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Gerhard Oberkofler
Eine weltweit anerkannte Arbeit

Die Chemikerin Erika Cremer (1900-1996)

Für Karl Winnacker (1903-1989), Vorsitzender des Vorstandes der Hoechst AG und Präsident des Deutschen Atomforums sowie Herausgeber des Handbuches »Chemische Technologie«, ist es in Erinnerungen erwähnenswert, dass der Roman »stud. chem. Helene Willfüer« von Vicki Baum (1888-1960) Anfang der dreißiger Jahre in deutschen Labors viel gelesen wurde und heranwachsende Chemikerinnen von ihren Kommilitonen damit süffisant konfrontiert wurden. »Wir hatten eine nette Kollegin im Privatlaboratorium«, so Winnacker, »die wir mit der Heldin dieses Buches scherzweise in Verbindung brachten. Der Hinweis auf die verfrühten und unprogrammmäßigen Mutterfreuden der Romanheldin waren unserer Institutskameradin keineswegs angenehm.«1)
     Die fiktionale Biographie der Helene Willfüer war 1928 in Fortsetzungen in der »Berliner Illustrirten Zeitung« >erschienen und soll über 100 000 neue Abonnenten gebracht haben. Vicki Baum, die schon 1931 aus Deutschland emigrierte, hatte den Anspruch, aktuelle gesellschaftliche Probleme zu reflektieren.


Erika Cremer

Hier spricht Vicki Baum die Emanzipation der Frau und die in diesen Jahren diskutierte Freigabe der Fristenlösung, auch die Sicherung von Arbeitsplätzen an. Allerdings schiebt Vicki Baums Roman ein soziales Problem wie Schwangerschaft in die Privatsphäre der Helene Willfüer ab. Dieser bietet sich dann eine Hollywood- Lösung an. Nach vielen Umwegen tritt der Professor der Chemie Ambrosius an Helene heran: »Du dummes Mädel«, sagte er dicht an ihrem Mund. »Ich meine nicht die Chemie. Ich meine das Leben. Willst du leben mit mir?«

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Helene Willfüer legte ihre großen, bebenden Hände auf seine Brust. »Es ist ein Experiment. Ich will es versuchen.«2) Erika Cremer dürfte diesen Roman in Berlin, wo sie vom Sommersemester 1921 bis zum Herbst 1927, mit Ausnahme eines Forschungsaufenthaltes im Wintersemester 1924/25 an der Bergakademie in Clausthal, Chemie studiert hat, gekannt haben. Ihr war schon damals einsichtig, dass sich für selbstbewusste Frauen in der Wissenschaft kein Happy-End in den Armen eines Professors anbieten kann. Als 55jährige gab Erika Cremer Maturantinnen deshalb mit auf den Weg:
     »1) Selbsterhaltung - 2.) Selbstentfaltung. Ad 1.) Sie möge auf eigenen Füßen stehen. Unabhängig sein, den Eltern oder Geschwistern nicht zur Last liegen. Unabhängig in der Wahl des Gatten, nicht etwa heiraten müssen aus >Versorgung<, was das Schicksal fast der meisten Frauen in früheren Jahrhunderten war. Mein Vater sagte: Lerne was, studiere, das ist das einzige Vermögen, das dir auch die schlimmsten politischen Ereignisse nicht nehmen können. Schließlich ist ja auch heiraten keine Lebensversicherung. Wieviele Frauen haben im Krieg oder nach dem Krieg plötzlich die Versorgung der Familie übernehmen müssen. /.../ 2.) Entfaltung. Der Mensch braucht ein Ziel. Er braucht etwas, was ihn ausfüllt. Eine reife Persönlichkeit ohne einen Beruf, der seiner richtigen Berufung entspricht, kann man sich nicht vorstellen.
Die menschliche Gemeinschaft braucht die Arbeit jedes einzelnen. Jedes Drohnendasein ist verächtlich. Daher: jedem Gelegenheit zur Arbeit und zwar nach seinen besten Kräften. Jedes Talent, jede Begabung ist kostbar. /.../«3)
     Erika Cremer, am 20. Mai 1900 in München in eine deutsche Professorenfamilie hineingeboren, legte 1921 die Reifeprüfung an der Elisabeth- Schule in Berlin in den Fächern Mathematik, Physik und Chemie mit »sehr gut« ab. Die Anfängervorlesung über »Anorganische Experimentalchemie« hörte sie noch bei Walther Nernst (1864-1941). Nachhaltig blieben ihr die Streitgespräche im Physikalischen Kolloquium von Max von Laue (1879-1960) in Erinnerung. Das wichtigste Ergebnis ihres Studiums war die auf Klarheit des Denkens abzielende Ausbildung. Aufgrund ihres privaten Hintergrundes und ihrer offenkundigen Leistungsfähigkeit konnte sie nach Fertigstellung ihrer 1927 in der Zeitschrift für Physikalische Chemie veröffentlichten, von Max Bodenstein (1871-1942) angeregten Dissertation »Über die Reaktion zwischen Chlor, Wasserstoff und Sauerstoff im Licht« und nach der Promotion zum Dr. phil. am 11. Oktober 1927 in hervorragenden Arbeitsgruppen, teilweise als unbezahlte Volontärin, Erfahrungen sammeln.
      Einige Zeit war sie in Freiburg bei Georg Karl von Hevesy (1885-1966), der für ihre Studien über das katalytische Verhalten der Oxide Seltener Erden kostbare Präparate überließ.
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Der Leningrader Professor für Physikalische Chemie Nikolaj N. Semenov (1896-1986) las ihre Doktorarbeit, in der die Chlorknallgasreaktion durch ein Bildschema dargestellt und die Möglichkeit der Explosion durch Kettenverzweigungen abgeleitet wurde, aufmerksam und lud Erika Cremer 1932 zu einem mehrwöchigen Arbeitsbesuch ein. Cremer meinte - allerdings nicht öffentlich -, dass sie in der Frage der Explosionsbedingung bei Kettenverzweigung »eine Nasenlänge« vor Semenov, der für seine Arbeiten über Chemische Kinetik 1956 gemeinsam mit Cyril Norman Hinshelwood (1897-1967) den Nobelpreis für Chemie erhalten hatte, gewesen sei. Ihr Lehrer Bodenstein habe damals die Ergebnisse ihrer Dissertation zu wenig beachtet. Ihm schrieb sie einen schönen Erinnerungsartikel, der die »Goldenen Jahre« der Berliner Naturwissenschaften nahebringt. Die selbstbewußte Cremer meinte, eigentlich gehöre ihr für ihre ausgezeichnete Doktorarbeit auch der Nobelpreis, so wie Marie Curie (1867-1934) für ihre Doktorarbeit über Radioaktivität 1903 den Nobelpreis erhalten hatte.
     Zu den Spitzen der Berliner Naturwissenschaftler hatte Erika Cremer gelegentlich persönlich Zugang. Seltsamerweise scheint sie gegenüber der Österreicherin Lise Meitner (1878-1968) eher Aversionen gehegt zu haben. Ohne auf die politische Situation in Nazideutschland einzugehen, meinte sie, Meitner habe, nachdem sie nach dem Anschluss Österreichs Deutschland verlassen habe müssen und nach Schweden emigriert sei,

Institutsangehörige begrüßen sie nach ihrer Rückkehr aus den USA

durch Weitergabe des ihr von Otto Hahn (1879-1968) über seine Entdeckung übermittelten brieflichen Berichtes über Kernspaltung des Urans an Niels Bohr (1885-1962) und durch ihre gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch (1904-1979) »so schnell wie möglich« in London darauf publizierte Note den Ruhm von Hahn und Fritz Strassmann (1902-1980) mehr oder minder absichtlich geschmälert.

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Erika Cremer in Alpach neben dem Physiker Arthur March
Das war für sie, wie sich bald herausstellte, ein Glücksfall, sachlich und persönlich.4) Auf dem Gebiet der Gaschromatographie gelang Cremer nach der Befreiung Österreichs von der Nazibesatzung gemeinsam mit ihrem Schüler Fritz Prior (1921-1996) eine Pionierarbeit, die heute weltweit anerkannt ist. Erika Cremer maß dieser Arbeit, zu der sie allein die Idee gehabt hat, zuerst selbst nicht jene Bedeutung bei, die ihr tatsächlich zukam. Das zeigt, wie schwer die Einschätzung und Gewichtung eigener hervorragender Leistungen gerade bei abgerundeten Wissenschaftlern sein kann. Aufgrund ihrer Spitzenleistungen als
Erika Cremer hatte eine akademische Durststrecke zu überwinden, musste manche Arbeit abbrechen, ehe sie sich schließlich durchsetzte. Irgendeine wesentliche Differenz von Cremer zur Politik des Nationalsozialismus ist nicht bekannt geworden. Am 10. Februar 1939 wurde ihr in Berlin der Dr. phil. habil. verliehen. Der in Innsbruck 1941 neuernannte Professor für Physikalische Chemie Carl Angelo Knorr (1894-1960), der Cremer von München kannte, holte sie zur Verstärkung seines Teams nach Innsbruck, wo sie ab 1942 zur Dozentin mit Diäten ernannt wurde. physikalische Chemikerin konnte sie am internationalen wissenschaftlichen Leben trotz ihrer eher provinziellen Position aktiv teilnehmen. Ihre intensive Lehrtätigkeit war für ihre Produktivität als Forscherin sehr vorteilhaft und ersetzte vielfach kostspielige Apparaturen und Materialien, die Österreich nicht geben konnte. Nach ihrer Rückkehr von einer Studienreise in die USA 1950 forcierte Cremer an ihrem mit preußischer Disziplin geführten Institut den Aufbau einer radiochemischen Abteilung durch Förderung ihres Schülers Ortwin Bobleter.
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Interessante Ergebnisse brachte die Zusammenarbeit mit der chemischen Gerätebau- Anstalt in Balzers/Liechtenstein, in der ihr Schüler Thaddäus Kraus tätig war.
     Die akademische Karriere war mit jenen diskriminierenden Einschränkungen, die Frauen in der Wissenschaft seinerzeit als selbstverständlich hinnehmen mußten, erfolgreich. 1948 erhielt sie, die seit 1945 an der Universität Innsbruck alle Aufgaben einer Ordinaria für physikalische Chemie wahrnahm, den Titel eines außerordentlichen Professors verliehen, 1951 (21. März) wurde sie tatsächlich außerordentliche Universitätsprofessorin, womit die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft verknüpft war, und Vorstand des Physikalisch- Chemischen Instituts. Erst im Alter von 59 Jahren erlangte Erika Cremer das Ordinariat für physikalische Chemie (11. Februar 1959). 1964 wurde sie zum korrespondierenden Mitglied der mathematisch- naturwissenschaftlichen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt, 1973 zum wirklichen Mitglied dieser traditionellen und streng hierarchischen Sozietät. Von anderen sich im Alter allmählich einstellenden Ehrungen bedeutete ihr das Ehrendoktorat der TU Berlin 1965 sehr viel. Zum 30. September 1970 wurde sie emeritiert. Über viele Jahrzehnte blieb ihre ausdauernde und erfolgreiche Orientierung nach exakter naturwissenschaftlicher Erkenntnis sichtbar. Persönlich fühlte Cremer sich in Tirol und an der Innsbrucker Universität wohl, sie liebte seit ihren Jugendtagen, in denen sie mit einigen ihrer Kollegen wie mit Alfred Faessler (1904-1987) oder Max Pahl (1908-1992) das Felsklettern und Schifahren betrieben hatte, die Berge.
Auch die streng katholisch- konservative Umwelt war ihr, die sich auf sich selbst konzentrierte und als unpolitisch verstand, sympathisch. Erika Cremer starb am 21. September 1996. Das Leben und Wirken von Erika Cremer ist auf Anregung von Thaddäus Kraus in einem von Dr. Michael Stöger gestalteten Videofilm »Ein Leben für die Wissenschaft« festgehalten. Informationen dazu und der von Cremer korrekturgelesene Kommentartext sind über das Internet abrufbar:
http: //doppler.thp.univie.ac.at/stoeger/cremer.tzml.

Quellen:
1 Karl Winnacker, Nie den Mut verlieren. Erinnerungen an Schicksalsjahre der deutschen Chemie, Düsseldorf/Wien 1971, S. 53
2 Vicki Baum, stud. chem. Helene Willfüer, Heyne Verlag, München 1975, S. 189
3 Johann Holzner, Literarische Verfahrensweisen und Botschaften der Vicki Baum, in: Erzählgattungen und Trivialliteratur, hrg. von Zdenko Skreb und Uwe Baur,. Innsbruck 1984, S. 233 ff.
4 Gerhard Oberkofler, Erika Cremer. Ein Leben für die Chemie, hrg. von der Zentralbibliothek für Physik in Wien und Thomas Schönfeld gewidmet, StudienVerlag Innsbruck/ Wien 1998
Bildquelle: Autor

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 11/2000
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