes Jahrhundert später der aus Basel stammende Leonhard Thurneysser (1531-1596). Er, der größte Wundermann seiner Zeit, war Arzt und Anatom, Metallurge und Alchimist. Er besaß aber auch fundierte mathematische, astrologische und biologische Kenntnisse. Joachim Friedrich, Kurfürst von Brandenburg, holte ihn 1571 als Leibarzt an seinen Hof. Dort betrieb Thurneysser einen schwunghaften Arzneihandel und hielt im „Grauen Kloster“ eine Art Hofstaat. In seinem dortigen Laboratorium bereitete er - ein Anhänger des Paracelsus - seine „Arcana“ und entwickelte Zusammenhänge zwischen Astrologie und Alchemie: Die Prognostika in den Kalendern, von denen er ungeheure Auflagen absetzte, bedurften zu ihrer Erfüllung der entsprechenden Talismane, die ebenfalls günstig von ihm bezogen werden konnten. Die Esoterikhändler von heute können getrost bei ihm in die Schule gehen. Für die Astronomie ist es jedoch wichtig, daß Thurneysser als erster Berliner Gelehrter „Ephemeriden“ für die Jahre 1580-1590 berechnete und das in Berlin drucken ließ. Berliner Ephemeriden, später von der Akademie ediert, genossen bis in unser Jahrhundert hohes Ansehen.

Ein weiterführendes Essay über Thurneysser, von Vehse und Möhsen ist übrigens in den von Jakob Wassermann gesammelten und herausgegebenen Band 1 Deutsche Charaktere und Begebenheiten zu finden.

Das Kalendermachen spielte auch 1700 bei der Gründung der „Brandenburgischen Societaet“, der späteren Akademie der Wissenschaften, eine große Rolle. Sie erhielt das Kalendermonopol für alle preußischen Länder und mußte sich daraus finanzieren. Ihr erstes Institut war ein astronomisches Observatorium (1706) im Marstall auf der Dorotheenstraße. Bedeutende Gelehrte waren dort tätig: u. a. Kirch, Aepinus, Bode und Encke. Vornehmlich unter dem Direktorat von Bode wurden zunehmend meteorologische Untersuchungen in den Aufgabenbereich der Akademiesternwarte einbezogen. Johann Franz Encke (1791-1865) war es dann auch, dem es mit Unterstützung von Alexander von Humboldt gelang, 1832-35 den Bau einer großen, gut ausgerüsteten Akademiesternwarte durchzusetzen. Ein Bild dieses heute nicht mehr existierenden Schinkelbaues schmückt übrigens den Umschlag des vorgestellten Büchleins. Im 19. Jahrhundert standen Enckes Berliner akademischen Sternkarten und die Berliner astronomischen Jahrbücher in der Gelehrtenwelt in hohem Ansehen. Das wichtigste Ereignis unter dem Direktorat von Encke war aber zweifellos die Entdeckung des achten Planeten des Sonnensystems, Neptun, den Johann Gottfried Galle (1812-1910) am 23. September 1846 genau an der Stelle beobachtete, die sein französischer Kollege Leverrier berechnet hatte. Wegen der inzwischen für astronomische Beobachtungen ungünstig gewordenen Lage am südlichen Ende der Charlottenstraße, mitten in der Großstadt (heute befindet sich dort das Berliner Museum und die Enckestraße), wurde die Sternwarte unter dem Direktorat von Karl Hermann Struve (1854-1920), der als Nachfolger von Encke 1903 nach Berlin gekommen war, kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Babelsberg verlegt.

Nach Enckes Tod wurde die Sternwarte als Königliche Sternwarte von der Akademie getrennt. Direktor der damals bedeutendsten astronomischen Forschungs- und Lehrstätte in Deutschland wurde Wilhelm Julius Foerster (1832-1921), der 1. Assistent von Encke. Er ist weniger durch spektakuläre Entdeckungen als durch seine Tätigkeit als erfolgreicher Wissenschaftsorganisator und -propagandist in die Berliner Wissenschaftsgeschichte eingegangen. Mitte des 19. Jahrhunderts waren mit der Einführung von Photometrie, Spektralanalyse und schließlich Fotografie, die zunächst für andere Zwecke entwickelt worden waren, in die Astronomie neue Untersuchungsmöglichkeiten aufgekommen, die weit über die bloße Fernrohrbeobachtung hinausgingen. Mit der Astrophysik entstand ein neuer Wissenschaftsbereich, der - in unseren Tagen durch Radioastronomie und Raumfahrt erweitert - zu ungeahnter Ausdehnung über den Kosmos und seine Entwicklung geführt hat. Frühzeitig hat Foerster die gewaltigen Möglichkeiten des neuen Gebietes erkannt, und nahezu gleichzeitig mit der Physikalisch-Technischen-Reichsanstalt (PTR) wurde, hauptsächlich durch ihn initiiert, das Astrophysikalische Observatorium Potsdam gegründet. Es leistete hervorragende Beiträge zur Entwicklung der jungen Wissenschaft und entwickelte sich innerhalb von wenigen Jahren zu einer in der Welt bis zum Ersten Weltkrieg führenden astrophysikalischen Forschungseinrichtung. Weltbekannte Namen wie Schwarzschild, Hertzsprung und schließlich auch Einstein (Einsteinturm) sind mit diesem Institut verbunden. Im Zusammenhang mit Radioastronomie und Kosmosforschung wird die Geschichte des Heinrich-Hertz-Instituts und des Instituts für Kosmosforschung bei der Akademie der Wissenschaften der DDR abgehandelt. Übrigens hatte Foerster neben Hermann von Helmholtz und Werner von Siemens bedeutenden Anteil an der Gründung der PTR in Charlottenburg 1888.

Kurzen Abschnitten über die universitäre Astronomie in Berlin von 1810-1990 folgt eine ausführliche Darstellung der populärwissenschaftlichen astronomischen Arbeit in Berlin. Der „URANIA-Meyer“ leitet, von Foerster und Siemens gefördert, seit 1889 die erste Volkssternwarte der Welt auf dem Ausstellungsgelände an der Invalidenstraße. Ihr großer Refraktor wird nach dem Zweiten Weltkrieg repariert zum Ausgangspunkt der Wilhelm-Foerster-Sternwarte. Auf der Berliner Gewerbeausstellung in Treptow führt Friedrich Simon Archenhold (1861-1939) seine „Himmelskanone“ vor. Mit ihr als Zentrum entsteht im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts die heutige Archenhold-Sternwarte. Privatsternwarten, kleine Volkssternwarten und Straßenastronomen werden ebenso gewürdigt wie die jedem Liebhaberastronomen bekannten beliebten Berliner Schriftsteller Robert Henseling, Bruno H. Bürgel u. a.

Jedem, der kompetent über die Geschichte der Astronomie in Berlin unterrichtet werden will, kann dieses Bändchen empfohlen werden. Mit seinen 145 Literaturverweisen kann es der Ausgangspunkt für vielfältige Ausflüge in die Wissenschaftsgeschichte Berlins sein. Aber auch demjenigen, der sich nur einen ersten Überblick verschaffen möchte, bietet es die Möglichkeit, sich relativ detailliert zu unterrichten.

Zwei Vorschläge für eine hoffentlich bald erforderliche 2. Auflage wären zu machen. Einmal sollten im Personenregister auch die Seiten angegeben werden, auf denen die Namen erwähnt werden. Zum anderen wäre das Hinzufügen einer Übersichtskarte mit den Standorten der behandelten Gebäude vor allem für Nichtberliner hilfreich.

Da das Buch über den Buchhandel nicht erhältlich ist, werden nachfolgend die Bezugsadressen angegeben:

Archenhold-Sternwarte - Alt-Treptow 1, D-12435 Berlin. Tel.: (030) 5 34 80 80
Wilhelm-Foerster-Sternwarte - Munsterdamm 90, D-12169 Berlin. Tel.: (030) 79 00 93 20.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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