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Kinos und sehr viele Filme kennen. Das kam mir später zugute, da konnte ich bei Film und Fernsehen arbeiten, ohne dafür zu Beginn eine spezielle Ausbildung zu haben.
     Sie sind Ingenieur für Polygraphie und haben sich, wie Sie sagen, langsam, aber sicher zu Ihrer großen Liebe, dem Film, vorgearbeitet. Wie ging denn das vor sich?
Heinz Flesch: Es fing beim Progress-Filmvertrieb als Hersteller an. Da war ich zwar noch in meinem polygraphischen Beruf, aber ich war auch schon beim Film. Dann kam das Staatliche Filmarchiv der DDR. Meine Aufgabe bestand u. a. darin, den gesamten Spielfilm-Bestand des Reichs-Filmarchivs zu katalogisieren. Das waren rund 6 000 Filme, die alle angesehen und technisch überprüft werden mußten. Nach fünf Jahren waren wir fertig. 1964 bin ich zum Fernsehen gegangen, da war ich anfangs als Redakteur für den Montagabend-Film verantwortlich.
     Der Schritt vom Filmliebhaber zum Erkunder der Orte des Geschehens war also nicht allzu groß. Wußten Sie, worauf Sie sich da eingelassen hatten?
Heinz Flesch: Nein, das hatte ich wirklich unterschätzt. Bis heute habe ich 1 055 Kinos erfaßt, also rund 1 000 Kinos für 100 Jahre Film, das ist eine ganze Menge. Und jedes Kino hat seine Geschichte. Da haben die Besitzer mehrfach gewechselt,

Alle Kinos
im Computer

Wohin den Filmfreund Heinz Flesch eine ungewöhnliche Liebe treibt

Seit gut zwei Jahren sind Sie den Berliner Kinos auf der Spur. Wer wissen will, welcher Kintopp wann wem gehörte, erhält bei Ihnen sachkundige Auskunft. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen »Sammelleidenschaft«, mit der Sie einen wesentlichen Teil der Berliner Kulturgeschichte erforschen?
Heinz Flesch: Anläßlich des hundertsten Geburtstages des Kinos suchte eine Zeitschrift jemanden, der eine Aufstellung der Berliner Kinos anfertigt. Das hat mich gereizt, und so habe ich mich an meinen Computer gesetzt und angefangen. Und zwar damit, daß ich alle Spielstätten, die ich von den 23 Stadtbezirken im Kopf hatte, eingegeben habe. Da waren schon 30 Seiten voll.
     Und woher haben Sie das gewußt?
Heinz Flesch: Schon als Kind bin ich leidenschaftlich gern ins Kino gegangen. Mit elf Jahren kam ich nach Berlin und konnte meiner Leidenschaft erst recht frönen. Wenn ich einen Film entdeckte, den ich noch nicht gesehen hatte, bin ich bis sonstwohin gefahren, um ihn mir anzusehen.
     Auf diese Weise lernte ich so ziemlich alle


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die Kinos sind um- und ausgebaut worden, die Namen wurden verändert. Die meisten existieren heute gar nicht mehr.
     Das erste Kino, so sagt es das Lexikon, befand sich in der Münzstraße, nahe dem Alexanderplatz.
     Heinz Flesch: Es wurde am 1. November 1899 mit rund 100 Plätzen eröffnet, als erstes festes Kino für zahlende Zuschauer. Der Besitzer war bis 1940 Otto Pritzkow, der vorher an gleicher Stelle ein Automatenrestaurant betrieben hatte. Dort konnte man sich nicht nur Essen aus den Automaten holen, sondern auch mit dem Kinetoscope Bilder anschauen. Ursprünglich hieß das Kino »Abnormitäten- und Biographentheater«. Man wußte damals nicht, welche Namen man den neuen Spielstätten geben sollte. Die meisten hießen einfach »Kinematographen-Theater«, also nach der Bezeichnung des Vorführapparates. Deshalb sagte man auch lange der Kino, nicht das Kino. Das Pritzkow-Kino in der Münzstraße wurde am 31. Oktober 1959 geschlossen, einen Tag vor seinem 60jährigen Bestehen. Es war übrigens auch das erste Tageskino in Berlin. Es öffnete jeden Tag vormittags um zehn, und bis zum Vorstellungsschluß am späten Abend wurde es nie hell in diesem Raum. Kam man beispielsweise, wenn das Programm schon zur Hälfte gelaufen war, durfte man so lange bleiben, bis man dann nach dem Schluß auch die erste Hälfte gesehen hatte.
Brauchte das Kino lange, um die Zuschauer anzulocken?
Heinz Flesch: Das Urkino war ja der Wintergarten, wo Skladanowski am 1. November 1895 seine Filme vorgeführt hatte. Danach gab es bald viele Vorstellungen in Zelten, auf Jahrmärkten, später in den sogenannten Ladenkinos. Da wurde aus einem Gewerberaum einfach ein Kino gemacht, oft auch auf dem Hinterhof. Man mußte nur Stühle oder Bänke hinstellen, eine Leinwand aufhängen, und dann konnte losgekurbelt werden. Die Projektionsmaschine war mit Öllampen oder Bogenlampen bestückt.
     Weil der Film sich leicht entzündete, war das immer eine sehr gefährliche Angelegenheit. Wenn der Projektionsapparat stockte und der Film im Bildfenster längere Zeit stehenblieb, brannte es schon. Da genügten ein paar Sekunden, normalerweise rauschten ja 24 Bilder in der Sekunde vorbei. Der Projektionsapparat stand damals noch inmitten der Zuschauer. Der Filmvorführer mußte übrigens Mitglied der Transportarbeiter-Gewerkschaft sein, weil der Film im Projektor transportiert wurde. Obwohl es seit 1910 leistungsfähige Elektromotoren gab, war ihr Einsatz viele Jahre verboten, weil, wie es das Gesetz vorschrieb, »der Filmtransport mittels Handkurbel zur erhöhten Aufmerksamkeit bei der Arbeit mit dem leicht entflammbaren Film anhalte«.
     Zwischen 1905 und 1907 erlebte Berlin einen regelrechten Kinoboom, von 16 erhöhte sich

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die Zahl auf 139 Kinos. Man ging damals mit Kind und Kegel ins Kino, dort wurde geraucht und Bier getrunken, und es gab auch einige schwere Unfälle.
     Heinz Flesch: Am 26. Dezember 1911 brannte es im »Templinschen Theater« in der Frankfurter Allee 153. Bei diesem Unglück sind zwei Kinder ums Leben gekommen. Dieser Brand ist deshalb in die Geschichte eingegangen, weil er Feuerwehr und Polizei zum ersten Mal auf den Plan gerufen hat. Danach wurde ein generelles Rauchverbot in den Kinos ausgesprochen. Außerdem durften Kinder bis sechs Jahre überhaupt nicht mehr, größere nur in Begleitung der Eltern ins Kino.
     Was war die Folge dieser polizeilichen Maßnahmen?
Heinz Flesch: Diese Maßnahmen waren natürlich rigoros, und nicht wenige der kleinen Ladenkinos mußten schließen, weil die Besucher wegblieben. Man muß dazu wissen, daß viele Kinos zusammen mit Kneipen betrieben wurden. Man konnte hineingehen, einen Film ansehen und dabei sein Bier trinken. Diese Kneipen waren oft in Gegenden, wo Ganoven verkehrten, beispielsweise um den Alex. Und hinzu kam das Verbot, das Licht zu löschen. Die Polizei konnte im Dunkeln nicht kontrollieren, bei Licht aber konnte kein Film vorgeführt werden. Auch das brachte mehreren Kneipen mit Kinovorführung das Aus.
     Später richteten große Brauereien in Ber

lin in ihren Räumen Kinos ein. Das größte betrieb die Brauerei Königstadt AG in der Schönhauser Allee 10-11. Schon 1907 wurde der Fest- und Konzertsaal für gelegentliche Vorführungen genutzt. Man saß am Biertisch, und auf der Leinwand lief der Film. 1914 wurde dort ein richtiges Kino eingebaut. Es hieß »Riesenlichtspiele« und hatte Platz für zweitausend biertrinkende Zuschauer.
     Kinos entstanden, gingen wieder ein, neue öffneten oft in der gleichen Straße. Ein Grund für dieses Auf und Ab ist sicher in der 1912 eingeführten Steuer zu sehen.
     Heinz Flesch: Schöneberg, das damals ja noch nicht zu Berlin gehörte, führte im April 1912 die Lustbarkeitssteuer für die Kinos ein. Ein knappes Jahr später trat sie auch in den Berliner Bezirken in Kraft; sie wurde in den ersten Jahren auch Schöneberger Steuer genannt. Das war die Geburtsstunde der abreißbaren und numerierten Eintrittskarte als Steuerbeleg. Und die Steuer hat vor allem den kleinen Kinos zu schaffen gemacht. da hat dann manch Kinobesitzer die oft achtlos weggeworfenen und nicht abgerissenen Eintrittskarten wieder aufgesammelt und noch einmal verkauft. Nicht selten wurde auch eine Stuhlreihe mehr in den Raum gestellt.
     Die neu entstandenen Kinos nahmen nicht wenigen der kleinen Theater die Zuschauer weg. Was hatte das für Auswirkungen?
Heinz Flesch: Die Theater haben diese

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Konkurrenz natürlich nicht geschätzt. Als dann größere Kinos entstanden, wurde auch bewußt versucht, einen gewissen Theatereindruck zu vermitteln, das kam schon im Namen zum Ausdruck. So hießen viele Kinos Filmtheater. Auch der Vorhang sollte solche Assoziationen wecken. Diesen Vorhang, der die Leinwand zum Vorstellungsbeginn freigab, hätte man ja gar nicht gebraucht. Die Auseinandersetzungen zwischen Theatern und Kinos gipfelten darin, daß die großen Berliner Bühnen ihren Schauspielern verboten, in Filmen mitzuwirken. Der Durchbruch kam erst, als der berühmte Paul Wegener 1913 in »Der Student von Prag« und 1914 den »Golem« spielte. Als der Film zur Kunst geworden war, hatte das natürlich wieder Auswirkungen auf die Kinolandschaft. Übrigens spielten viele Kinos in ehemaligen Theatern, und auch Kinos wurden später zu Theatern. Und in manchen ehemaligen Kinos befinden sich heute Einkaufszentren, ganz deutlich ist das noch an den Fassaden in der Turmstraße 25 und der Schöneberger Hauptstraße 78 zu erkennen.
     Ab 1910 wurden die ersten großen Kinopaläste gebaut, mit Logen, Rängen und Orchestergraben. Für diese Bauten wurden auch berühmte Architekten bemüht. War das eine weitere Konkurrenz für die kleinen Kinos?
Heinz Flesch: Ja und nein. Der richtige Kinobesucher, der richtige Kinofan, blieb
und bleibt seinem Kino im Kiez treu. Die Kinopaläste, beispielsweise am Kurfürstendamm, waren ja Theater, die die Ku-Damm-Bummler anziehen sollten. Die sogenannten kleinen Leute aus Friedrichshain oder Kreuzberg sind nicht zum Kurfürstendamm gegangen. Das waren ja Theater, in die man auch entsprechend gekleidet ging.
     Und die Eintrittspreise waren dort auch viel höher.
     Wann gab es denn in Berlin die meisten Neueröffnungen von Kinos?
Heinz Flesch: 1912 wurden 97 neue Kinos eröffnet, 1910 waren es 69, 1918 noch 56.
     Und die meisten Kinos in einer Straße gab es in den besten Zeiten am Kurfürstendamm mit 24 und in der Friedrichstraße mit 19.
     Ein eigenes Kapitel in der Berliner Filmgeschichte sind die Grenzkinos.
     Heinz Flesch: Sie spielten für die Ostberliner zu Vorzugspreisen und waren vor allem in der Gegend um das Schlesische Tor und in der Potsdamer Straße angesiedelt. Die ersten Grenzkinos waren das »Stella« in der Köpenicker Straße, das »WBT« in der Schlesischen Straße und die »Camera« am Potsdamer Platz. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 fehlten von einem Tag auf den anderen etwa 90 Prozent der Besucher. Zehn Kinos wurden sofort geschlossen. Insgesamt führte der Mauerbau zur Schließung von 22 Kinos mit mehr als zehntausend Plätzen.

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   36   Berliner Gespräche Kinos auf der Spur  Voriges BlattNächstes Blatt
Die Kinolandschaft hat sich entscheidend verändert. Heute zählt man nicht mehr Kinos, sondern Leinwände. Allein der »Zoo-Palast« hat neun Leinwände. Hat denn ein Kino aus der guten alten Zeit überlebt?
Heinz Flesch: Das älteste Kino ist das »Moviemento« am Kottbusser Damm 22 in Kreuzberg. 1907 von Alfred Topp gegründet, hieß es im Volksmund Lichtspielhaus am Zickenplatz. Die Legende sagt, daß aus »Topps Kino« der Name Kintopp wurde.
     Das Gespräch führte Jutta Arnold
National-Theater und Volksbühne Richard-Oswald-Lichtspiele 2 (1919), D. A. T.-Lichtspiele (bis 1942)
Universum-Theater (Reichenberger Straße 34, Kreuzberg), auch Luisen-Theater
Luisentheater-Lichtspiele (1921-1943)
Theater am Kottbusser Tor (Kottbusser Straße 6, Kreuzberg), dazwischen auch Bendows-Bunte-Bühne
SANSSOUCI und B. B. B.-Filmpalast (1911-1971)
Friedrich-Wilhelmstädtisches Theater (Chausseestraße 30-31, Mitte) Cines-Friedrich-Wilhelmstädtisches Theater (1913), Metro-Palast (1924-1939)
Saalbau Theatersaal (Karl-Marx-Straße 141, Neukölln) Neuköllner Theater-Lichtspiele (1918), dann Städtisches Lichtspielhaus (1919), dann Excelsior-Lichtspiele (1927-1953) - heute »Saalbau Neukölln« -
Mozartsaal des Neuen Schauspielhauses (Nollendorfplatz 5, Schöneberg)
Mozartsaal-Lichtspiele (1910-1926), dann UFA-Theater Mozartsaal (1926), dann Neue Scala (1949), dann Metropol-Filmbühne (1951-1977) - heute »Metropol« -
Kleinkunstbühne Nelson-Theater (Kurfürstendamm 217, Charlottenburg) Astor-Filmbühne (seit 1934)
Theater am Kurfürstendamm (Kurfürstendamm 206-209, Charlottenburg) Kuli im Kudamm-Karree (seit 1972)
Voigt-Theater/Olympia-Theater (Badstra-ße 58, Wedding) Alhambra (1923-1936), dann Neue Alhambra (bis 1969)

Mal Kino,
mal Theater


Theater wurden Kinos:

Theater Groß-Berlin (Hardenbergstraße 29, Charlottenburg) Cines-Palast am ZOO (1913-1915), Otto Reutters »Palast-Theater« (1915-1919), UFA-Theater, bzw. UFA-Palast am ZOO (1919-1943, kriegszerstört)
Prinzeß-Theater (Kantstraße 163, Charlottenburg) Richard-Oswald-Lichtspiele 1 (1919), Victoria am ZOO (bis 1945)
Deutsch-Amerikanisches Theater (Köpenicker Straße 68, Mitte), auch


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   37   Berliner Gespräche Kinos auf der Spur  Voriges BlattArtikelanfang
Noacks Theater (Brunnenstraße 16, Mitte)
Noacks Lichtspiele (1910), dann Cinema-Lichtspiele (1928), dann Helios-Lichtspiele (1933-1943)
Folies Caprice (Elsasser Straße 43, Mitte)
Prinzess-Lichtspiele (1913), dann Patria-Lichtspiele (1928-1942)
Concordia-Festsäle (Andreasstraße 64, Friedrichshain) Schauburg-Lichtspiele (1918-1922), Concordia-Lichtspiel-Palast (1922-1943)
Kaiserhallen/Konzerthaus Buggenhagen (Oranienstraße 147, Kreuzberg) UT-Moritzplatz (1910-1920), dann Theater am Moritzplatz/TAM (bis 1943)
Prachtsäle des Westens (Spichernstraße 3, Wilmersdorf) Licht-Schauspiele (1910-1933)
Sportpalast (Potsdamer Straße 170-172, Schöneberg) Sportpalast-Lichtspiele (1919-1921), dem »größten Kino der Welt«
Eispalast (Lutherstraße 22-24, Schöneberg)
Scala-Palast (1920-1923)

Kinos wurden Theater:

Börsen-Lichtspiele (1906-1965/Proskauer Straße 19, Friedrichshain) TIK - Theater im Kino
OTL/Camera (1949-1989/Oranienburger Straße, Mitte) Tacheles
Atlas (1949-1972/Greifswalder Straße 81-84, Prenzlauer Berg) Puppentheater »Schaubude«

Roxy (1912-1952/Belforter Straße 15, Prenzlauer Berg) BAT-Theater
Lichtspieltheater Bellevue (1957-1974/Altonaer Straße 22, Tiergarten) Grips-Theater
Filmbühne Hansa (1913-1963/Alt-Moabit 47-48, Tiergarten) Hansa-Theater
Weltkino (1919-1966/Alt-Moabit 99, Tiergarten) Berliner Kammerspiele
Terra-Theater (1919-1924/Hardenbergstraße 6, Charlottenburg) Renaissance-Theater
Kammer-Lichtspiele (1911-1965/Frankfurter Allee 91, Friedrichshain) Theater im Schmalen Handtuch Admirals-Kino (1911-1945/Friedrichstraße 101-102, Mitte) Kabarett »Die Distel«
Flora/Fortuna-Lichtspiele (1910-1966/Florastraße 16, Pankow) Figurentheater »Homunkulus«
Korso-Lichtspiele (1956-1973/Südwest-Korso 64, Schöneberg)
Kleines Theater
Kino im Quartier Latin/Biophon (1913-1992/Potsdamer Straße 96, Tiergarten) Varieté »Wintergarten«
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 12/1996
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