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Klaus Duntze
Otto von Gerlach, der Pfarrer im Vogtland

König sein heißt, die höchste und letzte Verantwortung für ein Volk und ein Land zu tragen – so hat Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861, König von 1840–1858), der Sohn der unvergessenen Königin Luise, seinen Auftrag verstanden. Er war nach der Tradition des preußischen Königshauses fromm erzogen worden. In seiner Jugend kam er mit der Erweckungsbewegung in Berührung; für die war der christliche Glauben wieder im Gefühl gegründet und nicht im Verstand wie für die Aufklärung im vergangenen Jahrhundert.
     Der Prinz erlebte die Niederlagen und Demütigungen Preußens durch Napoleon, machte die Flucht der königlichen Familie nach Memel mit und kämpfte selbst aktiv in den Befreiungskriegen. In seiner langen Kronprinzenzeit bildete er nicht nur seine künstlerischen Begabungen (Malen, Zeichnen, Architektur) aus, sondern entwickelte auch seine Auffassungen von Staat, Gesellschaft, Regierung und Kirche. Und die interessieren uns hier.

Die Gesellschaftspolitik von Friedrich Wilhelm IV.

Als »König von Gottes Gnaden« trug er vor Gott die letzte Verantwortung für Volk und Vaterland, eine Last, die niemand dem König abnehmen kann. Daher hatte Friedrich Wilhelm große Schwierigkeiten, die Versprechen seines Vaters von 1813 und 1825 einzulösen, Preußen eine Verfassung zu geben. Als der König 1847 endlich die Stände des Landes nach Berlin einberief, sagte er in der Eröffnungsrede: ... und daß ich es nimmermehr zugeben werde, daß sich zwischen unserem Herrgott im Himmel und diesem Land ein beschriebenes Blatt, gleichsam eine zweite Vorsehung eindränge, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren und durch sie die alte heilige Treue zu ersetzen. (Mit dem Blatt Papier meinte er eben eine geschriebene Verfassung.) Er schloß seine Rede, indem er aufstand: Ich aber und mein Haus wollen dem HERRN dienen.
     Patriarchalisch war seine Vorstellung von der Gesellschaft: Der Hausvater war die unbestrittene Autorität für Familie und Gesinde, die Stadtväter für das Gemeinwesen, die Patrone auf dem Lande für das Gutsgesinde. Für die Volksgemeinschaft aber der Landesvater, der nach lutherischer Tradition auch Summepiscopus, oberster Bischof seines Landes, ist. Aber wer durch ein Amt Herrschaft ausübt, ist ebenso zur Fürsorge für die Untergebenen verpflichtet wie diese

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zum Gehorsam. Diese alten, feudalen Verhältnisse waren durch Krieg, Revolution und wirtschaftliche Umwälzungen brüchig geworden; Friedrich Wilhelm IV. wollte sie in zeitgemäßer Form wiederherstellen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Parolen der Französischen Revolution, lehnte er entschieden ab. Sie widersprachen seinem Verständnis von einer gottgewollten Gesellschaftsordnung.
     Grundlegend für die innere Einheit des Volkes waren für den König Kirche und Religion. Gottesdienste und Schulen sollten Ehrfurcht vor dem König, Gehorsam gegen die Obrigkeit und Sittlichkeit in Familie, Haus und Gemeinwesen vermitteln. Die christliche Liebestätigkeit aber sollte materielle Not lindern und unter den Menschen Mitleid und Dankbarkeit wecken. Seine Verantwortung für die Kirche möchte Friedrich Wilhelm IV. nach dem Vorbild der Anglikanischen Kirche in England in die Hände von Bischöfen unter einem Erzbischof legen, ohne Mitsprache der Gemeindeglieder, eben auch patriarchalisch, eine katholische Struktur mit evangelischen Lehren.
     Aber die sozialen und politischen Umwälzungen, die die Französische Revolution ausgelöst hatte, machten solche Gesellschaftsvisionen zur Träumerei. Denn im nationalen Aufbruch der Befreiungskriege war die Sache des Staates zur Sache des Volkes geworden. Wer sein Leben für das Vaterland riskiert hatte, ließ sich nicht mehr zum

Otto von Gerlach

 

bevormundeten Untertan machen. Auch hatte das Bürgertum im Rahmen der Industrialisierung wirtschaftliche Bedeutung gewonnen und eigenes Selbstbewußtsein entwickelt. So wurde immer drängender die politische Mitsprache in der versprochenen Verfassung gefordert. Die von Friedrich Wilhelm IV. bei seiner Regierungsübernahme beschworene herzlich-mystische Einheit zwischen Monarchen und Volk mußte ein Traum bleiben.

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Soziale Probleme im gesellschaftlichen Umbruch

Die Armut erfaßte in den Jahren vor der Revolution immer größere Massen in Stadt und Land. So spielten in den Plänen zur Reform der Kirche die Erneuerung der sozialen Fürsorge für Arme, Arbeitslose, Alte, Kranke und unversorgte Kinder eine zentrale Rolle. Friedrich Wilhelm IV. war mit der Arbeit der ehrenamtlichen städtischen Armenkommissionen nicht zufrieden. Er unterstellte ihnen eine reine Versorgungsmentalität, die Ansprüche provozierte anstatt die Selbsthilfe der Bedürftigen zu fördern, und wollte die Armenkommissionen ersetzen durch die Arbeit eines erneuerten diakonischen Ordens, den Schwanenorden, der aus christlicher Gesinnung – wie die mittelalterlichen Pflegeorden – sich um Arme und Kranke kümmern und alle sozialen Aktivitäten bündeln sollte. Als Zentrum und Herzstück war Bethanien, das Kranken- und Diakonissenmutterhaus in der Luisenstadt, vorgesehen, das 1847 eröffnet wurde. Da war der neue Schwanenorden bereits stillschweigend untergegangen, bevor er richtig gegründet worden war. Die Verantwortung der Städte und ihrer Armenkommissionen für die Sozialfürsorge blieb bestehen, wurde aber immer stärker flankiert von zahlreichen bürgerlichen und kirchlichen Initiativen auf Vereins- und Gemeindeebene. Sie wurden seit 1848 in Johann Hinrich

Wicherns (1808–1864) Innerer Mission zusammengefaßt und ausgebaut. Wichern hatte die Idee des Schwanenordens von ihrem mittelalterlich-romantischen Charakter befreit und mit ihrem Centralausschuß eine zeitgemäße Organisation daraus gemacht. Otto von Gerlach hat an dieser Entwicklung eines modernen Diakonats einen hohen Anteil. Es blieb aber der Gegensatz und die Konkurrenz zu den Konzepten, mit denen die liberalen Bürger in den Städten die Verarmung und Proletarisierung der Massen verhindern wollten. Doch beide Bestrebungen, die christlich-konservative wie die bürgerlich-liberale, gerieten in scharfen Gegensatz zu den Emanzipationsbestrebungen der Arbeiter und Proletarier, die 1848 begannen. Und diese hatten, wie es am Schluß des Kommunistischen Manifestes heißt, nichts zu verlieren als ihre Ketten.

Mit der Theologie wählt von Gerlach einen eigenen Weg

Otto von Gerlach wird am 12. April 1801 in Berlin als Jüngster von fünf Geschwistern geboren. (Über seine Brüder Leopold und Ernst Ludwig siehe BM 7/99.) Sein Vater, Carl Friedrich Leopold von Gerlach, Präsident der Kurmärkischen Kriegs- und Domänenkammer, wurde später Oberbürgermeister von Berlin. Die Mutter, Agnes von Raumer, war die Schwester des späteren Regierungspräsidenten und Kultusministers Karl

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Otto von Raumer (1805 –1859). In Berlin besucht Otto von Gerlach das Friedrichswerdersche Gymnasium, studiert dann in Berlin, Heidelberg, Göttingen und wieder in Berlin, zunächst Jura, der Familientradition folgend, dann aber, auf Grund seiner vielfältigen Verbindungen zu Persönlichkeiten der Erweckungsbewegung, ab 1821 Theologie. Um die Teilnahme an den Freiheitskriegen wird der 12jährige seine Brüder beneidet haben. Sie machten ihren Weg in der Jurisprudenz und im Militär; Otto wählt mit der Theologie seinen eigenen Weg. Lange ist er unentschieden, ob er in die wissenschaftliche Laufbahn gehen und Dozent für praktische Theologie werden sollte, wie manche Lehrer es ihm nahegelegt haben. 1828 promoviert er und habilitiert sich. Aber er hat als Privatdozent so wenig Echo, daß er schon aus wirtschaftlichen Gründen sich um eine Pfarrstelle – lange vergeblich – bemüht. Als Berater und Lehrer der Berliner Missionsgesellschaft macht er einen ersten Versuch, seinen Lieblingsgedanken in die Tat umzusetzen: Er träumt von einem Stift für Kandidaten der Theologie. Doch es gelingt ihm nicht, das Missionsseminar dahingehend umzuwandeln. Seine Erfahrungen als Gast im Predigerseminar zu Wittenberg regen ihn zu einer Neubearbeitung der sogenannten Hirschberger Bibel im Auftrage des Fürsten Schönburg-Waldenburg an; es bleibt ein unvollendetes Lebenswerk. Auch eine Ausgabe von Luthers Schriften nimmt er in Angriff. Im Norden Berlins baute Schinkel im Auftrag Friedrich Wilhelms III. (1770–1840, König ab 1797) vier Kirchen, in Moabit, auf dem Wedding und im Vogtland, um geordnete Verhältnisse in diese frühen Elendsviertel zu bringen. Otto von Gerlach bewirbt sich 1833 für eine der Pfarrstellen. Seinem Bruder Ludwig schreibt er am 23. Januar 1833: Die Stellung, in die ich kommen würde, ist sehr günstig für alles, was ich mir als meinen Lebenslauf immer gedacht habe. Zwei Kirchen gehören zu der Stelle, eine am Ende des Vogtlandes vor dem Rosenthaler Tor, die andere im Gesundbrunnen. Die Bevölkerung der Gegend ist über alle Maßen verwahrlost und verwildert, ... und erfordert eine methodistische Missionstätigkeit; und ist daher eine Stelle zur Anlegung meines Gehilfenseminars günstig, so ist es diese ... Daneben besteht eine sehr schöne Verbindung von recht bewährten Christen ... die sich seit längerer Zeit diese Gegend zum besonderen Augenmerk für Bibelverbreitung, Armen- und Krankenpflege und Erbauungsstunden gewählt haben ...1)
     Aufgrund der Fürsprache seiner Brüder und auch des Kronprinzen, dem späteren König Friedrich Wilhelm IV., erhält er nach seinem Wunsch die schwierigste Gemeinde, etwa 11 000 Gemeindeglieder, deren Zahl sich in den nächsten fünfzehn Jahren verdoppelt. In seiner Gemeinde liegen auch die berüchtigten Wülcknitzschen Familienhäuser, die ersten Berliner Mietskasernen, riesige Bauten, in denen die verarmten Familien
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des Vogtlandes – meist arbeitslose Weber – unter unwürdigsten räumlichen und sanitären Bedingungen zusammengepfercht sind. Der Bericht des zuständigen Armenarztes Dr. Thümmel hatte 1828 die Aktivitäten ausgelöst, die zum Bau der Kirchen und der Gründung der vier Gemeinden geführt hatten. Hier sind auch die bewährten Christen tätig, von denen er seinem Bruder schreibt. Die Kirche vor dem Rosenthaler Tor heißt St. Elisabeth; ihre Ruine steht heute noch an der Invalidenstraße. 1835 wird die Kirche geweiht, und Otto von Gerlach tritt seine Arbeit an. Er ist voll von Ideen nach dem Konzept der aggressiven Seelsorge, die in den erweckten Kreisen der Kirche damals propagiert wird: Nicht abwarten, bis die Menschen zur Kirche kommen, sondern auf sie zugehen und sie mit dem Bibelwort, aber auch mit helfenden Diensten bei Armut, Krankheit und Arbeitslosigkeit für die Kirche und den Glauben zurückgewinnen. Im Jahr seines Amtsantritts, am 23. Juni 1835, heiratet Otto von Gerlach Pauline von Blanckenburg (1804–1887), die Schwester seiner Schwägerin, der Frau Ludwigs von Gerlach. Vier der zehn Kinder bleiben am Leben und überleben ihren Vater.

Gemeindeaufbau in St. Elisabeth und königliche Aufträge

Die Arbeit in St. Elisabeth ist hartes Brot. Von den 11 000 Gemeindegliedern besuchen

nur wenige die Gottesdienste; unter den ca. 200 sonntäglichen Predigthörern sind viele »aus der Stadt«: Der lebendig mit ihm verbundene Kreis war freilich nur zum kleinsten Theile aus der örtlichen Parochie, deren Pastor er war. Sonntäglich zog die Elisabethkirche eine von sehr verschiedenen Seiten und aus sehr verschiedenen Ständen sich sammelnde, wenn nicht große, doch desto treuere Schaar herbey, die in der festen Anschließung an diese Kirche fast zu einer besonderen Gemeinde zusammenwuchs. Ohne Frage war für Viele die schon sonst gekannte und geliebte Persönlichkeit des Predigers der erste Anziehungspunkt.2)
     Mit den Kirchenbehörden liegt er bald in heftigem Streit um die Anstellung eines Hilfsgeistlichen und wegen seiner Weigerung, Geschiedene zu trauen. 1837 droht ihm deswegen sogar die Amtsenthebung. Bei seinen Hausbesuchen in den elenden Behausungen seiner Gemeindeglieder zieht sich Otto von Gerlach schon 1835 und zwei Jahre später wieder heftige, ja lebensgefährliche Infektionskrankheiten (Pocken und Gehirnentzündung) zu; schon 1837 wird vom Superintendenten Ernst Siegismund Schultz (1790–1869) vorgeschlagen, Pfarrer Karl Ludwig Blume (1792–1873) von der Nazarethkirche abzuziehen und Gerlach zur Unterstützung beizugeben. Trotzdem bringt Otto von Gerlach ein Projekt nach dem anderen auf den Weg: Mit Hilfe von Johann Evangelista Goßner (1774–1858), dem Gründer der Berliner Missionsgesellschaft, entsteht 1837 das
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Elisabethkrankenhaus in Zusammenarbeit mit dem Frauenkrankenverein der Gemeinde, 1841 gründet sich auf Gerlachs Initiative ein »Verein zur Förderung der würdigen Sonntagsfeier«. Ein Flugblatt zu Neujahr 1842, das Otto von Gerlach verfaßt und das von allen 56 Berliner Geistlichen unterschrieben wird, löst eine jahrelange Debatte über die Bedeutung der Sonntagsheiligung aus. Die Frage war von großer Bedeutung in einer Gesellschaft, in der die Sonntagsarbeit noch üblich war. 1841 wird auch das zu kleine Schulhaus in der Invalidenstraße zum Pfarrhaus umgewidmet; dort kann Otto von Gerlach 1843 endlich sein Konvikt mit den Kandidaten und Hilfspredigern einrichten, die ihm seit 1842 in der Gemeindearbeit zur Hand gehen.
     Der neue König war auf den Bruder seines Leibadjutanten schon als Kronprinz aufmerksam geworden, er hatte ihm 1833 einen Aufsatz über das Kirchenrecht in der evangelischen Kirche zukommen lassen. Doch der Ausgangspunkt zu einer engen Verbindung des Pfarrers zu dem frommen Kronprinzen und König waren Gerlachs Vorstellungen von innerer Mission, wie man damals die Bemühungen zur Integration des entstehenden Proletariats in Kirche und Gesellschaft nannte. Seine guten Englischkenntnisse, seine Übersetzungen von Werken aus der englischen Erweckungsbewegung – John Wesley (1703–1791), Richard Baxter (1615–1691) – schienen dem König die
besten Voraussetzungen, ihn mit dem Architekten Stüler (1800–1865) und dem Hof- und Garnisonprediger in Potsdam Adolf von Sydow (1800–1882) sowie dem Prediger an der Berliner Hausvogtei Herrmann Ferdinand von Uhden (1812–?) nach England zu schicken. Dort sollen sie die Bemühungen um eine Erneuerung von Kirche und Gesellschaft studieren und erkunden, was für Berlin und Preußen übertragbar sei. Der Bericht über die Entstehung und Einrichtung vieler neuer »Kirch- und Pfarrsysteme in England mit Rücksicht auf unsere kirchlichen Zustände« wird 1845 veröffentlicht, aber schon 1844 läßt der König ihn dem Magistrat von Berlin zukommen, der es gewagt hatte, die konservative Entwicklung in der Kirche zu kritisieren und – ausgerechnet vom König! – Abhilfe zu fordern.
     Der bedeutendste Ertrag dieser Reise war jedoch die Begegnung mit Thomas Chalmers (1780–1847), Pfarrer in Glasgow, der dort ein flächendeckendes Armenwesen auf der Basis und in der Verantwortung der Kirchengemeinden aufgebaut hat. Chalmers Konzept war aus derselben Quelle gespeist wie das der Armenkommissionen des Berliner Magistrats. Vorbild beider war die Reorganisation der Armenpflege in Hamburg 1765 durch die »Hamburger Patriotische Gesellschaft«. Aber Chalmers hatte das Modell kirchlich ausgestaltet und kam damit den Bemühungen Friedrich Wilhelms IV. und seiner Freunde entgegen, die das urchristliche Diakonenamt
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wieder beleben und die Armenpflege ganz in kirchlich- christliche Verantwortung übertragen wollten. 1847 hat Otto von Gerlach seine Übersetzung von Chalmers Buch über die kirchliche Armenpflege fertiggestellt. In seinem Vorwort bedauert er, daß die Einführung des Diakonenstandes in die kirchliche Verfassung bisher nicht gelungen sei – die erste Preußische Generalsynode hatte im Jahr davor das Thema nur erfolglos behandelt.
     Inzwischen hat der König von Gerlach 1842 in die Gründungskommission für das Modellkrankenhaus und die Diakonissenausbildungsstätte Bethanien, das Haus seines geplanten Schwanenordens, berufen. Otto von Gerlach setzt sich vehement dafür ein, dieses diakonische Zentrum im Vogtland, in seiner Gemeinde, zu bauen. Die Entscheidung fällt aber dann für das Köpenicker Feld in der Luisenstadt. Der König hat auch Theodor Fliedner (1800–1864), den Gründer der Kaiserswerther Diakonissenanstalten, und Wichern, den Vater des »Rauhen Hauses« in Hamburg, beratend hinzugezogen. Beide haben vom Schwanenorden abgeraten und die Kirchengemeinden als Träger des Diakonats vorgeschlagen, ergänzt durch spezielle Anstalten für besondere Gruppen der Bedürftigen. Wichern hat für sein Konzept der Inneren Mission intensiv auf Gerlachs Chalmers-Buch zurückgegriffen, hat es »zweimal mit dem Bleistift« durchgearbeitet. Sein grundlegender Unterschied zu Gerlach lag darin, daß er nichts von der Verkirchlichung
der sozialen Fürsorge hielt. Er bevorzugte eine vernünftige Arbeitsteilung zwischen staatlicher, kirchlicher und freier Armenpflege – wie sie im Grunde bis heute besteht und im Sozialhilfegesetz geregelt ist.

Unerbittlich in der Verfolgung seiner Prinzipien

Aber nicht nur im Theoretisch- Grundsätzlichen ist Otto von Gerlach zu einem der Experten für kirchliche Armenpflege geworden, auch in der Praxis baut er unermüdlich das soziale Netz in seiner Gemeinde aus. 1844 gründet er einen Beschäftigungsverein für arbeitslose Handwerker, vor allem Weber. Ein Sparverein hilft den Arbeitern, die in Lohn und Brot stehen und für harte Zeiten (Winter, Arbeitslosigkeit, Krankheit) einen Spargroschen zurücklegen wollen. Es gab ja weder Krankenkassen noch Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Um die Chancen der Armenkinder zu verbessern, gründet von Gerlach einen Schulbesuchsverein, der die Eltern anhält, ihre Kinder in die Schule zu schicken, und der kontrolliert, ob sie auch hingehen – eine schwierige Angelegenheit zu Zeiten, da die Kinderarbeit im Handwerk und in den Fabriken üblich ist. Schließlich entsteht auch der »Verein zur Förderung von Sitte und Geselligkeit unter den jungen Leuten des Gewerbestandes auf entschieden christlicher Grundlage«, der aber vor sich hin mickert – vergleichbare

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Vereine sind erfolgreicher. Auch spezielle Gottesdienste für Droschkenkutscher, angeregt von der Vereinigung der Fuhrherren und bis 1848 stark besucht, hält Otto von Gerlach regelmäßig ab. Wie unerbittlich er in der Verfolgung seiner Prinzipien ist, zeigt eine Begebenheit aus dem Jahre 1846.
     Als Uhlich (1799–1872, Begründer der aufgeklärten Bewegung der Lichtfreunde und Prediger der Freien Gemeinde in Magdeburg, d. V.) in Geschäften des Gustav-Adolf- Vereins neulich von Magdeburg hierher gekommen war, achtete er für schicklich, auch den Prediger von Gerlach zu besuchen. Dieser rief ihm gleich mit Heftigkeit und abwehrender Gebärde entgegen: »Wir sind Feinde!« Uhlich erwiderte, wohl wisse er, daß sie von verschiedener Ansicht seien, aber er denke, dies könne ein freundliches Begegnen von Mensch zu Mensch nicht wehren. »Nein!« rief Gerlach zornig, »wir können nichts miteinander gemein oder zu tun haben.« Als Uhlich darauf bestand, daß zwei in ihren Ansichten einander entgegenstehende Männer, sofern es beide redlich meinten, ja sogar ein Interesse hätten, den Versuch zu machen, wiefern einer den anderen umstimmen könne, wies ihn Gerlach abermals zurück und erklärte bitter, einen Mann von Uhlichs Denkart müsse er verabscheuen und hassen, und wandte sich ab, als ob der Teufel vor ihm stünde. So mußte denn Uhlich beschämt abziehen ...3)
     1844 muß es einen Einbruch in Otto von Gerlachs Leben gegeben haben, über den sich jedoch seine kirchlichen Biographen
ausschweigen. (Auch in den Akten des Konsistoriums, des Justizministeriums und des Ministeriums für Geistliche Angelegenheiten sind keine Hinweise zu finden.) Nur Varnhagen von Ense, der Chronist der Revolutionszeit, schreibt unter dem 1. Oktober 1844 in seinem Tagebuch: Geschichte des Predigers von Gerlach, der sein Dienstmädchen so mißhandelt, so barbarisch geschlagen, ihr die Brust zerquetscht und andere Mißhandlungen zugefügt hat, daß sie, in die Charité gebracht, dort an den Folgen starb. Der Pfaffe ist, trotz allen Ansehens und aller Gunst, in der er steht, doch zu einjähriger Festungshaft verurteilt worden, wird aber auch diese verhältnismäßig geringste Strafe nicht leiden, sondern legt nur sein Predigeramt nieder und geht mit seiner Familie auf Reisen.4) Otto von Gerlach muß aber seine Arbeit in seiner Gemeinde wieder aufgenommen haben, denn erst im Oktober 1847 hält er seine Abschiedspredigt in St. Elisabeth. Er war zum vierten Hof- und Domprediger berufen worden. Der König war lange zurückhaltend, er fürchtete Strafpredigten seines Hofpredigers von der Kanzel des Doms. Einen Tag vor seiner Einführung muß Otto von Gerlach zwei seiner Kinder beerdigen, 1 ¾ und 3 ¾ Jahre alt. Sie waren an Lungenentzündung gestorben. 1848 wird er Konsistorialrat, erhält von der Berliner Universität den Titel Dr. theol. h. c. und wird im Februar 1849 ordentlicher Honorarprofessor der Berliner Universität. Doch zwei Jahre nach der
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Einführung in sein Pfarramt am Dom erleidet Otto von Gerlach eine Reihe von Schlaganfällen und Zusammenbrüchen und stirbt am 24. Oktober 1849 im 49. Lebensjahr.

»Wer einen Turm baut, überschaue die Kosten ...«

Ich habe mir meine eigenen Gedanken zu diesem Menschen und seinem so kurzen Lebenslauf gemacht. Ich denke, er fühlte sich schon als Junge im Schatten seiner älteren und so erfolgreichen Brüder. Sensibel und von Selbstzweifeln gequält – die Briefe an seinen Bruder Ludwig sprechen da eine deutliche Sprache –, mußte er seinen eigenen, einen besonderen Weg finden, den Weg in die Theologie. Hin- und hergerissen zwischen Wissenschaft und Praxis, gelang ihm die Vermittlung nur schlecht. In einem viel zu großen Arbeitsfeld hat er viel zu viel gewollt: »Wer einen Turm baut,« sagt Jesus, »überschlage die Kosten, ob er's habe hinauszuführen.« 5) Otto von Gerlach hatte es nicht und baute trotzdem rastlos, fand Aufmerksamkeit und Anerkennung, aber er zahlte einen hohen Preis dafür. Ob der Zusammenstoß mit dem Prediger Uhlich seinen Umgang mit Kollegen und Gegnern kennzeichnet, ob der Angriff auf seine Dienstmagd eine Gewalttätigkeit war, die in seinem Charakter angelegt war, oder der Verzweiflungsausbruch eines Überforderten – ich halte das zweite eher für möglich.

Die hohen kirchlichen Ehrungen der letzten beiden Jahre wurden einem Ausgebrannten zuteil, einem, der zu wenig Zutrauen zu sich selbst und zu seinem Amt gehabt hat, der seine Bestätigung aus seinem rastlosen Tun bezog. Es bleibt aber seine tiefgreifende Wirkung auf die Neuordnung der Kirche in Verfassung und Diakonie. Es bleibt sein Beitrag zur konservativen Revolution neben seinen Brüdern Ernst Ludwig und Leopold. Es bleibt aber auch Otto von Gerlach als ein Spiegel, in dem wir uns und unsere Zeit mit ihren Herausforderungen erkennen können, die sich doch so wenig von denen vor 150 Jahren unterscheiden.

1     Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Otto von Gerlachs Reifejahre im Spiegel seiner Briefe, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 50/1977, S. 199 f.
2     Das Alte Testament nach Dr. Martin Luther, hrsgg. von Otto von Gerlach, bearb. von H. E. Schmieder, IV. Band, 1. Abt., Berlin 1851, S. XVIII (Vorwort)
3     Karl August Varnhagen von Ense, Tagebücher, Berlin 1905; Eintragung zum 1. 1. 1846
4     Ebenda
5     Lukas Kap. 14, Vers 28

Bildquelle:
Hundert Jahre St. Elisabeth, hrsg. vom Gemeindekirchenrat St. Elisabeth

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