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Heinz Warnecke
»Das Prinzip des 18. März«

Berliner Demokraten und der Kampf um eine Verfassung

Am 22. Mai 1848 forderte ein revolutionärdemokratisch Gesinnter im Tageblatt »Berliner Zeitungshalle« alle Berlinerinnen und Berliner auf, die schwarzrotgoldene Freiheitsfahne erneut hervorzuholen, denn »es gilt, den 22. Mai zu feiern«.1) Ebenso wie nach den Revolutionstagen am 18. und 19. März sollte jedes Haus aus Anlaß des erstmaligen Zusammentretens der Abgeordneten der Preußischen Nationalversammlung, die Anfang Mai im Ergebnis der Märzrevolution gewählt worden waren, mit Freiheitsfahnen geschmückt werden. Mit dieser wie mit der bereits am 18. Mai eröffneten Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche verbanden die Berliner die Hoffnung auf ein Grundgesetz, eine Verfassung. Und die wäre des Feierns wert.
     Die Freiheitshoffnungen und hohen Erwartungen waren in Berlin seit Anfang März 1848 in zahllosen Versammlungen lebhaft erörtert und in Adressen der Zeltenversammlungen festgehalten worden. Nach den

Revolutionstagen, dem 18. und 19. März, wurde die Erörterung von Menschenrechts-, Grundrechts- und Freiheitsforderungen in politischen Clubversammlungen, Versammlungen des Handwerkervereins, in Maueranschlägen, Zeitungsbeiträgen und Flugblättern fortgesetzt.
     Am 4. April faßte Carl Nauwerck (1810–1891), Abgeordneter der Deutschen Nationalversammlung, ehemaliger Privatdozent für arabische Literatur an der Berliner Universität und ehemaliger Berliner Stadtverordneter, die revolutionärdemokratischen Grundrechtsforderungen wie folgt zusammen:
     1. Vollkommene Preßfreiheit, ohne Geldbürgschaften; die Geschworenengerichte urtheilen über Preßvergehen.
     2. Wahrhaft konstitutionelle Verfassung, mit allgemeinem Wahl- und Wählbarkeitsrecht.
     3. Verantwortlichkeit der Minister gegenüber den Volksvertretern.
     4. Vereidigung des Heeres auf die Verfassung.
     5. Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetze.
     6. Gleichberechtigung aller Einwohner ohne Unterschied des Glaubens; vollkommene Religionsfreiheit und Trennung der Kirche vom Staate.
     7. Vereins- und Versammlungsrecht, sowie volle Lehr- und Hörfreiheit.
     8. Unbeschränktes Bitt- und Beschwerderecht.
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     9. Gewährleistung der persönlichen Freiheit und Unverletzbarkeit des Hausrechts.
     10. Geschworenengerichte.
     11. Unabhängigkeit der Richter; nur auf gerichtliches Urtheil dürfen sie abgesetzt und versetzt werden.
     12. Verminderung des stehenden Heeres und Volksbewaffnung mit Erwählung der Führer durch die Wehrmänner.
     13. Öffentlichkeit aller öffentlichen Angelegenheiten.
     14. Deutsches Volksparlament.
     15. Beseitigung aller Reste des Lehnswesen und der polizeilich-richterlichen Privatgewalt.
     16. Gleichmäßige Erziehung in der Volks und Bürgerschule auf öffentliche Kosten.
     17. Gründliche Verbesserung des Steuerwesens; gerechte Vertheilung der Staatslasten zur Erleichterung der unbemittelten Klassen.
     18. Pflicht und Recht zur lohnenden Arbeit für Jedermann.2)
Carl Nauwerck, der sich als Schriftsteller und Stadtverordneter (von 1846 bis Mai 1848) bereits für Grundrechte, darunter das Recht auf Arbeit, einsetzte, gehört zu den wenigen Abgeordneten in der Frankfurter Paulskirche, die diese Rechte in der deutschen Verfassung festgehalten haben wollten. Er emigrierte nach Scheitern der Revolution in die Schweiz und wurde 1851 in Abwesenheit wegen angeblichen Hochverrats zum Tode verurteilt. (Eine Biographie dieses Berliner Parlamentariers und Demokraten liegt bis heute nicht vor.)
Verbreitung und Durchführung des demokratischen Prinzips

Am Vortag des 22. Mai 1848, des Tages der Eröffnung der Preußischen Nationalversammlung im Schloß des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861, König von 1840–1858), konstituierte sich in Berlin aus dem bisherigen »Politischen« der »Demokratische Club«. Unter der Leitung des bisherigen Präsidenten, Assessor Georg Jung (1814–1886), hatten zahlreiche Clubmitglieder seit der Gründung am 22. März 1848 die demokratische Bewegung Berlins unterstützt. Clubangehörige traten in Versammlungen innerhalb und außerhalb der Stadtmauern für Menschenrechte, Grundrechte und Freiheiten ein, leiteten Versammlungen, hielten Beiträge und unterstützten die Fixierung der Freiheitsforderungen.
Die Unterstützung der Vielfalt demokratischer Bestrebungen war vermutlich eine Ursache dafür, daß Jung Anfang Mai in die Preußische Nationalversammlung gewählt wurde.
     Mit der Bezeichnung »Demokratischer Club« verfolgten die Mitglieder das hochgesteckte Ziel, »das Prinzip des 18. März geltend zu machen«. Der erklärte Zweck ist nach dem Clubstatut »die Verbreitung und Durchführung des demokratischen Prinzips«.3)
     Am Tag der Eröffnung der Preußischen Nationalversammlung, unmittelbar vor der

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Erörterung der neuen Verfassung, formulierten Wortführer dieses Clubs die Erwartungen:
     Die Demokratie ist das Ziel, nach dem die Geschichte in ganz Europa ringt, und unsere Aufgabe in der Hauptstadt Preußens ist es daher, demselben mit allen uns zu Gebot stehenden Kräften nachzustreben, um unserem Lande und Volke die Entwicklung zu sichern,
die mit so blutigen Opfern erkämpft worden ist, und nach der wir seit acht Jahren auf friedlichem Wege vergebens gerungen haben.
     Nur die vollständige Garantie durch eine Verfassung, die dem Volke seine Souveränität und das Recht der Selbstherrschaft bis in die kleinsten Verhältnisse, in die Städteverfassung und Landgemeinde hinein sichert, kann uns zufriedenstellen.
4)
Versammlung des »Politischen Clubs« in den Zelten am 20.April 1848
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Die Verwirklichung dieses demokratischen
Prinzips sollte auch die aktuellen sozialen Probleme lösen helfen. Der Club sah in »der Gleichberechtigung Aller in der Selbstregierung«, in dieser und nur in dieser die Möglichkeit der Lösung der »socialen Frage«.5)
     Präsident des Clubs wurde der Assessor Rudolf Schramm (1813–1882), Vizepräsidenten der Arzt Eduard Wiß (1822, gest. nach 1860) und der Student Gaudis Salis-Seewis (1825–1886), der auch Wortführer demokratisch gesinnter Studenten und Befehlshaber einer Riege des Korps bewaffneter Berliner Studenten war.
     Die mehreren hundert Mitglieder des Demokratischen Clubs traten in den auf den 22.Mai folgenden Wochen und Monaten aktiv hervor, wenn es um die Erhaltung demokratischer Errungenschaften und die Einheit der Berliner Demokraten ging. Beispielsweise sprachen mehrere Wortführer des Clubs auf der bedeutungsvollen Kundgebung an den Gräbern der Märzgefallenen im Friedrichshain am 4. Juni 1848. Es galt, die Ehre der Kämpfer vom 18. und 19. März zu wahren und die berechtigten Erwartungen und Hoffnungen des Volkes auf verbürgte Grundrechte und Freiheiten zu verdeutlichen.

Eine Pflanzschule der Revolution

Neben dem Demokratischen Club bestanden am 22. Mai der Konstitutionelle Club, der Volksclub, der Verein für Volksrechte, der Demokratische Club der Königstadt, der Bürger-

wehrklub u. a. In allen herrschte nach Adolph Streckfuß ein reges Leben, »die Bevölkerung von Berlin, welche das Bedürfnis einer politischen Ausbildung fühlte, strömte nach den Vereinen, welche fast alle wöchentlich mehrere Sitzungen hielten«. Die Handwerker, Arbeiter aller Stände, die schon vor dem 18. März im Handwerkerverein eine Anregung zu politischer Selbstbildung erhalten hatten, »gaben sich dem neu erwachten politischen Leben ganz und gar hin. Fast täglich besuchten sie die Clubs, und waren meistens Mitglieder nicht eines, sondern mehrerer derselben«.6)
     Der Berliner Handwerkerverein war und blieb eine Pflanzschule der Revolution. So veröffentlichte er beispielsweise am 22. Mai einen Aufruf an das Volk von Berlin, in dem sich die zweitausend Vereinsmitglieder an die Seite der Kämpfer vom 18. und 19. März 1848 stellten.7) Unmittelbarer Anlaß für diesen Aufruf war eine Versammlung von etwa 600 bis 800 Vereinsmitgliedern, die gegen die Beschimpfung der Märzkämpfer durch Maueranschläge und Versammlungsredner in der Öffentlichkeit scharf protestierten.
     Die Mitglieder des Handwerkervereins hatten sich von den ersten Märztagen an durch Teilnahme an den Zeltenversammlungen, durch die friedliche Demonstration für Volksrechte am Abend des 13. März, und nicht zuletzt durch ihre Teilnahme am bewaffneten Kampf am 18. und 19. März in Berlin hohe Wertschätzung erworben. Zahlreiche Handwerker befanden sich unter den Märzgefalle-
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nen. Viele waren verwundet worden, so auch das Vorstandsmitglied im Verein Eduard Krause (1816–1882), der im Barrikadenkampf Breite Straße Ecke Köllnisches Rathaus am Kopf verwundet wurde.
     Das Bekennerschreiben, das am 22. Mai veröffentlicht wurde, erinnerte die Abgeordneten der Preußischen Nationalversammlung am Eröffnungstag an die Verpflichtung gegenüber den Kämpfern vom 18. und 19. März:
     Sie haben gekämpft für die Erlösung der Menschheit, denn sie haben unserem Volke die Möglichkeit einer freien, reinen, volkstümlichen und vernunftgemäßen Entwicklung errungen.
     Sie haben gestritten für ein einiges starkes Deutschland . . .
     . . . darum preisen wir sie vor dem Volke von Berlin. Denn so hohe und reine Tugend zu verherrlichen vor den Menschen, zur Nacheiferung für die Gegenwärtigen und für die Nachkommen, das ist die Pflicht der Freunde der Menschheit.
8)
     Dessenungeachtet wurden die verleumderischen Angriffe gegen die Barrikadenmänner, namentlich gegen die Angehörigen der Landwehr, die am Barrikadenkampf teilgenommen hatten, in den folgenden Wochen fortgesetzt. Charakteristisch war das Auftreten eines hohen preußischen Offiziers, des Generalmajors und Landwehr-Brigadekommandeurs von Webern (1790–1878), in einer öffentlichen Landwehrversammlung. Er steigerte sich am 24. Mai zu Haßtiraden: »Ich weiß wahrlich
nicht, wie ich diese Schurken passend bezeichnen soll, die wert wären, daß sie alle aufgehängt würden« und beschimpfte sie dreimal hintereinander als »Scheißkerle«.9) Diese fortgesetzten Angriffe gegen die Märzkämpfer lassen erkennen, daß dem preußischen König von allen Revolutionserrungenschaften »die Volksbewaffnung der größte Dorn im Auge war«.10)

Arbeiter forderten Recht auf Arbeit in der Verfassung

Unmittelbar nach der Veröffentlichung des vom König vorgelegten Verfassungsentwurfs am 22. Mai fanden erste Versammlungen statt, in denen gegen vorgeschlagene Gesetzesaussagen, darunter gegen die zur Wehrpflicht in Preußen, protestiert wurde. Mehrere Vereine wiesen den Verfassungsentwurf als unzumutbar zurück. Der Verein für Volksrechte begründete seine Ablehnung u. a. damit, daß der Entwurf »durch stete Berufung auf noch zu erlassende Gesetze und durch die Anwendbarkeit der vorhandenen mangelhaften Gesetze die bereits anerkannten Menschenrechte der freien Rede und Schrift, des freien Versammlungsrechtes, der Freiheit der Person, der Gleichheit vor dem Gesetz und der allgemeinen Volksbewaffnung in Frage stelle«. Der Bürgerwehr-Club erklärte sich auf das äußerste beunruhigt, daß die Revolutionserrungenschaft »Bürgerwehr« im Entwurf mit keinem Wort erwähnt wurde.11) Eine Versammlung des

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Zentralkomitees für Arbeiter, an der 300 Delegierte einzelner Gewerke teilnahmen, protestierte am 24. Mai dagegen, daß im Verfassungsentwurf das Grundrecht auf Arbeit fehle.
     Doch alle Aktivitäten der Berliner Demokraten, darunter die historisch bedeutungsvolle Kundgebung an den Gräbern der Märzgefallenen am 4. Juni 1848, die die Tradition der alljährlichen Ehrung begründete, reichten nicht aus, um eine Verfassung entsprechend den Erwartungen des Volkes zu erreichen.
     Die Abgeordneten der Preußischen Nationalversammlung kamen zwar vom 24. Mai bis 15. November 1848 zur parlamentarischen Arbeit zusammen, die Erwartungen und Hoffnungen des Volkes auf eine gerechte Verfassung erfüllten sich nicht. Die Preußische Nationalversammlung beendete unter Androhung militärischer Gewalt durch den preußischen General von Wrangel (1784–1877) ihre Tätigkeit. Wenige Tage darauf oktroyierte der preußische König die ihm genehme preußische Verfassung. Damit gestand er den am 18. und 19. März vom Volk Berlins erzwungenen Wandel von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie zu.
     Die Geschichte der Preußischen Nationalversammlung bot also keinen Anlaß, die Häuser Berlins mit schwarzrotgoldenen Freiheitsfahnen zu schmücken. Lediglich die Aktivitäten der Berliner Demokraten sind der Erinnerung an den Tag der Eröffnung der Nationalversammlung in Berlin wert.
Quellen:
1      Die Freiheitsfahne, Berliner Zeitungshalle vom 22. 5. 1848
2      Carl Nauwerck: Deutsche Volkstafel, Nationalzeitung vom 4. 4. 1848
3      Eduard Meyen: Der demokratische Club in Berlin, Der Demokrat vom 25. 5. 1848
4      Carl Baader, Josef Vinel Massaloup: Was will der Demokrat? Der Demokrat vom 22. 5. 1848
5      Ebenda
6      Adolph Streckfuß: Organisation der Volkspartei in Berlin, Berlin 1849, S. 3
7      Vergl.: Kurt Wernicke: die »Pflanzschule der Revolution« Der Berliner Handwerkerverein 1848–1850, In: Walter Schmidt (Hrsg.) Demokratie, Liberalismus und Konterrevolution. Berlin 1998, S. 197 f.
8      Vorstand des Handwerker-Vereins Johannisstr.4: An das Volk von Berlin, Flugblätter von 1848, Zentrum Berlin Studien
9      Adolph Streckfuß: Die Märzrevolution in Berlin. Ein Augenzeugenbericht. Köln 1983, S. 336
10      Das enthüllte Preußenthum oder Deutschlands Zukunft unter Preußischer Oberherrschaft unter welcher Gestalt sie auch immer eintrete. Von einem preußischen Staatsmanne. Grimma 1849, S. 33
11      Alfred Herrmann: Berliner Demokraten. Ein Buch der Erinnerung an das Jahr 1848, Berlin 1948, S. 269 f.

Bildquelle:
Zeitgenössischer Holzstich, Dietz Verlag Berlin, Bildarchiv

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