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Frank Eberhardt
Das »Bunte Theater« in der Köpenicker Straße

»Brettl- Baron« wurde Ernst von Wolzogen (1855-1934) auch genannt, ein ehrenvoller Begriff für den Mann, der als Begründer des ersten deutschen Kabaretts gilt. Der in Breslau geborene Ernst Ludwig Freiherr von Wolzogen kam 1881/82 nach Berlin, schloss sich dem Friedrichshagener Dichterkreis an und konnte erste Erfolge als Autor verbuchen. 1893 ging er nach München und wurde Spielleiter des Akademisch- dramatischen Vereins. Doch schon sechs Jahre später kehrte Wolzogen nach Berlin zurück, wo er die Idee eines literarischen Kabaretts umsetzte.

Das französische Kabarett

1881 gründete der Maler Rodolphe Salis (1851-1897) inmitten der »Cabarets chantants«, der Künstlerkneipen am Pariser Montmartre, das »Chat noir«, das erste literarische Kabarett. Es war ein Forum für junge Künstler, hier feierte auch die von Henri de Toulouse-Lautrec (1864-1901) porträtierte Diseuse Yvette Guilbert (1867-1944) ihre ersten Triumphe. In den neunziger Jahren wurde in Deutschland über die Gründung eines Kabaretts nach französischem Vorbild nachgedacht.

Als Erster entwickelte Otto Julius Bierbaum (1865-1910) konkretere Vorstellungen eines literarischen Varietés. Seine erklärte Absicht war es, verbessernd auf den Geschmack der Leute zu wirken, die sich bis dahin entweder im Varieté oder im Tingeltangel vergnügten. Gesucht wurde nun der Mann, der diese Idee umsetzen konnte.
     Ernst von Wolzogen hatte sich mit einer Reihe niveauvoller Unterhaltungsromane und der Tragikomödie »Das Lumpengesindel« (1892) einen Namen gemacht. Im Winter 1899/1900 trat man von verschiedenen Seiten mit der Anregung an ihn heran, das französische Kabarett in Deutschland einzuführen. Als Begründung wurde angeführt, dass Wolzogen in München seine Eignung als Spielleiter bewiesen habe und eine gute Spürnase für Talente besitze. Außerdem sei er von allen lebenden deutschen Dichtern derjenige, der seine eigenen Werke am wirkungsvollsten vortrage und auch als Stegreif- Redner vor der Öffentlichkeit eine gute Figur mache. Zu dieser Zeit war gerade seine Bewerbung um die Direktion des Düsseldorfer Theaters abgelehnt worden.

Die Idee des »Überbrettl«

Wolzogen sah im Kabarett eine reizvolle Aufgabe. An Dichtungen dafür fehlte es nicht, wie Otto Julius Bierbaums Liedersammlung »Deutsche Chansons (Brettl- Lieder)«, in der auch Wolzogen vertreten war, bewiesen hatte. Schwieriger war die Beschaffung geeigneter Musiker, Sängerinnen und Sänger.

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Ernst von Wolzogen.
Karikatur von Olaf Gulbransson

Diese frönten entweder der hohen Kunst oder aber dem seichten Tingeltangel. Hinzu kam, dass auf das Wichtigste beim französischen Kabarett, die politische Tagessatire, verzichtet werden musste, weil die Zensur in Deutschland das niemals zugelassen hätte. Einen Namen für sein Kabarett hatte Wolzogen schon gefunden.

Zu jener Zeit war viel von Nietzsches Übermenschem die Rede. Wolzogen nannte sein Kabarett »Überbrettl«. (In seinem späteren »Bunten Theater« in der Köpenicker Straße stand im Foyer sogar eine Nietzsche- Büste.) Nach dem Scheitern seines Kabarett- Unternehmens stellte er fest: » Als ich das Schlagwort vom Überbrettl erfand, unterschrieb ich mein Todesurteil.«1)
     Anfang 1901 mietete Wolzogen die Sezessionsbühne in der Alexanderstraße 40, um hier sein Kabarett zu etablieren. Der Verein zur Förderung der Kunst stellte ihm 7 000 Mark zur Verfügung. Am 18. Januar 1901 wurde das »Überbrettl« eröffnet. Mit dem Einakter »Episode« (aus dem dramatischen Spiel »Anatol« von Arthur Schnitzler (1862-1931) erzielte er einen großen Erfolg. Monatelang gab es bereits im Vorverkauf ausverkaufte Vorstellungen. Die namhaftesten Kritiker aller deutschen Zeitungen sangen Lobeshymnen auf die Künstler, die Wolzogen verpflichtet, zum großen Teil entdeckt hatte. Es hieß beispielsweise: »Wir haben was Neues! Wir haben eine graziöse Fein- und Kleinkunst! Man muss manchmal Jahre warten, um lachen zu können! Wolzogens Komödiantengesellschaft hat mich königlich amüsiert! »2)
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Die Einnahmen waren trotz der hohen Miete so hoch, dass Wolzogen alsbald viel Geld in die Hände bekam. Einen Teil benutzte er, um schon nach kurzer Zeit das Theatergeschäft zu verlassen und eine Vergnügungsreise nach Italien anzutreten. Außerdem unternahm er mit einigen Künstlern eine Tournee durch Deutschland, während die anderen in der Alexanderstraße auftraten. So ging das Geschäft glänzend weiter.
     Wolzogen wollte anfangs sein Unternehmen nicht länger als ein Jahr betreiben. »Ich wollte nur eine starke Anregung geben, ein Muster aufstellen, dann mit meiner Person verschwinden und den einmal in Bewegung gesetzten Karren weiter laufen lassen.«3) Aber der beispiellose Erfolg riss ihn dann doch fort, und er wollte sich einen Traum erfüllen: ein buntes Theater auch vom äußeren Rahmen her. Im Hof des Hauses Köpenicker Straße 68 mietete er ein Gebäude, das einen größeren und verschiedene kleine Säle enthielt. Aus dem Adressbuch von 1899 geht hervor, dass damals 20 Mietparteien auf diesem Grundstück wohnten, 1900 aber nur noch 8. Man muss also annehmen, dass der Eigentümer inzwischen Wohnungen im Hinterhof abgerissen hatte, um durch ein Tanzlokal mehr Miete einzunehmen. Dieses dort errichtete Gebäude mietete Wolzogen, ließ es jedoch für seine Zwecke umbauen.

Ein Jugendstil-Theater

Umbau und Ausstattung des Theaters lagen in den Händen eines der führenden Jugendstil- Architekten, August Endell (1871-1925).

Der Hauptsaal des Gebäudes musste verschoben werden, da die Bühne noch nicht einmal vier Meter Tiefe hatte. Offensichtlich war sie nur für eine Musikkapelle bestimmt gewesen. Die in verschiedenen Stockwerken gelegenen Nebensäle mussten zu Rängen und Foyers umgebaut werden. Da durch das bestehende Mauerwerk die Hauptmaße vorgegeben waren, entstand ein Theaterraum, dessen Breite die Länge übertraf. Um die Längsachse trotzdem zu betonen, wählte Endell ein korbbogenförmiges Tonnengewölbe. Damit ergaben sich wieder Probleme für die Akustik, so dass der untere Teil der Seitenwände mit schalldämpfendem Stoff bedeckt werden musste. Dieser wurde eigens dafür gewebt.
     Die Ausstattung der Räume kann sehr gut nachvollzogen werden, denn August Endell hat einen ausführlichen, gut bebilderten Artikel darüber geschrieben.4) Endell entwarf auch die Innenausstattung seiner Bauten bis ins Einzelne. Sein künstlerisches Schaffen ging von der Durchbildung der Einzelform und der Gestaltung ihrer Zusammenhänge untereinander aus.
     Über den Eindruck, den das neue Theaterhaus auf die Besucher machte, lesen wir: »Was zuerst ins Auge fällt, ist die sehr originelle und feine Farbenwirkung. Die Wandflächen zeigen hellweinrothe Flecken auf einem blaulichen Grundton. Sie sind durch schlanke Halbpfeiler gegliedert, die als Stämme ins Phantastische gewachsener Untermeeresbäume gestaltet sind, und spielen wie das Rahmenwerk der Bühne zwischen Braun und Blau. Oben werden sie durch einen Fries abgeschlossen, auf dem riesige Insekten krabbeln.
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Seitentür im Parkett des »Bunten Theaters«

Ueber dem Fries setzt das Gewölbe an, das in Rosa, Mattblau und Silber den Schimmer von Perlmutt nach ahmt und dem Raum etwas Leichtes und Heiterfestliches giebt! In diesen Ton ragen die Kronen der oben erwähnten

Bäume hinein. Die Gliederung der Ränge geht in Grün. Der Vorhang zeigt auf eisengrauem Sammet Ornamente in einem ganz matten Grün und einem hellen Gelbroth.« Der Autor grenzte aber auch ein: »Bewunderungswürdig ist die ungeheuere Detailarbeit, die Endell geleistet hat, an Erfindung und Durchführung. Ueberall bis in die Logen, Garderoben und Vestibüle sind immer wieder neue Muster angebracht, ist jedes Stück besonders angefertigt. Die Stoffe werden sicherlich zum großen Theil in Mode kommen, die Läuferstoffe und Möbelbezüge gehören zum Besten, was wir haben.
     Ich bin von all dem Modernen so angesteckt, daß ich auch die Mode mitmachen will, mit einem Fragezeichen zu schließen. Ist dieser Stil Endells für das Ueberbrettl erfunden? Ist er, wenigstens in seinen Bizarrerieen, so halb selbstparodistisch gemeint? Oder ist es sein Stil für alle Tage, und soll er ganz ernsthaft auch für uns einfache Menschen gelten? Hoffentlich doch nicht??«5)
     Im ersten Rang des Theaters lagen Smyrna- Teppiche, die nach Entwürfen Endells extra angefertigt wurden. Das Paneel der Wände bestand aus durchbrochenem Holzwerk, die oberen Teile der Wände waren in Foyer, Vorräumen und Logen mit Seidenstoffen und Stickereien bespannt.
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Das gesamte Holzwerk, Türen, Fenster, Beleuchtungskörper, Stoffe, Stickereien, Teppiche, Türklinken und Kleiderhaken, ja sogar die Tapeziernägel wurden nach Zeichnungen Endells hergestellt.
     Und es ist erstaunlich, in welch kurzer Zeit dieser Umbau erfolgte. Mitte Juni 1901 wurde mit dem Abbruch begonnen, am 28. November desselben Jahres wurde das Theater eröffnet.
     Man kann heute nur spekulieren, warum Wolzogen gerade diese vom Zentrum etwas abseits gelegenen Räume gemietet hat und den sehr kostspieligen Umbau vollziehen ließ. Sicherlich wollte er für sein geplantes »Buntes Theater« ein gehobenes Publikum gewinnen, das auch durch eine schöne Räumlichkeit angezogen werden würde.
     In einem Interview, überschrieben »Wolzogens Beichte«,erklärte er: »Zunächst möchte ich nun die Sünden des Ueberbrettls beichten. Es sind ihrer, Gott weiß, viele! Auf meinen Wanderfahrten habe ich die große Ansteckungskraft der >neuen Berliner Kunst< selbst kennengelernt, und deshalb finde ich die zahllosen Nachahmungen begreiflich und verzeihlich. In mein neues >Buntes Theater< sollen aber weder der französische Cabaretstil noch die Stillosigkeit der bisherigen Brettl ihren Einzug halten. Ich beabsichtige ... im neuen Hause Kleinkunst zu treiben. Kleinkunst - nicht kleine Kunst, das heißt eine Kunst, die nur in ihrer Form klein ist ... Das oberste Prinzip des >Bunten Theaters< muß aber die Buntheit sein.«6) Zum erhofften Publikum sagte er, dass »geborene Damen und gebildete Herren«

Vorraum und Treppe zum Rang

 
vor einem auf der gleichen gesellschaftlichen und geistigen Stufe stehenden Publikum aus dem Stegreif spielen. Man solle sich im Salon fühlen und den Eindruck des Improvisierten haben. Auf das erwartete Publikum zielt auch die Annonce, die am 30. November 1901 in der »Vossischen Zeitung« erschien:

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»Die Luft des E. v. Wolzogenschen Theaters wird allabendlich mit dem neuen Präparat >Ozonoform- Wald- Luft<, einer in Dr. Homeyers chemischen Laboratorium, Friedrichstraße 101, hergestellten Lösung von aktivem Sauerstoff und ätherischem Öl aus der Edeltanne, rein gehalten.«
     Die aufwändige Gestaltung der Räume und das Programm des »Bunten Theaters« standen jedoch im Gegensatz zu der Gegend, in der es sich befand. Die Köpenicker Straße war eine der Hauptstraßen der Luisenstadt, einem südöstlich des Berliner Zentrums gelegenen Stadtteil. Um die Jahrhundertwende war dieser mit 300 000 Einwohnern zwar der größte Stadtteil, aber die Höhe der Einwohnerzahl stand im krassen Gegensatz zu der Höhe der Einkommen. Vorwiegend Arbeiter und Handwerker hatten sich hier eine Wohnung gesucht. Vielgeschossige Mietshäuser standen an der Straßenfront, während in den Hinterhöfen Kleinbetriebe ihren Sitz hatten. Außerdem befand sich die Luisenstadt am östlichen Rand Berlins genau entgegengesetzt zu den vornehmen westlichen Vororten, wo das zahlungskräftige und theatergewöhnte Publikum wohnte.

Die Eröffnungsvorstellung

Über die Eröffnungsvorstellung am 28. November 1901 schreibt das »Berliner Tageblatt«: »Ueber das Haus schreibt Fritz Stahl weiter unten.

Er hat Glück; das Haus war der geistreichste Gedanke, der hübscheste Erfolg des Abends. Die bunte Menge der anderen Genüsse muß noch etwas durchgesiebt werden, bis so viel reiner Weizen zurückbleibt, daß man der Spreu nicht achtet. Gestern waren, das müssen auch die Freundlichsten zugeben, die Weizenkörner noch stark in der Minderzahl ... Der Leitgedanke dieses bunten Theaters, das nur in Parenthese ein Ueberbrettl heißen will, ist kein Gedanke, sondern ein Freiherr: Ernst v. Wolzogen. Er bewies auch gestern, dass mit seiner Persönlichkeit die Idee, die beinahe schon - nicht in Schönheit! - gestorben schien, wenigstens für einige Zeit neues Leben zu gewinnen vermag ... Man verlässt das Bunte Theater mit dem Eindruck, dass wenigstens die Buntheit allen Erwartungen entsprach. Wenn später auch das Theater noch ein wenig besser zur Geltung kommt, wird es kein Schade sein.«7)
     Wolzogen versprach anlässlich der Eröffnung, sein Theater zu einem Haus der Überraschungen zu machen. Gespielt wurden einaktige Schauspiele, z. B. in der Eröffnungsvorstellung von Ludwig Thoma (1867-1921) »Die Medaille«, die mit anderen Darbietungen »bunt« gemischt waren. Parodien und Satiren wurden aufgeführt, Diseusen und Sänger traten auf, ebenso Tänzerinnen und Gitarristen. Neben Bänkelliedern wurden Sketche aufgeführt, aber auch lyrische oder epische Einzelvorträge. Ein buntes Programm, das anspruchsvolle Zuhörer erforderte.
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Das Überbrettl und die Kabaretts
Der Erfolg des »Bunten Theaters« führte dazu, dass in ganz Deutschland eine Vielzahl derartiger Einrichtungen gegründet wurde. Jeder gescheite und gescheiterte Theaterdirektor glaubte, ein Kabarett aufmachen zu können. Bunte Theater schossen wie Pilze aus dem Boden, fanden aber auch bald ihr Ende. Zentrum der Überbrettl- Bewegung in Deutschland war Berlin. Von 1901 bis 1906 gab es in der Stadt mindestens 32 Kabaretts, nach anderen Angaben sogar 43.
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Die Darbietungen waren oft die gleichen wie bei Wolzogen oder glitten, was noch häufiger der Fall war, in die Seichtheiten billigen Tingeltangels ab. Fast alle segelten der Zensur wegen unter der Flagge »Streng geschlossene Gesellschaft. Ohne Einladungskarte kein Eintritt«. Die Zensur war damals besonders scharf, und Wolzogen musste sich mitunter wegen eines 12-zeiligen Gedichtes stundenlang auf der Polizei herumstreiten. Denn war die Pointe gestrichen, so fiel auch das Gedicht.

Die finanzielle Misere

Nach seiner Übersiedlung in die Köpenicker Straße geriet das »Bunte Theater« zusehends in finanzielle Schwierigkeiten. Das war zum Teil auf ein Nachlassen des Interesses für das Überbrettl zurückzuführen. Außerdem mangelte es an Stoff und auch den richtigen Kräften. Selbst Wolzogen konnte wegen der starken Konkurrenz und der übel gelaunten Presse, der die vielen Überbrettl nicht gefielen, kein erfolgreiches Programm mehr zusammenstellen. Am verhängnisvollsten aber war die unglückliche Lage des mit 900 Plätzen auch zu großen Theaters im Berliner Südosten. Dazu kamen die hohen Summen, die der Bau verschlungen hatte, und wohl auch Wolzogens Unkenntnis in kaufmännisch- praktischen Theaterdingen. Mit dem Umzug in das neue Haus war das »Bunte Theater« in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden.

Der Aufsichtsrat diktierte eine von kommerziellen Gesichtspunkten Programmauswahl. Als Wolzogen diese Repertoire- Politik nicht mehr mitmachte, wurde er kurzerhand im Frühjahr 1902 »beurlaubt«. Im Juni 1902 trat er auch formell von der Leitung des von ihm ins Leben gerufenen Unternehmens zurück. Eine Zeitung berichtete damals, er habe nach einer Vorstellung seinen »vollständig erschienenen Getreuen Adieu« gesagt. Er schloss mit den Worten: »Ich bin der größte Idiot des Jahrhunderts! - machte eine tadellose Verbeugung und ging.«8)
     1904 zog Wolzogen rückblickend ein Resümee: »Eine Genugtuung für all die Enttäuschung und Unbill, die mir für mein ehrliches Streben widerfuhr, ist mir aber gerade von der Seite zuteil geworden, von der ich sie kaum zu erwarten gewagt hätte. Das eigentliche Varieté, die Spezialitätenbühne hat aus meinem Wirken einen immerhin beträchtlichen und hoffentlich auch dauernden Gewinn gezogen.«9)
      Wolzogen zog mit einem Rest der Kräfte des Überbrettls in der Provinz herum und befand sich wieder in materieller Bedrängnis. 1905 suchte er noch einmal die Idee einer Komischen Oper im Thaliatheater in der Dresdener Straße zu verwirklichen. Auch dieses in jeder Hinsicht unzulängliche Unternehmen hörte wieder mit erheblichen Verlusten auf. Wolzogen ging anschließend nach Darmstadt und versuchte sich dort als freier Schriftsteller.
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Schließlich zog er sich ganz zwischen seine Bücher und Musikinstrumente in Wolfratshausen an der Isar zurück, wo er 1934 verstarb.
     Rückblickend glaubte Wolzogen verbittert, dass er die besten Jahre seines Lebens an diese nutzlose Arbeit vergeudet habe. Mag seinem Überbrettl auch der dauernde Erfolg versagt geblieben sein, so wird doch sein Name für immer mit der Gründung des deutschen Kabaretts verbunden werden. Seine Frau Laura von Wolzogen, seine Sekretärin, die dann als Lautensängerin Erfolge erzielte, äußerte einmal: Es ist doch das selige Ueberbrettl etwas unendlich Liebes und Besonderes gewesen, und ich danke ihm viel. Den buntesten, farbenfrohesten Herbststrauch möchte ich ihm aufs Grab legen.

Das Schicksal des Hauses

Das durch hohe Unkosten belastete Unternehmen geriet mangels ausreichenden Publikumsinteresses zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten. Ende 1902 ersetzte man deshalb die kabarettistischen Darbietungen durch Lustspielproduktionen. Am Ende der Spielzeit 1902/03 ging das Unternehmen in Liquidation. 1905 zog in das Haus in der Köpenicker Straße der Deutschamerikaner Adolf Philipp ein und gründete das »Deutsch- Amerikanische Theater«. Die erste Saison war erfolgreich. Im dritten Jahr hörte Philipp auf, zahlte keine Gagen mehr und ging wieder nach New York zurück.

Und wieder zog ein Theater in das Haus ein. 1908 erscheint unter Direktor Philipp Spandow der Name »Theater an der Spree«. Es existierte nur ein Jahr. Anschließend wurde ein Versuch als »Buntes Theater« unter Direktor Fr. Wangemann unternommen, dem auch nur eine kurze Existenz vergönnt war.

Die »Neue Freie Volksbühne«

Noch einmal rückte das »Bunte Theater« in den Blickpunkt. Diesmal waren es die »einfachen« Menschen, die in das Gebäude gingen. Die »Neue Freie Volksbühne« hatte 1909 in einer außerordentlichen Mitgliederversammlung den Beschluss gefasst, einen Baufonds zu gründen und ein eigenes Haus zu errichten. Der Vorstand entschloss sich, bis zur Eröffnung des eigenen Hauses ein Theater zu pachten. Man entschied sich für das ehemalige »Bunte Theater« in der Köpenicker Straße, das nur von Gastspieltruppen genutzt wurde. 1909 wurde ein Drei-Jahres- Vertrag abgeschlossen. Das Theater galt als selbstständiges Unternehmen, dessen Finanzierung von Seiten des Vereins durch die Pachtung der Vorstellungen gesichert wurde. Am 30. August 1910 wurde das wieder umgebaute Haus unter dem Namen »Neues Volkstheater« eröffnet. Man spielte Ibsens »Stützen der Gesellschaft«. Im Spielplan hielt man sich an die modernen Autoren, ohne jedoch Experimente, an denen dieses Haus so reich war, zu wagen.

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So gab es in den kommenden drei Jahren, bis die Volksbühne ihr eigenes Haus beziehen konnte, kaum Uraufführungen.
     1914 nennt das Berliner Adressbuch hier die »Versuchsbühne e.V.«, von der Neuen Freien Voksbühne e.V. waren nur die Geschäftsstelle und die Volksbühnen- Buchhandlung übriggeblieben. 1915 bis 1918 wird hier ein »Nationaltheater« erwähnt. 1929/1930 wird ein Lichtspieltheater in der Köpenicker Straße 68 erwähnt, aber auch das macht 1931 Pleite. Bis 1943 lässt sich ein DAT- Lichtspieltheater in der Köpenicker Straße 68 nachweisen. Mit diesem Namen erinnerte das Kino an das früher hier befindliche Deutsch- Amerikanische Theater. Dann ging auch dieses Gebäude wie alle umliegenden im Inferno der anglo- amerikanischen Bombenangriffe unter.

Quellen:
1 Walter Rösler, Das Chanson im deutschen Kabarett 1901-1933, Berlin 1980, S. 62
2 Artur Gläser, Der Brettl- Baron, Die Koralle vom 31. 10. 1943
3 Artur Gläser: a. a. O.
4 August Endell, Das Wolzogen- Theater in Berlin, Berliner Architekturwelt, 4. Jg., Berlin 1902, S. 377-395

5 Fritz Stahl, Das Haus. Berliner Tageblatt vom 29. 11. 1901
6 Stark, Wolzogens Beichte. Ein Interview. »Berliner Tageblatt« vom 27. 11. 1901
7 P. B., Ernst von Wolzogens Buntes Theater. (Ueberbrettl) Die Eröffnungsvorstellung, »Berliner Tageblatt«, vom 29. 11. 1901
8 Rainer Otto, Walter Rösler, Kabarettgeschichte. Abriss des deutschsprachigen Kabaretts, Berlin 1977, S. 39
9 Ernst Freiherr von Wolzogen, Aus der Ueberbrettl- Perspektive, Der Artist, Nr. 1000, Düsseldorf 904

Bildquellen:
Berliner Architekturwelt, Berlin 1902;
Bühne und Brettl, Berlin 1905;
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 8/2000
www.berlinische-monatsschrift.de