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Hainer Weißpflug
»Auf dem Wege nach dem Thiergarten rechter Hand ...«

Berlins erster Schulgarten und sein Gründer Julius Hecker

Wer in diesen Tagen die rote Info-Box am Rande des Baugeschehens Potsdamer Platz besucht, kann erleben, wie aus dem wüsten Durcheinander von Baugruben, Baggerseen, Schuttbergen und Behelfsstraßen die Fundamente der neuen Bebauung dieses geschichtsträchtigen Geländes hervorwachsen. In den 20er Jahren war der Platz ein Zentrum des hauptstädtischen Lebens, ein stark frequentierter Verkehrsknotenpunkt. Im Größenwahn des Dritten Reiches verging alle Urbanität, und der Platz wurde zur wüsten Stelle, die er im Schatten von Mauer und Todesstreifen über 40 Jahre lang geblieben ist. Daran erinnern sich die meisten Besucher der Baustelle, und in der Info-Box bekommt man dazu Informationen in Wort und Bild.
     Aber die Geschichte des Geländes reicht viel weiter zurück. Wo heute zwischen Ebertstraße und Entlastungsstraße der Tiergartentunnel entsteht, wo an der Lennéstraße die Gebäude des Kaufhausriesen Hertie

emporwachsen werden, befand sich vor 245 Jahren der erste Berliner Schulgarten. Um 1750 ließ der Oberkonsistorialrat Julius Hecker eine »wüste« Stelle, rechter Hand vom Potsdamer Tor, zwischen Bellevuestraße und dem sogenannten Kanonenwege – das heutige Dreieck zwischen Bellevue-, Lenné- und Ebertstraße – einzäunen und als Schulgarten seiner »Mathematisch- ökonomischen Realschule« gestalten. Am 24. Juli 1750 berichtete die gut und schnell informierende volkswirtschaftliche Zeitschrift »Leipziger Sammlungen«, man »habe ganz besondere Anstalt zum lebendigen Unterricht in Plantagen- Sachen gemacht. Denn man hat ein Stück Acker gegen Erb-Pacht acquiriret, und läßt der Jugend in Recreations- Stunden in der That selbst zeigen, was bey dem Anlegen der Hecken, dem Säen, Pflanzen, Pfropfen, Oculieren etc. und sonderlich der Wartung und Pflanzung der Maulbeer- Bäume zum Seidenbau in Acht zu nehmen«.1) Fast 20 Jahre wurde dieser Schulgarten betrieben. Erst nach Heckers Tod und der Umorientierung der Schule ist das Gelände schließlich um 1825 für 4 700 Taler an den Zimmermeister Schellhorn verkauft worden, der es der Bebauung zuführte.
     Wer war dieser Julius Hecker, und was veranlaßte ihn, einen Schulgarten einzurichten – eine pädagogische Methode, deren Ursprung gewöhnlich im 20. Jahrhundert gesehen wird? Johann Julius Hecker wurde am 2. November 1707 in Werden an der Ruhr
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geboren. Vater und Großvater waren Schulmänner. Bis zum 14. Lebensjahr besuchte er eine vom Vater geleitete Schule. Danach kam er auf ein Gymnasium in Essen, dessen Rektor Johann Heinrich Zopf großen Einfluß auf den jungen Hecker ausübte. Neben Naturwissenschaften und alten Sprachen widmete er sich hier auch der Geschichte, der Geographie und der Redekunst. An der Universität Halle, die er ab 1726 besuchte, beeindruckte ihn vor allem der Theologe und Pädagoge August Herrmann Francke (1633–1727), der Gründer des Waisenhauses zu Halle und der damit verbundenen Anstalten. So nahmhafte Theologen wie Johann Joachim Breithaupt (1658–1732), Abraham Vater (1648–?), Joachim L. Lange (1670–1744) führten ihn zu seinen theologischen Studien. Schon ab 1729 übernahm er ein Lehramt am Pädagogikum in Halle und unterrichtete Latein, Arithmetik und Geschichte, und er gab bald in höheren Klassen Unterricht in der Geschichte der deutschen Sprache, in Religion, im Hebräischen und Griechischen und in Naturwissenschaften.

Nachdrücklicher Auftrag, sich der Jugend anzunehmen

1735 wurde Hecker an das Militärwaisenhaus zu Potsdam, eine Stiftung Friedrich Wilhelms I. (1688–1740), als Prediger und Schulinspektor berufen. Hier unterrichtete er auch die Prinzen in Naturgeschichte und

erwarb das Vertrauen des Königs. Anläßlich einer Predigt in Wusterhausen »am 19. Sonntag nach Trinitatis« (erster Sonntag nach Pfingsten) 1738 berief Friedrich Wilhelm I. auf dem dortigen Schloßplatz Hecker als Prediger an die noch im Bau befindliche Dreifaltigkeitskirche (eingeweiht am 30. August 1739). Es wird von einer nachdrücklichen Instruktion berichtet, die der König Hecker dabei erteilte: »Nun soll er bei der neuerbauten Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Prediger sein, er muß, wie er heute hier gethan, den Leuten auf der Friedrichstadt den Herrn Jesum predigen und sich der Jugend recht annehmen, denn daran ist das Meiste gelegen.«2)
     Vor allem letzterer widmete sich Hecker mit besonderem Einsatz. Nachdem er sein Predigeramt an der Dreifaltigkeitskirche angetreten hatte, kümmerte er sich zunächst um Elementar- und Armenschulen. Er richtete neue Schulen ein, erweiterte ihren Unterricht, besorgte Mittel zu deren Erhalt und unterstellte sie einem besonderen Inspektor. 1747 erwarb er ein eigenes Schulhaus und gründete seine »Mathematisch- ökonomische Realschule«. Julius Hecker hatte sich in Halle mit der Reformpädagogik von Comenius beschäftigt und die pädagogischen Gedanken von Francke kennengelernt. Davon angeregt, strebte er einen neuen Schultyp an: eine allgemeinbildende und der Arbeitswelt verbundene Schule.
     Julius Hecker richtete nach und nach eine
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mathematische, eine geometrische, eine architektonische, eine geographische, eine physikalische Klasse, eine Manufaktur- und Kommerzienklasse, eine ökonomische und eine Extraklasse ein. Zeichnen sollte in allen Klassen unterrichtet werden, und die Lehrmethode war durchweg eine praktische, auf vielfache Anschauung und Anwendung gerichtet. Friedrich der Große (1712–1786; Kg. 1740) unterstützte dieses Vorhaben und begleitete es mit besonderer Aufmerksamkeit. Auf seine Verordnung hin wurden alle Meisterstücke des Berliner Handwerks an der Realschule gezeigt, um jungen Menschen, die nicht studieren, Wissen über die verschiedenen Berufe zu vermitteln.
     Diesem Ziel der Berufsfindung dienten auch Aufenthalte in Handwerksbetrieben und Manufakturen. Hecker glaubte, daß die jungen Leute anhand der praktischen Anschauung ihre eigene Neigung und Befähigung für einen bestimmten Beruf besser erkennen können. »Auch wenn diejenigen, die solchen Unterricht in Schulen bekommen, nachher studiren solten«, schrieb er, »so wird ihnen derselbe in allen Ständen mehr Nutzen bringen als ihr Gerundium und Supinum, das sie in der Grammatic ... erlernet haben. Manche würden hernach nicht mit fremden Augen sehen dürfen und von einer zur Untersuchung gebrachten Sache richtiger urteilen können.«3)
Die Geburtsstunde einer neuen Unterrichtsmethode

Hier liegt auch der Ansatz für den Schulgarten. Hecker wollte den naturkundlichen Unterricht in einem größeren Gartengelände praktisch unterstützen und so den allgemeinbildenden Unterricht mit der Arbeitswelt verbinden. Besagtes Gelände vor dem Potsdamer Tore schien Hecker dafür geeignet. Bei Friedrich II. fiel sein Gesuch, diesen Platz für den Schulgarten zu bekommen, auch deshalb auf günstigen Boden, weil er die Ausbildung von Landschullehrern versprach und in Aussicht stellte, sie auch in der Anlage und Pflege von Maulbeerplantagen für den Seidenbau zu unterrichten.
     Friedrich der Große förderte den Seidenbau in Preußen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, um den steigenden Bedarf an Seidenstoffen zu befriedigen und von teuren Seidenimporten unabhängig zu werden. So begrüßte er Heckers Plan und wies die Lietzower Kirche – Eigentümerin der Äcker vor dem Potsdamer Tor – an, das Gelände der Realschule gegen eine geringe Erbpacht (jährlich 8,5 Taler) zu überlassen.
     Geldspenden Unbekannter, kostenlose Bereitstellung von Bauholz und Steinen für das Gärtnerhaus durch die Regierung und eigener Einsatz Heckers ließen schon bald einen gepflegten Schulgarten entstehen, Maulbeerbäume wurden angepflanzt, eben-

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so Obstbäume, und es wurden Gewürzpflanzen und Gemüse angebaut. Ein angestellter Gärtner sorgte für die notwendige Anleitung der Schüler bei der Gartenarbeit. Nach und nach brachte Hecker auf einem Teil des Gartens allerlei exotische Gewächse unter und schuf schließlich einen botanischen Garten zum Nutzen der Schüler.
     In einem nach Heckers Tod vom bekannten Botaniker Gleditsch (1714–1786, siehe auch BM 10/96, S. 3 ff.) aufgenommenen Inventar des Realschulgartens wurden neben »mehreren Treibhäusern und Mistbeeten, eine kleine Orangerie, Ananas, Cypressen, Lorbeern, Myrthen, Granaten, Aloe, Pisang, selbst Agaven und Kaffeebäume erwähnt«.4) Friedrich Nicolai (1733–1811), ab 1748 selbst Schüler der Realschule, erwähnt den Realschulgarten in seiner »Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam«: »Noch lieget auf dem Wege nach dem Thiergarten rechter Hand, nahe der Stadtmauer: der botanische Garten der Realschule ...«5)
     So wie Friedrich II. das Projekt des Schulgartens unterstützte, begleitete er alle Bemühungen Heckers mit beachtlicher Aufmerksamkeit. Die Realschule erhielt die Privilegien für eine Buchhandlung (1749) und zum Druck eines öffentlichen Zeitungsblattes mit dem Titel »Von den merkwürdigsten

Ausschnitt aus einer Karte vom Tiergarten, 1765

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Sachen aus dem Reiche der Natur, der Staaten und Wissenschaften« (1750).
     Diese Unterstützung und die Wohltätigkeitsspenden beförderten Heckers Pläne, und so erweiterte er seine Schule, legte ein großes Pensionat an und widmete sich mit hohem Einsatz den Kindern der Armen. Die Idee seiner Schule konnte sich praktisch nur durchsetzen, wenn auch die entsprechenden Lehrkräfte zur Verfügung standen, und so trug Hecker sich schon seit 1746 mit dem Gedanken, eine Anstalt für Lehrerbildung zu schaffen. 1753 endlich wurde ein öffentliches Küster- und Schulmeisterseminar mit der Realschule verbunden, in welches zunächst nur Handwerksburschen aufgenommen wurden, die später neben dem Unterricht noch ein Handwerk betreiben mußten.

Hohes Lob von Friedrich Nicolai

Es läßt sich denken, daß all dies auch mit immensen Schwierigkeiten verbunden war. Sein Zeitungsprojekt z. B. ging während des Siebenjährigen Krieges ein, aber Hecker ließ sich dadurch nicht entmutigen. Der König betraute ihn zudem mit zusätzlichen Ämtern und Aufgaben. Schon 1750 wurde er zum Oberkonsistorialrat ernannt und Mitglied des lutherischen Oberkonsistoriums. Die Aufforderung des Königs, seine Ansichten und Erfahrungen

durch Entwerfen einer Ordnung für Landschulen publik zu machen, erfüllte Hecker so nachhaltig, daß es 1763 zum Gesetz erhoben wurde. 1766 prüfte er im Auftrag des Oberkonsistoriums die lutherischen Landschulen des Herzogtums Cleve und der Grafschaft Mark. 1764 übernahm er die Reorganisation des Waisenhauses in Frankfurt an der Oder.
     Bei all dem fand Hecker dennoch Zeit, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse und pädagogischen Ansichten zu publizieren. Schon 1733/34 hatte er zwei kleine Schriften »Einleitung in die Botanik« und »Betrachtung des menschlichen Körpers nach der Anatomie und Physiologie« veröffentlicht. 1757 erschien »Flora Berolinensis«.
     Am 24. Juni 1768 verstarb Julius Hecker nach zweijähriger Krankheit. Unter großer Anteilnahme der Berliner wurde er beigesetzt. Aus der Heckerschen Realschule ging schließlich das Königliche Friedrich- Wilhelms- Gymnasium hervor. Anläßlich des 100. Todestages von Julius Hecker würdigten Lehrer und Schüler die Gründung der Dreifaltigkeitskirche, der Realschule und Heckers Verdienste insgesamt. Der damalige Direktor Ranke (1802–1876) hob vor allem dessen Wirken als Prediger, Reformpädagoge und Organisator des Schulwesens hervor. »Er hinterließ, als er starb, drei große Schulhäuser, ein Direktorhaus, einen botanischen Garten, eine Maulbeerplantage, eine Buchhandlung, einen Modellensaal,
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viele Schulgerätschaften und Unterichtsapparate, einige Capitalien.«6)
     7 200 Kinder gingen durch Heckers Schule, und 3 000 von ihnen erhielten freien Unterricht. Größen wie Friedrich Nicolai würdigten die Heckersche Realschule als »ganz neue Welt«, in der er in einem Jahre mehr gelernt habe, als in den fünf Jahren vorher auf zwei berühmten und gelehrten Schulen. Was Nicolai zu solcher Wertung veranlaßte, war vor allem die andere Methode, die Verbindung von Schule und Leben, von Schule und Arbeit.7)

Quellen:
1     Leipziger Sammlungen von Wirthschaftlichen, Policey-, Cammer- und Finanz- Sachen, Leipzig bey Carl Ludwig Jacobi, Bd. 7, 1751, S. 722
2     Rancke: Die Gründung der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin ..., Berlin 1868, Hayns Erben, S. 7
3     Johann Julius Hecker: Sammlung der nachrichten von den Schulangelegenheiten bey der Dreyfaltigkeits- Kirche auf der Friedrichstadt in Berlin wie auch von gegenwärtiger Verfassung derselben nebst andern Beylagen mitgetheilet von Johann Julius Hecker, Evang. Lutherischen Pastore der Dreyfaltigkeist- Kirche und der Schulen Directore, Berlin gedruckt bey Friedrich Henning 1749, S. 71
4     G. W. v. Raumer: Der Thiergarten bei Berlin, seine Entstehung und seine Schicksale nach bewährten Nachrichten, Berlin 1840, S. 57
5     Friedrich Nicolai: Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, S. 206

6     Rancke, a. a. O., S. 29
7     Karl Aner: Der Aufklärer Friedrich Nicolai, Gießen 1912, S. 10/11

Bildquelle:
G. W. v. Raumer: Der Thiergarten bei Berlin, seine Entstehung und seine Schicksale nach bewährten Nachrichten, Berlin 1840

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