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Joachim Bennewitz
Die Industrie in Weißensee

Über mehrere Jahrhunderte bestimmten Landwirtschaft und Fischerei das Leben in dem beschaulichen Dorf Weißensee, später ergänzt durch die Gewerbe, die Schmied und Krüger eingebracht hatten. Erst mit der 1872 eingeleiteten Aufhebung des Rittergutes, seiner Parzellierung und dem Bau der Wohnquartiere setzte der Umschwung ein: Zuerst waren es die Ziegeleien, die die Steine für den Hausbau lieferten, dann wurde die Brauerei des »großen« Sternecker zum Schrittmacher für die Industrialisierung.1) So profitierte der Ort bald an der großen Randwanderung der Berliner Industrie. Auf Initiative des Goldleistenfabrikanten Ruthenberg entstand das erste geschlossene Gewerbegebiet, und mit der Industriebahn kam nach 1908 auch die Fertigung von Massenprodukten und großen Aggregaten hierher. Der Standort Weißensee entwickelte sich zu einem Zentrum des Maschinen- und Apparatebaus.
     Rund 125 Jahre wurde hier entdeckt, entworfen, montiert. In immer größer werdenden Dimensionen wurde produziert, Tausende von Menschen wirkten in den Betrieben, die nach und nach die Äcker,

Gärtnereiflächen und Rieselfelder verschwinden ließen. Ganze Kolonnen trafen sich zum Schichtwechsel auf dem Weg zwischen Straßenbahn und Werktor, immer mehr zogen auch in die eigens für sie errichteten Wohnviertel und trugen so zum Wachstum der Gemeinde und später des Bezirkes bei.
     Für Krieg und über längere Zeiten auch für den Frieden wurde gearbeitet, durch vier oder fünf Perioden in der Zeit zwischen Kaiserreich und vereintem Deutschland. Niemandem war der Gedanke gekommen, daß sich daran einmal etwas grundlegend ändern könnte. Nach der Vereinigung Berlins begann die nächste Randwanderung in für die Kapitalverwertung günstigere Territorien. Die Konzentration der Wirtschaft und deren Globalisierung, also Verlagerung in andere Länder, wirkte sich aus. Betriebe, die über Jahrzehnte wichtige Dienste leisteten, entsprachen nun nicht mehr dem anderenorts erreichten Stand der Technik, und so blieb es nicht aus, daß sich tiefgreifende Änderungen vollzogen.
     Heute ist die Zeit der großen Betriebe vorbei, ihre Hallen sind anderen Zwecken zugeführt oder abgerissen worden. Neue Wirtschaftszweige haben sich am Standort Weißensee angesiedelt, es herrschen die kleinen Unternehmen vor. Da ist es geboten, die zwar schon spärlich gewordenen, doch noch vorhandenen Quellen zu sichten und die industrielle Laufbahn des Berliner Nord-
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ostens für die Zukunft zu dokumentieren. Eine Projektgruppe, bestehend aus Angehörigen mehrerer Beschäftigungsgesellschaften und insbesondere aus Mitgliedern des Vereins Weißenseer Heimatfreunde e.V., arbeitete mehr als 12 Monate an der durch das Kulturamt Weißensee gestellten Aufgabe, zu diesem Komplex eine Ausstellung vorzubereiten. Aus dem dazu erarbeiteten Material werden nachfolgend zwei Themenbereiche vorgestellt. Einer der bekanntesten Weißenseer Betriebe war die Brauerei in der Lichtenberger Straße (heute Indira-Gandhi-Straße), entstanden 1902 aus der Firma Gabriel & Richter, die hier »Bayerisches Bier« herstellte und zeitweilig auch das »Welt-Etablissement Schloß Weißensee« bewirtschaftete. Gleich neben der Brauerei selbst stand, auf der Hälfte des Weges zwischen Weißensee und Wilhelmsberg gelegen, ein Gartenrestaurant. Am 1. Januar 1920 übernahm die Berliner Kindl

Die Trumpf-Schokoladenwerke um 1937
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Brauerei AG die kurz zuvor erworbene Firma und machte sie zu ihrer neuen Abteilung III.2) Der Standort sicherte den Absatz des Großbetriebes für den Berliner Norden und die angrenzenden Kreise. Bis 1927 erfolgte eine Anlagenerneuerung, damit konnte die Jahresproduktion auf 500 000 hl gesteigert werden. Mit 12 bulligen Kraftwagen und 30 Gespannen, fast als Weißenseer Wahrzeichen zu bezeichnen, trat das Bier den Weg zur Kundschaft an. 1929 erfolgte eine bedeutsame Erweiterung: Die moderne Mälzerei, errichtet im Stil der Neuen Sachlichkeit, wurde in Betrieb genommen.
     Bis 1939 hatte sich Kindl auf drei Braustätten in Berlin und Potsdam, sieben Niederlagen in und rund um Berlin sowie sieben Repräsentations- Gaststätten – darunter auch zeitweilig das heutige Weißenseer Kulturhaus »Peter Edel« – erweitert. Der Zweite Weltkrieg führte zuerst zu Eingriffen in die Zusammensetzung der Belegschaft, dann ab 1941 zur Reduzierung des Stammwürzegehaltes, schließlich auch in Weißensee zu Bombenschäden und weiteren Einschränkungen der Produktion. Auf einem Teil des Betriebsgeländes wurde ein Kriegsgefangenenlager eingerichtet, das bei einem Bombenangriff am 19. Mai 1944 total zerstört wurde, wobei eine größere Anzahl der Insassen ums Leben kam.3)
     Im Mai 1945 wurde die Brauerei, wie auch viele andere Weißenseer Betriebe, durch die Rote Armee besetzt und mit etwa 260 Be-
schäftigten unter ihrem Befehl wieder in Gang gebracht. Zuerst vorrangig für den Bedarf der Truppe – dafür auch mit höherem Würzegehalt. Dann folgte 1949 die Übergabe in Volkseigentum als VEB Kindl Brauerei Weißensee. 1959 zum Bestandteil des VEB Berliner Brauereien geworden, kam der Betrieb zehn Jahre später zum neugebildeten Getränkekombinat und wurde 1972 zu dessen Stammbetrieb. Moderne Herstellungsmethoden, ermöglicht durch den Aufbau von automatisierten Fertigungslinien und die Umstellung auf Reaktorreifung, wurden eingeführt. 1985 mit der Bildung des Stadtbezirkes Hohenschönhausen aus Weißensee entlassen, stellte die Brauerei eine wichtige Stütze der Industrielandschaft des neuen Bezirkes dar. Das setzte sich auch 1990 fort, als die Brau- und Brunnen-AG Berlin/ Dortmund den Betrieb erwarb und zuerst als BEAG, dann als Berliner Pilsner Brauerei GmbH zum Berliner Hauptbetrieb der Schultheiss AG entwickelte. Deren historischer Fertigungsstandort am Kreuzberg konnte zugunsten des Werkes Indira-Gandhi- Straße aufgegeben werden. So wird nach fast 100 Jahren immer noch an dieser Stelle Bier gebraut. Und gut eingeführtes dazu, so daß sich der Betrieb noch bis zehn Jahre nach Gründung Hohenschönhausens nicht entschließen konnte, die traditionelle Herkunftsbezeichnung Berlin- Weißensee aufzugeben. Auch heute gehört er zu den bedeutenden Betrieben des Nachbarbezirks.
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Bauten des Dienstleistungs- und Gewerbezentrums auf dem Gelände der ehemaligen Fabrik Elfe, vormals Trumpf
Weißensee ist dagegen nach wie vor Standort der Firma Spreequell, vor dreißig Jahren als weiterer Betriebsteil in unmittelbarer Nähe errichtet und heute mit Wasser aus eigenen Tiefbrunnen in der Lage, auch den seither bei Erfrischungsgetränken gestiegenen Qualitätsansprüchen zu genügen.
     1921 siedelten sich in der bis dahin von Industrie freigehaltenen Gustav-Adolf- Straße
die Trumpf- Schokoladenwerke der Gebrüder Monheim an. Das 1857 in Aachen gegründete Stammwerk befand sich zu dieser Zeit im besetzten Rheinland, man wollte die rechtsrheinischen Kunden ohne Einschränkungen behalten, und so erhielten die Söhne des Fabrikchefs den Auftrag, in Weißensee zu bauen. Der Betrieb erlangte unter der zielstrebigen Leitung der Monheims sehr
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schnell eine führende Position auf dem Markt, Rationalisierungsmaßnahmen und die Einführung neuer und preiswerter Produkte hatten Erfolg. Selbst in den Jahren der Weltwirtschaftskrise war so »trotz stark gesunkener Verkaufserlöse der Geldumsatz höher als 1928«.4)
     Dem Produktionsprofil des Betriebes entsprach ein hoher Anteil an weiblichen Arbeitskräften. Zugleich führte die zum Teil automatisierte Arbeit auch zu Monotonie. Als Ausgleich gründeten die Monheims 1928 eine Sportgemeinschaft, errichteten einen eigenen Sportplatz und ließen ein Schwimmbecken bauen. Mitte der Dreißiger waren insgesamt rund 300 Sportbegeisterte in mehreren Sparten erfaßt. Bis Kriegsbeginn 1939 fanden Betriebserweiterungen statt, dann wurde die Produktion schnell umgestellt. Neben den reduziert weiterhin hergestellten Erzeugnissen kamen nun durch eine neugegründete Firma Zuarbeiten zur Waffenindustrie, Bestandteile von Zündvorrichtungen, hinzu. Nach Kriegsende wurde der Betrieb mit seinen rund 300 Beschäftigten sofort von Truppen der Roten Armee besetzt. Sie sorgten dafür, daß, als noch Kämpfe in der Stadt tobten, die Tiefbrunnen des Betriebes für die Wasserversorgung Weißensees und die betriebseigene Mühle für die Mehlherstellung genutzt werden konnten.5) Gleichzeitig jedoch wurden 95 Prozent der Maschinen demontiert.
Trumpf zählte dann zu den Werken, die gemäß Befehl 124 der SMAD unter Sequester gestellt wurden. 1947 zog die Kunsthochschule Weißensee ins alte Verwaltunsgebäude. 1949 erfolgte die formelle Enteignung.6) Bald danach erhielt der Betrieb, ähnlich wie andere gleichartige Betriebe der Stadt, einen Namen aus der Märchenwelt: VEB Elfe Berliner Schokoladenwerk. Die Belegschaftsgröße wuchs, insbesondere nach Rationalisierung und Zusammenlegungen mit anderen Betrieben bis 1965 auf 600 Beschäftigte, darunter 430 Frauen. Waren zu Weihnachten 1960 noch »200 t Dominosteine über den Plan« eine Zeitungsmeldung wert, wurden es 1965 1,6 Millionen Schokoladenherzen mit Kremfüllung, 80 t Baumbehang, 200 000 Pralinenschachteln und allein 700 000 Tafeln Schokolade mit Weihnachtsetiketts. Zwei Jahre später dann 240 t Baumbehang, 230 t Pralinen und mehr als 1 000 t Bonbons. Zu dieser Zeit wurde das Ziel gesetzt, den Betrieb – derzeit drittgrößter des Landes – zum größten Produzenten in der DDR zu entwickeln. Mit folgenden Produktionsmengen: 25 Millionen Tafeln, 1 600 t Pralinen, 4 000 t Bonbons. Erreicht worden war bereits eine 25prozentige Exportquote, besonders nach der BRD, Schweden, Österreich, Belgien, den Niederlanden, Kuwait, Liberia. Eine automatische Abpacklinie für Pralinen wurde eingerichtet und das Sortiment bei Bonbons auf mehr als ein Dutzend Sorten erweitert.7)
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1988 konnte berichtet werden, daß der Betrieb nun schon etwa 30 Arten Bonbons auf dem Programm hatte, Alleinhersteller der Lollis war, Startbonbons für die Interflug produzierte und die Schokoladenproduktion auf 28 Millionen Tafeln im Jahr gesteigert hatte. Dieser Hoch-Zeit folgte sehr schnell im Zuge von Wende, Währungsunion und Wiedervereinigung der Niedergang. Die Umstellung auf die D-Mark, der Trend zu Markenerzeugnissen aus dem Westen, nicht zuletzt aber auch das Alter vieler Maschinen und die in den letzten Jahren der DDR fehlenden Investitionen hatten Folgen: Der Umsatz ging zurück, die Anzahl der Beschäftigten ebenfalls. Waren es 1990 noch knapp 500, arbeiteten im April 1991 nur noch 173 dort, weitere 50 in Kurzarbeit. Zwei Monate später schon verloren auch diese ihre Arbeitsplätze, die Fertigung wurde eingestellt. Die noch verwertbaren Maschinen gingen in die Türkei und nach Skandinavien.8) Der große Schornstein wurde am 8. April 1992 gesprengt, das Wahrzeichen dieses Wohn- und Industrieviertels verschwand für immer.
     Eine Immobilienfirma aus dem Rheinland wurde Nachfolgerin. Sie baute Häuser um und neu, ließ nicht verwertbare abreißen und schuf so ein völlig neues und modernes Gewerbegebiet, vermischt mit Wohnflächen. Aus 70 Jahre alten und verschlissenen Industrieeinrichtungen wurde ein neues Revier. Eine Dienstleistungsstadt in der Stadt mit
neuen Zielen. Der Name – DGZ, Dienstleistungs- und Gewerbezentrum – steht dafür und für das Bemühen um seine Mieter.

Die Ausstellung »Gummi – Goldleisten – Großdrehmaschinen« im Stadtgeschichtlichen Museum Weißensee findet bis zum 7. November 1999 statt. Öffnungszeiten: dienstags 10 bis 18 Uhr, donnerstags und sonntags 14 bis 18 Uhr.

Quellen:
1     Elfriede Lewerenz, Neu-Weißensee – Ein Ergebnis der Gründerzeit, in: Berliner Wege zur Weltstadt, Edition Luisenstadt, Berlin 1993
2     Festschrift »700 Jahre Weißensee«, Berlin 1937, S. 86
3     Laurenz Demps, Zwangsarbeiterlager in Berlin 1939–1945, Berlin 1986, S. 142
4     Trumpf bringt Freude, Jubiläumsschrift der Firma Leonard Monheim, Aachen 1957
5     Nach Dokumenten im Stadtgeschichtlichen Museum Weißensee wurden monatlich 1 000 t Mehl und ab Dezember 1945 50 t Nudeln sowie 25 t Zuckerwaren hergestellt
6     Verordnungsblatt für Groß-Berlin, Teil I, Nr. 8, vom 13. 2. 1949
7     Alle Angaben zu Produktionsgrößen usw. sind Zeitungsmeldungen dieser Jahre entnommen (archiviert in der Zeitgeschichtlichen Sammlung des Stadtgeschichtlichen Museums Weißensee, verschiedene Bände)
8     Ebenda
Bildquelle:
Archiv des Stadtgeschichtlichen Museums Weißensee,
Foto Gisela Pruner

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© Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de