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Christel Berger
Der Berlinischste der letzten Jahre

Der Schriftsteller Klaus Schlesinger (1937-2001)

Auch Literaturhistoriker können nicht aus ihrer Haut, was heißt: Der Zeitgeist lenkt ihre Hand. Deshalb - vermute ich - wird in keiner der zukünftigen Literaturgeschichten zu lesen sein: Klaus Schlesinger war der berlinischste Autor seiner Zeit. Zu hoffen bleibt, dass sein Name überhaupt erwähnt wird, denn sein Werk ist nicht opulent. Und das vor allem: Was er schrieb, passte weder hüben noch drüben und auch nicht im gerade vereinigten Deutschland ins offizielle Bild. Aber ich bleibe dabei: Er war der Berlinischste, und es gibt eine Menge Gründe dafür.
     Am 9. Januar 1937 geboren: »Ich war acht, als der Krieg zu Ende ging, und eigentlich ein Jungnazi. Bis dahin hatte ich an den Führer geglaubt, und daran, dass Deutschland den Krieg gewinnt.«1) Steppke Schlesinger musste mit für eine vaterlose Familie sorgen.
     Nur wer helle war, die Kniffe des Schwarzmarktes kannte und das Spiel mit den verschiedenen Besatzern erlernte, kam gut durch.

So bekam man einen Sinn für die vier- später zweigeteilte Stadt:
     »In den chaotischen Monaten nach dem Kriegsende war ich, wie alle Jungen, ein Straßenkind. Der Wohnungsschlüssel hing uns am Band um den Hals, wir trugen schlechtes Schuhwerk und hatten vor keinem Erwachsenen, auch vor keinem Sieger, Respekt. Auf der Straße grölten wir vor Schadenfreude, als ein junger russischer Soldat, der offenbar zum ersten Mal in seinem Leben auf ein Fahrrad gestiegen war, über den Damm taumelte und gegen eine Laterne fuhr. Nach der Schule, die viel zu schnell wieder angefangen hatte, durchstreiften wir die näheren Bezirke unserer Stadt, die plötzlich eine Viersektorenstadt geworden war: Franzosen, Engländer, Amerikaner waren eingerückt, es gab Kaugummi, Cornedbeef, Glenn Miller - und die längs des sowjetischen Sektors aufgestellten Schilder mit dem Stalin-Zitat: Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt!
     Über Nacht waren wir zwischen zwei gegensätzliche Pole gestellt worden. Wir erlebten sie anfangs kulturell, in Filmen, auf Ausstellungen, über Bücher und Musik - als Spannung zweier höchst unterschiedlicher Lebensauffassungen. Und auch wenn ich mich als Zehnjähriger in eine russische Schauspielerin aus einem Film über die Zeit der Leningrader Blockade verliebte;
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Klaus Schlesinger
auch wenn ich aus dem Kiosk des Dietz-Verlags am zerstörten Alexanderplatz die knallblauen oder tiefroten, vor allem aber spottbilligen Broschüren erstand, Engels las, Kalinin und Mehring - hätte ich mich damals entscheiden müssen für eine Seite, es wären die Amerikaner gewesen: sie hatten den Swing.«2)
     »Ich bin im Berliner Norden aufgewachsen, in einer baumlosen Nebenstraße zwischen der Schönhauser und der Prenzlauer Allee. Mein Terrain waren die Hinterhöfe, die überraschenden Durchgänge der Eckhäuser
und die Teerdächer zwanzig Meter über der Straße; meine Obsessionen der Fußball und die Straßenclique, die sich auf dem Helmholtzplatz regelmäßig Bandenkämpfe mit ihresgleichen lieferte.«3)... »Zwei, drei Jahre war ich ein Kleinstschieber.«4)

Den Verlust schreibend verkraften

Er lernte Chemielaborant, studierte einige Semester Chemie und arbeitete später in Industrie- und Forschungslabors.

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Von 1963 bis 1969 war er Journalist: »Und lesen Sie mal die Presse zwischen 1963 und 1965 - bis zum 11. Plenum! Ich glaube, es war ihre beste Zeit in der DDR.«5) Seine Lust zu schreiben begründet er mit seinem Interesse für Bücher und mit seiner Vaterlosigkeit. Den Verlust schreibend verkraften. Seine erste veröffentlichte Geschichte hieß »Michael«, 1965 in der Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur« unter der Rubrik »Neue Namen« gedruckt. Untertitel: »Entwurf zu einer Erzählung« (26 Seiten), Nachsatz: »Geschrieben 1960.« Schle-singer dazu im Nachhinein: »Ich schrieb damals gerade an einem stark expressiven Text, der mit dem Generationskonflikt zu tun hatte, und das hieß für einen jungen Deutschen, sich mit der tätigen und billigenden Mithilfe des größten Teils seines Volkes am größten Völkerverbrechen dieses Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Ich weiß, ich sah damals in jedem Menschen, der zehn Jahre älter war als ich, einen potentiellen Mörder.«6)
     Die Redaktion der NDL hatte dem Text einen Artikel des Literaturwissenschaftlers Heinz Plavius nachgestellt, der mit seiner Hoffnung auf ein neues vielversprechendes Talent auch kritische Überlegungen verband: So schien ihm der junge Mann als Titelheld zu inaktiv, und einige künstlerische Mittel wie innerer Monolog und andere modische Attitüden wären im Text zwar begründet und akzeptabel, aber gewarnt sei vor zu viel des »Guten«. In einem kurzen Statement bekannte sich Schlesinger wiederum in Anschluss
an den Text von Plavius zu seinem Entwurf und vor allem zu seiner Titelfigur, deren Inaktivität er verneint, dagegen »Isoliertheit« setzt und diese mit der kleinbürgerlichen Umwelt und Erziehung begründet. Das alles im Maiheft des Jahres 1965, ein halbes Jahr vor dem berüchtigten Plenum, dessen »Auswertung« seine Redaktion zum Anlass nahm, ihn zu feuern.

Helme und Regenmäntel für die 68er in West-Berlin

Die Zeit lief, und als wir das Jahr 1968 schrieben, gehörte Klaus Schlesinger wieder zu den Ganz-Wachen: Was da im anderen Teil Berlins ablief, weckte sein Interesse ungemein. Fragten die dortigen Studenten nicht genauso radikal wie er nach den Untaten ihrer Väter? Wollten sie nicht ebenso mit der Kleinbürgerlichkeit und dem Mief Schluss machen? Die Sympathie blieb nicht platonisch: Gemeinsam mit Freunden organisierte er eine Spendenaktion und unterstützte die Westberliner Aufrührer mit von ihnen gewünschten Helmen und Regenmänteln. (Von dieser »streng geheimen Aktion« berichtete der Autor erst in seinem autobiografischen Buch »Fliegender Wechsel« und dann in einem Artikel der taz »Helmaktion. Stolperschritte auf dem dritten Weg« 1993. Nunmehr klarsichtiger über die Strukturen in der DDR, beschreibt er mit ironischen Untertönen seine damalige Naivität. Natürlich wussten die »zuständigen Organe« von diesen Aktivitäten.)

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Dennoch - die Bekanntschaft mit den rebellischen Bürgersöhnen, aber auch das Erlebnis eines Anwerbungsversuchs von Stasi-Mitarbeitern, das ihm im Nachhinein als zu höflich von seiner Seite verlief, führten ihn zu einem nächsten Schritt: Die Abrechnung mit den Taten der Väter blieb zwar wichtig, aber vordringlicher wurde die Frage: Wer bin ich? Hätte ich den Nazis widerstanden?
     1971 erschien im Hinstorff-Verlag Rostock der Roman »Michael« - nunmehr 205 Seiten. Motive der früheren Erzählung sind erhalten. Die Grundkonstellation - der Sohn findet ein Foto aus dem Krieg, auf dem er den Vater als beteiligt an einer Erschießung zu erkennen glaubt. Aber die Akzente sind verschoben. Michael wird mehr und mehr gezwungen, über sich selbst nachzudenken. Und: Der Vater war es gar nicht, auf diesem Foto. Und: Der Stil ist noch konsequenter und souveräner, »modern«. Abrupter Wechsel von Szenen, Erinnerungsfetzen, Schnitte, Wiederholungen. Atemlos und ohne Antworten - wie die Titelfigur. (Unter dem Titel »Capellos Trommel« erschien das Buch 1972 in der Schweiz.)
     Und was - bitte schön - ist daran berlinisch? Natürlich der Schauplatz, aber auch die Darstellung von Zerrissenheit, die Erinnerung an Freunde, Lehrer, die plötzlich nicht mehr da sind, weil sie auf eine andere Straßenseite gegangen waren.
Leben in einer Stadt mit einer S-Bahn, die im Kreis fährt, obwohl sich ihre Stationen in zwei verschiedenen Welten befinden. »Das Bild vom Vollring« hatte schon Heinz Plavius in der Erzählung von 1960 aufmerken lassen.
     Ehe es voll thematisiert wird, entstehen noch einige andere Texte, in denen sich Schlesinger eher als Angehöriger einer neuen Generation von Autoren profiliert denn als »Berliner«. Der Rostocker Hinstorff-Verlag hatte es verstanden, die »jungen Problematischen« um sich zu scharen: etwa Ulrich Plenzdorf und Jurek Becker aus der selben Generation. Ein wichtiger »Mentor« wurde Franz Fühmann. Hinstorff als geistige Heimat, als Raum für Freundschaften. »Hotel oder Hospital« 1973 - eine Reportage über das neue Rostocker Krankenhaus - wird eine Auftragsarbeit gewesen sein. Dann 1974 »Neun«, das Szenarium zum Film »Ikarus«: »Da ist einer, der will fliegen. Er ist gerade neun geworden, an diesem Tag neun Jahre, und jetzt will er endlich fliegen. Er weiß noch genau, daß sein Vater sagte: Wenn du Geburtstag hast, machen wir einen RUNDFLUG. Er weiß es noch genau, auch wenn es schon lange her ist, unendlich lange, wie ihm scheint, lange vor der TRENNUNG ...«7) (Gedreht von Heiner Carow, wurde es ein leiser, trauriger und sehr poetischer Film.)
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Nur die erste Auflage durfte erscheinen

1975 dann »Alte Filme« - eine Berliner Alltagsgeschichte mit Hintersinn - und endlich 1977 »Berliner Traum. Fünf Geschichten« - ein Buch, das es in sich hatte und das in der DDR nur »unter dem Ladentisch« gehandelt wurde. Fünf Geschichten - die vom Funktionär Racholl, der mit der Ostberliner U-Bahn plötzlich im Westen landet und dort sein Leben verteidigen muss, die des Neunjährigen, dessen Vater sein Versprechen auf den Rundflug vergisst, dann eine über eine Berlinerin mit einem Tante-Emma-Laden, in dem so allerhand erzählt und gehandelt wird. Aber erben wird den Laden keines der Kinder. »Der Tod meiner Tante« ist ein Freitod aus Scham, als Buntmetallschieberin erwischt worden zu sein, und das »Ende der Jugend« spielt am Tage des 13. August 1961, als der Freund des Erzählers, der erst in einer Kneipe einem Grenzgänger die Notwendigkeit der »Maßnahme« erklären wollte, dann einem überzeugten Genossen sagt: »Ich glaube, ... es gibt Alternativen, vor die ein Mensch nicht gestellt werden sollte«,8) und über die Grenze geht. Schlesinger spielt alle Register: Dialoge, vom Munde abgelauscht, neben Absurdem, Geträumtem. Viel Berliner Alltags-Geschichte, die die Zeitgenossen mit sich schleppen: den Krieg, die Juden, die Währungsreform, die Teilung der Stadt, der Welt. Viel Atmosphärisches und in einer der Geschichten der deutliche Hinweis,

dass Nicht-Berliner den Mauerbau nicht wirklich begreifen, empfinden können.
     Heute gelesen, kann man nur staunen, dass das Buch überhaupt erschien. Aber 1977 wollte man den begabten Autor, der maßgeblich im Jahr zuvor an der Unterschriftensammlung gegen Wolf Biermanns Ausweisung beteiligt gewesen war, halten, wollte ihn mit der Publikation binden. Es war, wie Schlesinger bekannte, seine »angstfreieste« Zeit, und er tat, was er tun musste: Wollte eine Berlin-Anthologie mit Texten kritischer Autoren im Selbstverlag durchsetzen. Initiierte und unterschrieb einen Brief gegen die Kriminalisierung Stefan Heyms und wurde daraufhin mit acht Kollegen aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Er verließ die DDR, ohne die Staatsbürgerschaft abzugeben, landete im anderen Teil der Stadt, und wie schwer es ihm fiel anzukommen, ist in seiner »persönlichen Chronik« »Fliegender Wechsel« aus dem Jahre 1990 nachzulesen. Zehn Jahre Distanz hatte er gebraucht. Es war immer so gewesen: »Über die Mauer schreiben konnte ich erst, als ich sie überwunden hatte, mit einem 5-Tage-Visum, Anfang der Siebziger.«9)
     Sein erstes neues Buch im Westen (aber wohl noch im Osten geschrieben!) war die Erzählung »Leben im Winter«(Frankfurt/Main 1980), die Geburtstagsfeier in einer Berliner Familie, zu der sich West und Ost in die Ackerstraße zur siebzigjährigen Witwe eines Arbeiters einfinden.
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Scheinbar harmlos und über weite Strecken liebevoll/ ironisch wird allzu Menschliches - die kleinen Leute und ihre Macken - vorgeführt. Soziales und lokales Kolorit glänzt in schönen Dialogen.
     Als das Buch erscheint, ist der Autor gerade dabei, in West-Berlin Fuß zu fassen. Immer antikapitalistisch, wird er einer der damals vielen Hausbesetzer. Die Erfahrungen hier bestätigen seinen Traum vom solidarischen Miteinander sowie die Erfahrung der Schwierigkeit dieses Weges. »Matulla und Busch« - 1984 - ist eine auf diesem Erlebnis basierende Erzählung und zugleich ein Märchen. Schlesinger scheint sich abgefunden zu haben, ein Außenseiter, ein Träumer zu sein. Da brodelt es im Osten, und der Autor ist elektrisiert. »Das Gefühl der Erregung ... Als ich, aus dem Osten kommend, durch die Mauer fuhr, eine halbe Stunde vor Grenzöffnung, die dumpfe Ahnung vom Ende der DDR. Nicht, daß ich über den Zusammenbruch der Parteiherrschaft eine Träne vergossen hätte - wohl aber über den Verlust der Vorstellung, was hätte entstehen können in diesem Vakuum der Macht.«10) Aber als er endlich seine dicke Stasi-Akte einsehen kann, gemeinsam im Lesesaal mit Freunden, die ebenso wie er bespitzelt wurden, »wissen wir, sie (die Mächtigen aus der DDR) haben verloren. Das Dumme ist, wir haben nicht gewonnen«.11)
Nie fertig mit sich und der Welt

Hilfreich war er den Ossis mit seinem »Fliegenden Wechsel«. Als wir Westler wurden, erschien sein Buch, das sein Wechselbad der Gefühle bei der Ankunft im Westen sehr sachlich und genau registriert. Mehr als in den vorigen Büchern muss der Autor die Belange der eigenen Person einbringen. Man spürt die Scheu vor allzu Persönlichem. Ohne Selbstgefälligkeit, immer neugierig auf andere und selten ganz überzeugt vom eigenen Tun, entsteht das Bild eines verletzlichen, verlässlichen Menschen, der nie fertig ist mit sich und der Welt. Verlässlich ist der Autor vor allem in Bezug auf soziale Wachheit und Gerechtigkeit und in der Treue zu den Freunden. Schon wurde er damit als »Ostler« für immer geoutet: »weinerliche Innerlichkeit« warf ihm Katrin Hillgruber vor12) und will das ganze Buch nicht verstehen, und so wird auch Klaus Schlesinger Teil und Gegenstand des deutschen Literaturstreits, von dem er selbst sagte: »Worum es eigentlich ging, habe ich lange nicht verstanden. Jedenfalls ging es nicht um Sprache, um Geschichten, um Qualität. Vielleicht um Verdrängung, um Vorteile beim Kampf um die Plätze auf dem Literaturmarkt. Bestimmt aber ging es, auch wenn es selten ausgesprochen wurde, um Gesinnung.

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Die Attacken der pluralistischen, plötzlich wie aus einem Munde redenden Presse der BRD galten den Verfechtern eines zweiten deutschen Staates; galten den Personen, die die Ideale der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit nicht mit dem System, das diese zu repräsentieren vorgegeben hatte, untergehen lassen wollten; jenen, die den Mehrwert nicht für eine Erfindung, sondern für eine Entdeckung Marxens hielten.«13) (Als er das sagte, verteidigte er die Freunde. Eine Selbstverteidigung wäre bescheidener und zögerlicher ausgefallen.)
     Und weil es nicht nur im Literaturstreit um Gesinnung ging, meldet sich Klaus Schlesinger nach 1990 häufiger mit Artikeln, stellt sich Interviews, beteiligt sich an Dokumentationen. »Die Sache mit Randow« (1996) ist sein vorletzter Roman. Angeblich geht es um einen Tag im Jahre 1951. Aber wie immer bei Schlesinger lässt sich das Geschehene nicht mühelos aus dem Gang der Geschichte herauslösen. Das verwickelte Berlin ist Schauplatz, keine Familienidylle - vielmehr Verwicklungen um Randow (gemeint ist der sehr reale Gladow), den berüchtigten Berliner Nachkriegs-Bandenchef, seine Festnahme und Hinrichtung und die Rolle des Erzählers, der damals ein Junge war. »Der Autor ist detailbesessen und trägt mit Akribie Bilder der Vergangenheit zusammen, die auf genauen Beobachtungen basieren. Dabei erinnert er an längst vergessene Angewohnheiten, an zeittypische Haltungen, die zum Erscheinungsbild der verschlafenen und überhaupt nicht großstädtischen Hauptstadt gehörten.
Offensichtlich existiert in Schlesingers Gedächtnis für die fünfziger Jahre ein besonders geschützter Raum, zu dem Vergessen keinen Zugang hat. Der Roman lebt geradezu von mitgeteiltem Zeitkolorit«, urteilte ein Kritiker.14)
     Aber es hält den Autor offensichtlich nicht in der Erinnerung, die er wie kein anderer parat hat. Wieder hat er mit dem 2000 erschienenen »trug« (Roman) einen Berliner Traum, und wieder existiert die Mauer noch. Der Düsseldorfer Immobilienmakler Strehlow begegnet seinem Doppelgänger oder einer anderen Variante seines Lebenslaufes. Was wäre aus ihm geworden, hätte er vor zwanzig Jahren die damalige Geliebte in Ost-Berlin nicht verlassen?
     Ähnlich wie in den früheren Geschichten spielt Schlesinger hier das Absurde und die Logik des geteilten Berlin am Schicksal der scheinbaren Doppelgänger aus. Ein bisschen zu sehr festgelegt scheinen mir die Rollen der beiden, aber das ist wohl der Redlichkeit seiner Gesinnung geschuldet. Dialogisch, lakonisch und in der Spannung eines Kriminalfalles verwickelt er die Protagonisten in das Geschehen, und als ich es las, hielt ich den Roman für ein vergnügliches Zwischenstück, die Verschnaufpause vor einem großen Stück Literatur, das der weißhaarig gewordene Autor in Ruhe, Gelassenheit und Weisheit uns noch bieten würde.
     Ich weiß nicht, ob er schon von seiner Krankheit wusste, als er am 17. Mai 2000 zu Günter Gaus in einem Interview sagte:
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»Ich glaube nicht, dass ich noch schaffen werde, das zu schreiben, was ich noch schreiben will. Aber ich habe eine ganze Menge von dem geschrieben, was ich schreiben wollte.«15) Und auf die Frage: Würden Sie im Grunde alles noch einmal machen in Ihrem Leben? antwortete er mit einem kurzen: »Ja«.
     Klaus Schlesinger starb am 11. Mai 2001 an Leukämie.

Quellen:
1 Klaus Schlesinger im Gespräch mit Günter Gaus, in: Freitag 21/01, vom 18. 5. 2001, S. 3
2 Klaus Schlesinger, Russische Botschaft, in: Klaus Schlesinger, Von der Schwierigkeit, Westler zu werden, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998, S. 22/23
3 Ebenda S. 20
4 Klaus Schlesinger, Das Gerücht, in: Von der Schwierigkeit, Westler zu werden, a. a. O., S. 49
5 Klaus Schlesinger, Kein magisches Datum, Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Klaus Schlesinger über die Ausbürgerung Wolf Biermanns, in: Freitag 47/1996, vom 15. 11. 1996, S. 9
6 Klaus Schlesinger, Die Akte, in: Von der Schwierigkeit, Westler zu werden, a. a. O., S. 71/72
7 Klaus Schlesinger, Neun, in: Berliner Traum. Fünf Geschichten. Rostock 1977, S. 104

8 Klaus Schlesinger, Am Ende der Jugend, in: Klaus Schlesinger, Berliner Traum, a. a. O., S. 168
9 Klaus Schlesinger, Die Mauer, die Not und die Tugend, in: Von der Schwierigkeit, Westler zu werden, a. a. O., S. 18
10Klaus Schlesinger, Das Gerücht, a. a. O., S. 41
11Klaus Schlesinger, Die Akte, a. a. O., S. 68
12Katrin Hillgruber, Seitenwechsel ins Leere, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 2. 10. 1990, S. L 14
13Klaus Schlesinger, Das doppelte Ich, in: Von der Schwierigkeit, Westler zu werden, a. a. O., S. 98
14Michael Opitz, Von weißen Flecken umgeben, in: Freitag 14/1997 vom 28. 3. 1997, S. 16
15Klaus Schlesinger im Gespräch mit Günter Gaus, in: Freitag 21/01, vom 18. 5. 2001, S. 3

Bildquelle: P/F/H, Repro LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
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