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Schneidergesellen Daniel Karsch zu ehelichen, dem sie ins polnische Fraustadt folgte und wo sie drei weitere Kinder gebar. Durch Gelegenheitsgedichte gelang es ihr, der Familie einen bescheidenen Nebenverdienst zu schaffen. In dieser Zeit beschäftigte sie sich mit zeitgenössischen Autoren wie Gellert, Günther, Haller und Klopstock.
     Lehrer und Pfarrer wurden auf sie aufmerksam und ermöglichten ihr 1755 die Übersiedlung ins preußische Glogau. Im Siebenjährigen Krieg schrieb Anna Luise Gesänge auf die Siege Friedrichs des Großen, die, als Flugblätter gedruckt, ihren Ruhm nach Berlin trugen, wo Mendelssohn sie als ein »ungemeines Genie« bezeichnete. Gönner befreiten sie von dem gewalttätigen Karsch, der überdies zum Militär eingezogen wurde. Im Januar 1761 wurde sie von ihrem Entdecker Baron Rudolf Gotthard von Kottwitz (1707–1765) nach Berlin gebracht und sogleich von Johann Georg Sulzer (1720–1779), Karl Wilhelm Ramler (1725–1798), Mendelssohn und Lessing gefördert. Sie wurde als dichterisches Naturtalent begrüßt und bewundert. Durch ihre Stegreiflieder wurde sie die Sensation der Salons. Die Lektüre antiker Autoren in Übersetzungen und zeitgenössischer Literatur erweiterte ihren Bildungshorizont.
     Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) besuchte sie in Berlin und führte die »deutsche Sappho« in Halberstadt seinen Domherren vor, wo sie feierlich zur Dichterin ge-
Zitta Übel
Die »deutsche Sappho«

Die Autodidaktin und Dichterin Anna Luise Karsch – die Karschin
(1722–1791)

Anna Luise Dürbach wurde am 1. Dezember 1722 in der Meierei »auf dem Hammer« zwischen Züllichau und Krossen (Niederschlesien) geboren. Wegen ihrer Häßlichkeit von ihrer Mutter nicht geliebt, wurde sie nach dem Tode des Vaters, einem Wirtshauspächter, im Jahre 1728 zu ihrem Großonkel nach Tirschtiegel bei Meseritz (Polen) gebracht. Von ihm lernte sie Lesen und Schreiben. Als zehnjährige von der wieder verheirateten Mutter zurückgeholt, diente sie als Magd und Viehhirtin. Ein Rinderhirte vermittelte ihr heimlich die erste Lektüre, Volksbücher und Erbauungsliteratur. So entstanden zunächst Geburtstags- und Neujahrsständchen sowie Trostgesänge. Mit 16 Jahren wurde Anna Luise mit dem Tuchweber Michael Hirsekorn verheiratet, der sie mißhandelte und schwerste Arbeit verrichten ließ. Neben der Erziehung der Kinder versuchte sie zu dichten. Nach elfjähriger Ehe ließ sich ihr Mann scheiden und jagte die mit einem vierten Kind Schwangere aus dem Haus. Wenige Monate später zwang die Mutter sie, den trunksüchtigen

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krönt wurde. Er bot ihr für ein Jahr (Herbst 1761 bis Herbst 1762) einen gastlichen Aufenthalt in Halberstadt und Magdeburg. Hier wurde sie gefeiert und reich beschenkt. Die Wissenschaftliche Gesellschaft der Helmstedter Universität ernannte sie zu ihrem Ehrenmitglied.
     In Magdeburg knüpfte sie enge Beziehungen zum Hof der preußischen Königin Elisabeth Christine (1715–1795), die vor den russischen Armeen dorthin geflohen war. Sie befreundete sich u. a. mit Herzog Ferdinand von Braunschweig- Lüneburg (1721–1792) und dem regierenden Reichsgrafen Heinrich Ernst zu Stolberg- Wernigerode (1716–1778), schrieb Kantaten für Prinzessin Amalie (1723–1787), die komponierende Schwester des Königs und unterhielt einen regen Brief-
wechsel mit führenden deutschen Schriftstellern. Ihre Liebe zu Gleim blieb unerwidert. Er sammelte jedoch ihre Gedichte für eine Pränumerationsausgabe.
     Von der Höhe des Glücks wurde der Sturz zurück ins Elend um so tiefer, als sie im Oktober 1762 nach Berlin zurückkehrte und mit Elendsquartieren vorliebnehmen mußte. Zu ihrem Freundeskreis in Berlin gehörte der berühmte Kupferstecher Daniel Chodowiecki (1726–1801), und er blieb bis zum Tode der Dichterin ihr unermüdlicher Helfer in vielen Notlagen. Er hat für sie auch zahllose Vignetten und kleine Bildchen entworfen, unter welche die Karschin ihre Huldigung oder Gelegenheitsgedichte schrieb. Auf einer Audienz im August 1763 versprach ihr der König ein Haus und eine

Faksimile eines Autogramms von Anna Luise Karsch

Jahrespension, doch hielt er sein Versprechen nicht. Freitische und eine bescheidene Rente aus einem kleinen Vermögen, das Gleim ihr durch die Veröffentlichung ihrer »Auserlesenen Gedichte« (1764, Vorrede von Sulzer, Faksimiledruck 1966) verschafft hatte, sicherten notdürftig ihr Auskommen. Einnahmen aus
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Huldigungs- und Gelegenheitsgedichten auf Bestellung und gelegentliche finanzielle Unterstützung durch Adel und Freunde wurden oft durch Eigensinn und Hilfsbereitschaft gegenüber ihrer Verwandtschaft wieder aufgezehrt. Erst 1789 ließ Friedrich Wilhelm II. von Preußen ein kleines Haus für sie in Berlin bauen. Es brachte ihr keine wesentliche finanzielle Erleichterung. Sie mußte weiterdichten – aus innerem Bedürfnis wie auch aus äußeren Notwendigkeiten. Das Versemachen war ihr Broterwerb, ihre einzige Möglichkeit zu existieren und für den wachsenden Kreis der von ihr Abhängigen zu sorgen. So schrieb sie bis an ihr Lebensende Huldigungsgesänge auf Fürsten, Gelegenheitsdichtungen für Nachbarn und trat bei Festen als poetische Unterhalterin auf. Daneben sang sie fast täglich ein Lied für sich selbst oder enge Freunde und schrieb unzählige Briefe. Um ihre literarische Leistung zu würdigen, muß man zwischen Gelegenheits- und Erlebnisdichtung im Goetheschen Sinn und Kunstprodukten unterscheiden. Zu den letzteren gehört die Menge der Fabeln, Epigramme, Anakreontika, Idyllen und Romanzen, die sie namentlich in den 60er Jahren verfaßte. Bei solchen Werken der feilenden Stilkunst versagte sie meistens.
     Doch schon aus vielen Huldigungsgedichten ist ihr eigener Ton herauszuhören, da sie die Fesseln der Gelehrsamkeit dieser Gattung durchbricht und Freiräume für wahre Begeisterung und persönliche Sympathie offenbleiben. Und wenn die Dichterin ihren natürlichen Empfindungen freien Lauf läßt, wenn sie sich im verhaltenen Schmerz oder ausbrechenden Glücksgefühl an Gott wendet, wenn sie neue Freundschaf-
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Stammbaum der Anna Luise Karsch
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ten besingt oder sich dankbaren Herzens der Wohltäter ihrer Kindheit erinnert, dann wird sie zu einer der kühnsten Wortschöpferinnen (von Gerstenberg oder Herder öffentlich gepriesen, von Goethe hoch geschätzt) und berührt noch heute unmittelbar. Namentlich in ihren Liebesgedichten und -briefen an Gleim 1761/62 zeigen sich diese Unmittelbarkeit und Wahrheit, die man bis 1770 wohl vergeblich in der deutschen Literatur suchen wird. Darüber hinaus ist die Karschin eine der fleißigsten deutschen Briefschreiberinnen des 18. Jahrhunderts; in ihren Briefen spiegelt sich das reale Leben, vor allem auch der unteren Stände, wie in keinem anderen Briefwechsel der Zeit.
     Sie starb am 12. Oktober 1791 in Berlin. Ihre Grabplatte ist heute noch in Berlin an der Nordwand der Sophienkirche, zwischen der zweiten und dritten Tür, zu sehen und enthält die schlichten Worte (Original):
     Hier ruht
     Anna Louisa Karschin
     geborne Dürbach
     Kennst Du Wandrer sie nicht,
     so lerne sie kennen.

Werke:
–     Die Spazier-Gaenge von Berlin, Berlin 1761, Neudruck, hrsg. von O. Rauthe, Berlin 1921
–     Einige Oden über verschiedene hohe Gegenstände, Berlin 1764
–     Kleinigkeiten, Berlin 1765
–     Neue Gedichte, Nietau, Leipzig 1772

–     Gedichte und Lebenszeugnisse, Hrsg.: Alfred Anger (nach Hss. und Erstdrucken), Stuttgart 1987
–     Mein Bruder in Apoll, Briefwechsel zwischen Anna Luise Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim in zwei Bänden, hrsg. von Regina Nörtemann und Ute Pott, Wallstein-Verlag Göttingen 1996
–     Anna Luise Karsch »Oh, mir entwischt nichts, was die Menschen fühlen«, Gedichte, Briefe und Zeugnisse von Zeitgenossen, hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin 1981 (Reihe Märkischer Dichtergarten)

Quellen:
–     Autoren und Werke deutscher Sprache, Bertelsmann Lexikon Verlag
–     Neue Deutsche Biographie 11/KAF-KLE
–     Berliner Geschichte, Dokumente, Beiträge, Informationen
–     Berliner Biographisches Lexikon

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