112   Geschichte und Geschichten Victor Aronstein  Nächste Seite
hört heute zu der Woiwodschaft Pila in Polen), das geprägt war durch polnische, deutsche und jüdische Geschichte und Traditionen. Seit 1904 leben die Aronsteins in Berlin, in der Breslauer Straße. In der Folgezeit wechselt die Familie mehrfach die Wohnung, um dann in der Marsiliusstraße 16 eine dauerhafte Wohnstätte zu finden. Victor besucht nach der Volksschule das Köllnische Gymnasium, an dem er eine humanistische Bildung erhält. Im Oktober 1915 rückt er, fast 19jährig und ohne Abitur, in das Heer ein. Daß er 1917 das Eiserne Kreuz und 1918 das Verwundetenabzeichen bekam, führt ihn anderthalb Jahrzehnte später zeitweilig zu der Illusion, dadurch den Verfolgungen der Nazis entgehen zu können.
     Noch als Soldat läßt er sich – nach abgeschlossener Reifeprüfung – an der Berliner Universität, an der Charité, zum Medizinstudium immatrikulieren, zwischendurch hört er auch Vorlesungen in Heidelberg. Ein Praktikum absolviert er 1925/26 am Jüdischen Krankenhaus in Berlin- Wedding, seine Approbation als Arzt erhält er am 17. August 1926. Er findet eine Anstellung an der Universitätskinderklinik in der Schumannstraße. Zugleich arbeitet Victor Aronstein an seiner Dissertation, die er zum Thema »Über die sogenannte Myositis ossificans progressiva« am 28. April 1927 erfolgreich verteidigt. Danach arbeitet er für einige Jahre in Birkenwerder bei Berlin im Krankenhaus- Sanatorium, zunächst als Assistenz-
Herbert Mayer
Besonders beliebter Dr. Aronstein

Victor Aronstein war, so viele Zeitzeugen, ein allseits beliebter und außergewöhnlich hilfsbereiter jüdischer Arzt, der von 1933 bis 1938 in Hohenschönhausen praktizierte. An ihn erinnerten sich noch Jahrzehnte später viele ehemalige Patienten mit Dankbarkeit. Der am 1. November 1896 geborene Aronstein wurde von den Nazis im Januar 1945 in Auschwitz ermordet.
     Das Heimatmuseum Hohenschönhausen macht sich verdient mit der Gedenkausstellung »Victor Aronstein. 1896–1945«. Die Ausstellung flankierend, liegt gleichzeitig die Publikation »Victor Aronstein. Gedenkschrift zu seinem 100. Geburtstag am 1. November 1996«1) vor. Die Autoren zeichnen erstmals den Lebensweg von Aronstein nach, den sie in mühevoller Kleinarbeit, in aufwendigen Recherchearbeiten aufgespürt haben. Ausstellung und Publikation zeigen Aronstein als außergewöhnliche Persönlichkeit, als Arzt mit einem hohen Ethos, als Mensch, der mit großem Engagement seinen Beruf ausübte.
     Geboren und aufgewachsen ist Victor Aronstein als Sohn eines Brauereibesitzers in dem kleinen Städtchen Margonin (es ge-

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arzt und 1930 als Oberarzt. Er trägt nun Verantwortung für 300 Kranke, sammelt zugleich Erfahrungen als Facharzt für innere Krankheiten. 1931 läßt er sich in Berlin als praktischer Arzt nieder, ohne aber eine Krankenkassenzulassung zu erhalten. Diese erlangt er erst Anfang 1933 für Hohenschönhausen, wo er anfangs in der Bahnhofstraße 1, später in der Berliner Straße 126 praktiziert. Mit der Machtübernahme durch die Nazis begann auch für Aronstein eine schwere Zeit.
     Über diese Zeit Aronsteins in Hohenschönhausen existieren kaum schriftliche Dokumente, doch viele Zeitzeugen, Patienten und Einwohner, erinnern sich an ihn. Sie bestätigen, daß er ein außergewöhnlicher Arzt war, der ständig für seine Patienten da war.
     Die Beliebtheit und der berufliche Erfolg Aronsteins sind den Nazis ein Dorn im Auge. Er wird denunziert, seine Wohnung wird ihm gekündigt. Nur mühsam gelingt es ihm, Anfang 1937 in der Werneuchener Straße 3 eine neue Wohnung und Praxis zu finden. Als 1938 die Nazis weitere Restriktionen gegen jüdische Ärzte inszenieren, muß ihm spätestens jetzt klar geworden sein, daß die Teilnahme am Ersten Weltkrieg für ihn keinen Schutz bedeutete. Nach der »Reichskristallnacht« kann er seinen Beruf nicht mehr legal ausüben, darf er nur noch »Krankenbehandler« sein. In seiner Wohnung ist er nicht mehr sicher, Anfang 1939 verläßt er
Hohenschönhausen, lebt unter schwierigen Bedingungen wohl kurze Zeit in Kreuzberg bei einem Schwager, dann in Charlottenburg. Seine Absicht, seinen Schwestern nach Chile in die Emigration zu folgen, kann er nicht mehr verwirklichen. Mehrmals wird Aronstein von der Gestapo verhaftet und verhört.
     Als ihm bekannt wird, daß er in ein Ghetto deportiert werden soll, lehnt er ab, sich zu verstecken oder illegal ins Ausland zu gehen, da er seine Freunde nicht gefährden will. Zu dieser Zeit ist ihm noch unbegreiflich, daß die Deportation den sicheren Tod bedeutet. Am 1. November 1941 wird er von der Gestapo abgeholt, dann mit seiner Verlobten und langjährigen Sprechstundenhilfe Lotte Korn, die er vermutlich im März 1942 heiratet, vom Bahnhof Berlin- Grunewald in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz) abtransportiert. Dort wirkt Aronstein als Arzt in einem Krankenhaus. Sein letzter Brief (in der Publikation abgedruckt) stammt, als Feldpostbrief getarnt, wahrscheinlich aus dem August 1943. Vermutlich im August/September 1944 wird er in das KZ Auschwitz gebracht und dort zwei Wochen vor der Befreiung des KZ durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 von den Nazis in den Gaskammern ermordet. Nichts bekannt ist über den Tod seiner Frau, für beide gibt es kein Grab.
     Die Ausstellung belegt mit zahlreichen Originalen, Dokumenten und Faksimiles den Lebens- und Leidensweg Aronsteins.
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Manch Erinnerungsstück ist von Hohenschönhausener Bürgern über die Jahrzehnte gerettet worden. Eine dieser Raritäten ist das Arztschild Aronsteins aus der Werneuchener Straße. Zu den wenig erhalten gebliebenen Gegenständen aus Aronsteins Besitz gehören sein Zigarettenetui und ein Teddy, mit dem er als Kind spielte.
     Mehrere Bilder – in Ausstellung und Publikation – zeigen Aronstein im Kreise seiner Freunde, Bekannten, Verwandten oder ärztlichen Kollegen.
     Nicht uninteressant sind auch weiter erwähnte Fakten: Als 1958 ein Jugendheim in Hohenschönhausen den Namen Aronsteins erhielt, rezitiert auf der Gedenkfeier Eduard von Winterstein Lessings Ringparabel »Nathan der Weise« und Eberhard Rebling und Lin Jaldati gestalteten das musikalische Programm. Gabriele von Kempen malte 1978 das Bild »Dr. Victor Aronstein« für einen Jugendklub. Im Dezember 1995 wurde Aronstein in Yad Vashem in Jerusalem, in der Gedenkstätte für die vom Nationalsozialismus ermordeten Juden zur Registrierung angemeldet.
     Eine Aufstellung am Ende des Heftes gibt einen Überblick über Materialien, die im Heimatmuseum Berlin- Hohenschönhausen zu Victor Aronstein aufbewahrt werden. Dazu gehören eine beglaubigte Abschrift aus dem Geburtsregister des Standesamtes Margonin, ein vorläufiges Besitzzeugnis über die Verleihung des Eisernen Kreuzes
1917, das Zeugnis über die Kriegsreifeprüfung vom 29. Juni 1917, das Zeugnis der Prüfungskommission zu Berlin über die ärztliche Vorprüfung am 19. November 1920. Genannt werden auch die Urkunde der Friedrich- Wilhelms- Universität zu Berlin über die Immatrikulation Aronsteins vom 19. Oktober 1922, seine Inaugural- Dissertation an der Friedrich- Wilhelms- Universität 1927, verschiedene Zeugnisse über seine ärztliche Tätigkeit, der Ausschließungsschein aus der Wehrmacht von 1938, Bescheide über die Judenvermögensabgabe, sowie Kopien aus dem Staatsarchiv Lodz (u. a. Eingangsliste des Ghettos Litzmannstadt, Anmeldung von Lotte und Victor Aronstein in der dortigen Fischstraße, Listen der Ärzte im Ghetto Litzmannstadt).
     Der in einer Auflage von 1 000 Exemplaren herausgegebenen Gedenkschrift sei eine umfangreiche Verbreitung gewünscht. Auch, wie es im Geleitwort heißt, um »die Sinne gegen das Aufkeimen nationalistischen, antisemitischen und rassistischen Denkens wachzuhalten und zu schärfen«.

Quelle:
1     Thomas Friedrich/Daniela Fuchs/Christa Hübner unter Mitarbeit von Regina Rahmlow: Victor Aronstein. Gedenkschrift zu seinem 100. Geburtstag am 1. November 1996, hrsg. vom Verein »Biographische Forschungen und Sozialgeschichte e. V.«, Berlin 1996

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