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Hans Aschenbrenner
22. März 1873:
Eröffnung der Kaisergalerie

Andrang herrscht, als am 22. März 1873 vormittags 10 Uhr nahe der Kreuzung Unter den Linden/Friedrichstraße die erste Berliner Passage ihre Pforten öffnet. Durch die stattlichen gewölbten Eingänge, die freien Einblick ermöglichen, strömen Neugierige in Scharen in das endlich freigegebene Geschäfts- und Vergnügungszentrum, das schon seit geraumer Zeit in aller Munde ist. Das Geschiebe und Gedränge derjenigen, die von den Linden und von der Behrenstraße gleichzeitig in die glasbedeckte Passage wollen, ist so stark, daß in der Mitte zeitweilig alles zum Stillstand zu kommen droht. Tausende von Exemplaren einer zur Eröffnung herausgegebenen Festschrift mit detaillierter Beschreibung der Kaisergalerie und Illustrationen (acht Seiten Folio) können verkauft werden.
     Gut gewählt ist der Termin für die Eröffnung der Passage auf jeden Fall. Auf den 22. März fällt der Geburtstag des Kaisers, und der wird in altherkömmlicher Weise festlich begangen. Viele Berliner und Be-

Die Fassade Unter den Linden
sucher der Stadt kommen zum Platz vor dem kaiserlichen Palais, um wie immer die zahlreich vorfahrenden Karossen und deren Insassen zu bestaunen. Und sie wollen natürlich auch die neue Attraktion sehen.
     Erst drei Tage zuvor, am 19. März, war die Fertigstellung des 130 Meter langen Glas- und Metallpalastes festlich begangen worden. An der Einweihung nahmen das Kaiserpaar, Prinzessinnen und Prinzen teil; zahlreich vertreten waren die Generalität, die Spitzen der Verwaltung, der Kunst und Wissenschaft, des Handels und der Industrie. Der königliche Musikdirektor Bilse
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spielte mit seiner Kapelle »überwiegend getragene Musikstücke piano und diskret, um die lebhafte Unterhaltung nicht zu geniren«; nach einem Souper wurden Proben von extra gebrautem »Passagebier« angeboten; wer wollte, fand sich zu einem Tänzchen im hocheleganten Tanzsalon; den »älteren, resp. nicht tanzenden Herren wurde ein Rauchsaal, natürlich mit den dazu gehörigen Habana Puros und dem Mocca, zur Verfügung gestellt«. Das alles und noch mehr steht am 22. März im »Berliner Tageblatt«, einer von vier Zeitungen, deren Reporter an der Festlichkeit teilhaben durften. Jetzt ist auch die Entscheidung über den Namen gefallen, den das Bauwerk erhalten soll: »Der Kaiser hat dem Verwaltungsrath der Passage die Erlaubniß ertheilt, der Passage den Namen >Kaiser-Galerie< zu geben«, teilt die »Vossische Zeitung« am 22. März mit.
     Entstanden war die Passage in den Jahren von 1869 bis 1873 (in diese Zeit fiel der Deutsch-Französische Krieg 1870/71); die Architekten Walter Kyllmann und Adolf Heyden kamen aus Berlin. Passagen in noch größeren Dimensionen gab es bereits in verschiedenen europäischen Städten, so in London, Paris, Brüssel, Wien.
     Um den Standort der ersten Berliner Pas-
sage möglichst exakt zu beschreiben, wird in der Festschrift der bekannte Literat Max Ring bemüht: »Indem die Passage zunächst von den Linden gradeaus geführt, dann im stumpfen Winkel sich bricht und so in die Friedrich- und Behrenstraße ohne Unterbrechung mündet, erfüllt sie ihren doppelten Zweck: das schmale Trottoir der Friedrichstraße zwischen den beiden angegebenen Punkten von dem eingeengten

Die Kaisergalerie

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Verkehr zu entlasten und dem täglich zunehmenden Menschenstrome, welcher sich vom Süden aus nach dem Brandenburger Thore bewegt, eine bedeutende und angenehme Abkürzung des Weges zu bieten.« Fast bescheiden zu nennen sind die Ausmaße der Galerie: 7,85 Meter breit, 13,5 Meter bis zur Oberkante des Hauptgesimses, 16 Meter bis zum Scheitel des Glasdaches. Die Beleuchtung im Inneren wirkt heller als auf der offenen Straße. Für Ventilation und ständige Zufuhr von frischer Luft ist gesorgt. Die Innenarchitektur wurde in Terracotta ausgeführt.
     Bei Einheimischen wie Besuchern der Stadt ist die Kaisergalerie bald sehr beliebt. Da gibt es an die 60 Ladengeschäfte mit den verschiedensten Angeboten, mit attraktiv gestalteten Auslagen, in der oberen Etage große Festsäle und Restaurants. Bereits am Eröffnungstag lädt im Passageknick das erste Wiener Café in Berlin ein, natürlich mit Konditorei; ihm gegenüber hat Castans Panoptikum mit Wachsfigurenkabinett
eröffnet. Was es hier nicht alles zu sehen gibt: In Wachs verewigt der Raubmörder Jack the Ripper ebenso wie bekannte Persönlichkeiten; ein »kinemathographischer Apparat«, bei dem man durch Gucklöcher interessante, wöchentlich wechselnde »Programme« sehen kann. Später dann im Anatomischen Museum in Spiritus konservierte anatomische Präparate von Menschen und Tieren. Ein Extrakabinett »Nur für Erwach-
sene« ist durch einen Vorhang vom profanen Teil des Anatomischen Museums abgetrennt. Es bietet Frauen wie Männern im 15minütigen Wechsel der Geschlechter Anschauungsunterricht, welchen Gefährdungen sie im allgemeinen, vor allem aber, wenn sie gewissen Lastern frönen, ausgesetzt sind, und was dagegen getan werden kann.
     Die Geschichte der Kaiserpassage war stets ein Spiegelbild der jeweiligen wirtschaftlichen Lage. Ihren unterhaltenden Charakter hat sie jedoch immer zu bewahren versucht. Wo einst Bilses musikalische Abende stattfanden, gab seit der Jahrhundertwende ein »Passage-Theater« seine Vorstellungen. Besonders beliebt waren von 1915 bis etwa Mitte der zwanziger Jahre Auftritte des »Linden-Cabarets«. Das Aus für die Passage kam im Zweiten Weltkrieg, als sie schon beim ersten Luftangriff auf Berlin durch Brandbomben bis auf einen kleinen Teil an der Friedrichstraße/Ecke Behrenstraße zerstört wurde. Einige Läden hielten sich provisorisch, aber im April/Mai 1945 fiel, was noch vorhanden war, den Flammen zum Opfer. Im Jahre 1957 wurden die letzten Ruinenreste abgetragen.

Bildquelle:
Berlin und seine Bauten. Herausgegeben vom Architekten-Verein zu Berlin. Berlin 1877, Seite 315, Berlin in Wort und Bild, Berlin 1895, Seite 305

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