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Heinrich Lange
Abguß von Kants Schädel in Berlin

Forschungsobjekt der Hirn- und Schädellehre des 19. Jahrhunderts

Außer der Totenmaske Immanuel Kants (BM 4/99) wurde im Institut für Anatomie der Berliner Charité ein bisher unbekannter und unpublizierter Gipsabguß vom Schädel des Königsberger Philosophen (1724–1804) aufgefunden. Da auf ihm die gleiche Inventarnummer N.C. 957 wie auf der Totenmaske vermerkt ist, muß auch der Schädel in dem alten Katalog, der vor dem Umzug der Anatomischen Sammlung in das Institutsgebäude auf dem Gelände der Charité um 1883 im Anatomisch- Zootomischen Museum der Universität Unter den Linden geführt worden ist, erfaßt gewesen sein. Trotz Vernichtung dieses Katalogs im Zweiten Weltkrieg lassen sich noch Herkunft, Verfertiger und Herstellungszeit des Schädel- Abgusses ermitteln.
     1871 bildete sich ein »Comité zur Wiederherstellung der Grabstätte Kants« am Königsberger Dom. Der 1809 errichtete kapellenartige Raum am Ostende der Stoa Kantiana war baufällig geworden. Im Frühjahr 1880, als die neugotische Grabkapelle vollen-

det war, entschloß man sich, auch Kants Gebeine zu bergen, um sie vor der gänzlichen Vernichtung zu bewahren. Vor Witterungseinflüssen geschützt und vor künftiger Verwechslung gesichert, sollten sie in einem Metallsarg in einer ausgemauerten Gruft wiederbestattet werden.1) Die Ausgrabung vom 22. bis 24. Juni 1880 führte der Maler Johannes Wilhelm Heydeck (1835–1910), Professor an der Kunstakademie, der als Mitglied der Altertumsgesellschaft Prussia zahlreiche prähistorische Gräber freigelegt hatte, eigenhändig aus. Er fertigte einen »Bericht über die Untersuchung der Grabstätte Kants ...«2) vom 25. August 1880 und hielt das Geschehen im Innern der Kapelle in einer Kreidezeichnung fest. Unsere Abbildung nach einer Reproduktion des verschollenen, zuletzt im Kant-Museum des Stadtgeschichtlichen Museums befindlichen Originals3) zeigt, wie Heydeck mit beiden Händen den Schädel Kants aus der von den Herren des Komitees umstandenen Grabgrube dem am Rande derselben knienden Kant-Forscher Emil Arnoldt (1828–1905) reicht.
     Die Identifizierung des Skeletts als das des berühmten Philosophen gelang insbesondere durch den Vergleich des wohlerhaltenen Schädels mit der Totenmaske im Staatsarchiv zu Königsberg. »Nachdem ich das Skelet ... blosgelegt, so weit als möglich gemessen und herausgenommen hatte«, so Heydeck, »zeigte sich schon bei oberflächlicher Vergleichung des Schädels die grösste Aehnlich-
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keit mit dem von Professor Knorre, damals Portraitmaler in Königsberg, nach der Leiche Kants abgegossenen Kopfe.«4) Der eingehende Vergleich, den der Anatomieprofessor Carl Kupffer zusammen mit dem candidatus medicinae Fritz Bessel Hagen vornahm, ergab denn auch die Identität, wie Kupffer in seinem Bericht »Die Bestimmung der Identität der Reste Kant's« vom 14. September 1880 ausführt: »Die Vergleichung des Schädels mit dem Gypsabguss ergab nach zwei Seiten hin volle Uebereinstimmung, einmal in den Maaßen, dann in Hinsicht auf die individuelle Besonderheit der Schädelbildung«5), nicht zuletzt des einzigen noch vorhandenen Zahns, des vorstehenden rechten Eckzahns des Unterkiefers, dem an der Totenmaske das Abstehen der Lippe entspricht. Auf Heydecks Zeichnung betrachtet der Prosektor Professor Paul Albrecht aufmerksam den Unterkiefer mit dem Zahn.
Abguß des Schädels von Immanuel Kant im Berliner Institut für Anatomie, Gips, 1880
Auch Kupffer und Bessel Hagen erscheinen auf dem Bild. Ersterer steht breitbeinig neben Arnoldt, letzterer mit in die Hüfte gestütztem Arm neben Albrecht.
     »Um zunächst ein möglichst getreues Abbild des Schädels weiteren Kreisen vorlegen zu können und um vor allem noch fernere Forschungen möglich zu machen, haben wir den ganzen Schädel nebst dem Unterkiefer abformen lassen«, so Bessel Hagen in seiner Schrift »Die Grabstätte Immanuel Kants mit besonderer Rücksicht auf die Ausgrabung
und Wiederbestattung seiner Gebeine im Jahre 1880«.6) Die Form, die der Stukkateur Meyke in der anatomischen Anstalt anfertigte, sei »gut gelungen«, so die Anatomen in ihrer eingehenden Untersuchung »Der Schädel Immanuel Kant's« von 1881 im 13. Band des Archivs für Anthropologie. Sie merken bei dieser Gelegenheit an, daß »Abgüsse dieser Form in Gips oder Elfenbeinmasse durch die Buch- und Kunsthandlung von Hübner und Matz in Königsberg i. P. bezogen wer-
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   6   Probleme/Projekte/ProzesseKant-Schädel in Berlin  Vorige SeiteNächste Seite
den« konnten.7) Um einen solchen Abguß wird es sich bei dem gipsernen Exemplar in der Berliner Anatomischen Sammlung handeln. Der bis auf ein kleines Fragment fehlende Unterkiefer gehört zu den Kriegsverlusten der Sammlung. Ein Gipsabguß – offenbar der Erstabguß – aus dem Besitz des Prussia-Museums war zuletzt im Kant-Museum ausgestellt. Der Führer »Das Kantzimmer im Stadtgeschichtlichen Museum« von 1936 enthält auch eine kleine Aufnahme, die den Verfasser und Direktor des Museums Eduard Anderson (1873–1947) und einen Besucher aus Japan beim Betrachten des Schädel- Abgusses zeigt.8) Bei dem hier nur wenig mehr als pfennigstückgroß erscheinenden Abguß handelt es sich um die bisher einzige Abbildung eines solchen. Das Exemplar im Kant-Museum gilt als vernichtet. Es scheint, als wäre der Schädel- Abguß in Berlin der einzige noch erhaltene.
     Im Verlag von Hübner & Matz erschien schon 1880 eine erste Serie photographischer Aufnahmen des Schädels vor dessen Abformung. Sie wurde von Kupffer und Bessel Hagen unter dem Titel »Immanuel Kants Schädel. Fünf photographische Blätter mit erläuternden Bemerkungen« herausgegeben.9) Die zweite Serie von Photographien zeigten den Schädel nach der Abformung von allen sechs Seiten und in halber natürlicher Grösse. Diese nach dem Zeugnis der Anatomen qualitätvollere Serie – auch der Eckzahn ist hier eingeleimt – wurde »in dem
Berliner phototypischen Institut von R. Prager durch Lichtdruck vervielfältigt«10) und ihrer ausführlichen wissenschaftlichen Publikation von 1881 beigegeben.
     Der Schädel Kants fand sogleich das Interesse der Forschung. Als Kant starb, lag die Blüte der Physiognomik Johann Kaspar Lavaters (1741–1801) zwei Jahrzehnte zurück. Der Züricher Theologe, Philosoph, Schriftsteller und Physiognom vertrat die Ansicht, aus der äußeren Erscheinung eines Menschen, besonders der Gesichtszüge, auf dessen innere Eigenschaften, den Charakter, schließen zu können. Schon Kant aber hatte 1798 in seiner »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« festgestellt, daß »die Physiognomik als Ausspähungskunst des Innern im Menschen vermittelst gewisser äußerer unwillkürlich gegebener Zeichen, ganz aus der Nachfrage gekommen« sei.11)
     Ende des 18. Jahrhunderts begründete der österreichische Mediziner Franz Joseph Gall (1758–1828) in Wien seine »Schädelorganen- Lehre«.12) Mit dieser Hirn- und Schädellehre, von ihm auch Kraniologie oder Kranioskopie, aber noch nicht Phrenologie genannt, erregte er großes Aufsehen. Gall versuchte, die Geistesfunktionen und -krankheiten im Gehirn zu lokalisieren und die Entwicklung dieser Gehirnzentren durch Vorwölbungen am Schädel von außen festzustellen. Wenn er auch bereits vergleichende anatomisch- physiologische Untersuchungen durchführte, so wurde doch 1802 seine Lehre, daß aus
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spezifischen Formen des Schädels auf bestimmte geistig- seelische Fähigkeiten und moralische Eigenschaften zu schließen sei, verboten. Dies veranlaßte ihn, 1807 nach Paris überzusiedeln, wo er zahlreiche Anhänger fand.
     Auf der Suche nach einem Urteil noch von Kant selbst zu Galls Lehre – Gall begann seine Vorlesungen 1796 – stieß ich in der Kant- Literatur auf zwei interessante Stellen. Christian Friedrich Reusch, der jüngere Sohn von Kants Tischgenossen Karl Daniel Reusch, des Professors der Physik, berichtet 1848 über seinen älteren Bruder Karl, der sich Ende 1800 in Königsberg als praktischer Arzt niedergelassen hatte: »Er hatte Kants Vorlesungen 1793. 1794 gehört, nach hier beschlossenen akademischen Studien und vollendetem Cursus sich in Berlin, besonders aber in Wien ... weiter ausgebildet, auch bei Gall Vorträge über dessen neue Entdeckungen über das Gehirn (Craneologie) gehört, brachte einen von ihm selbst mit den Organen bezeichneten menschlichen Schädel mit ... Alles dies war für Kant merkwürdig; er nahm ihn zu seinem Tischgast ...«13) Eindeutiger ist Kants Notiz »Die Schädellehre in Wien eine

Schädel Kants, Aufnahme von 1880

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Ausgrabung der Gebeine Kants.
Nach der Kreidezeichnung von J. Heydeck, um 1880

Philosophie« auf dem Umschlag eines der Heftchen mit persönlichen Notizen aus dem opus postumum.14) Sie kann als Beleg dafür gewertet werden, daß er die viel später als irrig erwiesene Schädellehre Galls als unwissenschaftlich einschätzte.
     Trotz der bereits zeitgenössischen Kritik an Galls Schädellehre prüfte 1804 der Gall-Adept Wilhelm Gottlieb Kelch, Privatlehrer der Medizin und Prosektor am anatomischen Theater zu Königsberg, »diese bisher unbekannt gewesenen Hülfsmittel zur Ausspähung des Innern des Menschen« am Kopf von Kants Leichnam durch Abtastung und legte diese Untersuchungen noch im Todesjahr des Philosophen in seiner Schrift »Immanuel Kants Schädel. Ein Beytrag zu Galls Hirn- und Schädellehre« vor.15) Erschien der Schädel Kants, wie der Kant- Biograph Ehregott Andreas Christoph Wasianski bemerkt, den in Galls Geheimnisse nicht
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   9   Probleme/Projekte/Prozesse Kant-Schädel in Berlin  Vorige SeiteNächste Seite
Eingeweihten »besonders regelmäßig gebaut«16), hat er nach Ansicht von Kelch »durch die Menge der an ihm stark ausgezeichneten Erhabenheiten eine merkwürdige Form«.17) Kelch folgte dabei der Auffassung Galls, daß geistige und moralische Veranlagungen an bestimmte Stellen der Hirnrinde gebunden seien und sich ihre Stärke durch entsprechende Aufwölbungen des Schädels ermessen lasse. Nach dem Gallschen Schema übertrug er die Organe des Gehirns auf den Schädel Kants und prüfte so Galls Theorie, »daß Männer von anerkannt großen Talenten sich durch eine merkwürdige Schädelbildung, durch stellenweise Aufwölbungen ihres Schädels, besonders an der Stirne auszeichnen«.18)
     Es kann nicht überraschen, daß an Kants Stirn die Organe des Orts-, Zahlen- und Sachgedächtnisses deutlich und die Organe der Gutmütigkeit und des Witzes stark entwickelt sind. Hingegen verwundert, daß sich an der Philosophenstirn die Erhabenheiten, welche die »Organe des vergleichenden Scharfsinns« und die »Organe des metaphysischen Scharfsinns oder der philosophischen Speculation« anzuzeigen pflegen, als »eine zwar dem Gefühle, weniger aber dem Auge deutliche Aufwölbung« bzw. »Noch weniger« wahrnehmen lassen.19) Diese Organe scheinen nach Kelch miteinander und mit dem Sachgedächtnis verschmolzen zu sein. Freilich sind am Scheitel bis Hinterkopf Aufwölbungen der »Organe der Ruhmsucht,
Eitelkeit u.s.w.« nicht zu beobachten, und die Kennzeichen für die »Organe des Geschlechtstriebes«, »zwey kuglichte Erhabenheiten am Hinterhaupte«, die sich »bey ihrer stärkeren Entwicklung durch einen breiten Nacken« verraten, werden an dem zeitlebens unbeweibten Philosophen natürlich »gänzlich vermißt«.20)
     Die wahrhaft wissenschaftliche Cranioscopie glaubte der Arzt, Philosoph, Psychologe und Maler Carl Gustav Carus (1789–1869) begründet zu haben, der sich vier Jahrzehnte nach Kelch und als einziger vor der Ausgrabung des Schädels um 1880 zu Kants Kopf äußerte. Der Leibarzt des Königs von Sachsen und Goethefreund stellte in seinem Werk »Grundzüge einer neuen und wissenschaftlich begründeten Cranioscopie« (1841) fest, daß Galls »in ihrer Organenlehre höchst unklare und unwissenschaftliche Cranioscopie« sie »zu ihrem nicht geringen Nachtheil« betroffen habe. Es hätten damals noch physiologische Erkenntnisse »über Hirnleben und Beziehung des Schädels zum Hirn« für die Gründung einer wissenschaftlichen Kranioskopie, »d. i. die physiologische Cranioscopie«, gefehlt.21) Carus kommentierte in seinen Atlanten der Kranioskopie die Schädel so berühmter Männer wie Goethe, Schiller, Napoleon und eben Kant.22) Von Kant fügte er dem »Atlas der Cranioscopie« (1845) und dem »Neuen Atlas der Cranioskopie« (1864) eine lithographierte Abbildung des Gipsabgusses der Totenmaske bei, an dem er
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   10   Probleme/Projekte/Prozesse Kant-Schädel in Berlin  Vorige SeiteNächste Seite
sich orientierte.23) Bei dem 1844 von dem Dresdener Porträtzeichner und Lithographen Ernst Moritz Krantz (1812–1869) gezeichneten und im 19. Jahrhundert einzig abgebildeten Abguß handelt es sich offensichtlich um eine in Carus' Sammlung in Dresden befindliche Kopie des Abgusses im Atelier Johann Gottfried Schadows (1764– 1850) in Berlin, den dieser aus Königsberg oder der Berliner Anatomischen Sammlung erhielt und der dann bzw. wieder nach Berlin gelangt sein könnte.24)
     Auch Carus fand die Bildung von Kants Schädel »im Ganzen sehr merkwürdig« und »in dem Baue des Vorderhauptes ... namentlich die beträchtliche Breite bemerkenswerth ... Wie sehr also Ausdehnung des Vorderhauptes nach der Breite, welche allemal durch eine stärkere Auseinanderlegung der Seitenhälften des Vorhirns bedingt wird, mit einer mehr analytischen Tendenz der Erkenntniss zusammenhängt, ... zeigt sich bei Kant abermals auffallend bestätigt.«25) »Mit dem grossen, gemäss dem vorwaltend analytischen so bedeutend in der Breite entwickelten Vorderhaupt steht dann das nicht minder kräftige Hinterhaupt ... vollkommen in Einklang, und dass das Mittelhaupt die Region des Gefühls, bei dem Schöpfer der reinen Kritik verhältnissmässig nicht so stark ist ..., kann nicht überraschen.«26) Mit der großen Höhe des Hinterhauptwirbels darf die »grosse Energie seines Willens und seiner Ausdauer, in Durchführung so bedeu-
tender, seinen Namen unvergesslich machender Werke, ... in volle Uebereinstimmung gebracht werden.«27) Damit kam Carus, Vertreter der naturphilosophischen Schule der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu einem von Kelch stark abweichenden Ergebnis. Hatte doch letzterer, der die geistigen Fähigkeiten an anderen Besonderheiten des Schädels festmachte, an Kants Kopf gerade die Organe des vergleichenden Scharfsinns und des metaphysischen Scharfsinns oder der philosophischen Spekulation nicht so bzw. weniger deutlich ausgeprägt und die Organe der Gutmütigkeit stark entwickelt gefunden.
     1880 konstatierten aber nun Kupffer und Bessel Hagen, Carus' Charakteristik des Kant- Schädels sei der ihrigen »direct entgegengesetzt«.28) Während Carus von »starker Entwicklung« des Vorder- und Hinterhauptes und »schwächerer Entwicklung«29) des Mittelhauptes gesprochen hatte, kam ihre Untersuchung zu dem Resultat, Kants Schädel sei »nicht durch die Verhältnisse der Stirn, sondern durch die Entwickelung der mittleren und hinteren Region ausgezeichnet.«30) Nach Kupffer bestimmten diese Unterschiede »aber wohl weniger die Ergebnisse des irrationellen Maassverfahrens ... als vielmehr die Abhängigkeit seines Urtheils von einem Lehrsatze, den er selbst aufgestellt und der nun an diesem ausgezeichneten Objecte seine Bestätigung finden sollte, so wenig auch das Object den Voraussetzungen
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   11   Probleme/Projekte/Prozesse Kant-Schädel in Berlin  Vorige SeiteNächste Seite
entsprechen mochte. Dieser Satz besagte, dass der Dreitheilung des Hirns in Vorderhirn (Hemisphären), Mittelhirn (Vierhügel) und Hinterhirn (Kleinhirn) die drei Strahlen des Seelenlebens, das Erkennen, Fühlen und Wollen entsprächen und dass andererseits diese drei Sphären am Schädel in den drei Schädelwirbeln, dem Vorderhaupt, Mittelhaupt und Hinterhaupt, zum Ausdruck kämen.«31) Nach Carus hat demnach die Entwicklung der einzelnen Schädelwirbel eine »psychische Bedeutung« und läßt die »geistigen und moralischen Eigenschaften einer Person« erkennen: Der Vorderhauptwirbel ist die »Region der Intelligenz«, der Mittelhauptwirbel die »Region des Gemüthes« und der Hinterhauptwirbel die »Region des Willens und der Begehrun-

Kenotaph des Kant-Grabmals heute
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   12   Probleme/Projekte/Prozesse Kant-Schädel in Berlin  Vorige SeiteNächste Seite
gen«.32) Mußte Carus deshalb die »Stirn des Denkers, des tiefsinnigen Philosophen ... mehr nach beiden Seiten gewölbt und stärker finden«33)? Man möchte Kupffers Kritik an Carus' Theorie folgen, wenn man des letzteren Urteil über den Schädel Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) liest, zu dem es unter anderem heißt: »Die Vorderhauptshöhe ist jedenfalls bedeutend ... Weniger dagegen zeichnet die Stirn durch grössere Breite sich aus, entsprechend geringerer Anlage für analytisches Denken ...«34)
     »Die meisten andern, von Gall und seinen Nachfolgern angegebenen Beziehungen, und insbesondere die vermeinten Beziehungen einzelner moralischer Eigenschaften in gewissen knöchernen Vorragungen« hält Carus aber für »durchaus unlogisch, unphysiologisch und unhaltbar ... Dergleichen nun gehört durchaus unter die Träumereien und Wahnbilder!«35) Aber auch Carus fand sogleich seine Kritiker. Dennoch gewannen diese »Ideen der naturphilosophischen Schule«, wie Kupffer, der zuständige Anatom der Ausgrabung von 1880, anmerkte, »Verbreitung und noch heutzutage sucht die populäre Anschauung eine Beziehung zwischen der Entwickelung der Stirn und der Höhe des Denkvermögens. Eine hohe und breite Stirn gilt als Wahrzeichen des Denkers.«36)
     Kupffers und Bessel Hagens Hauptaugenmerk galt der Gesamtform des Schädels. Sie stellten fest, »Kant's Schädelkapsel zeige eine
mittlere Länge und Höhe bei beträchtlicher Breite und gleichmässiger Wölbung und weise eine bedeutende Capacität auf«. 37) Der Inhalt des Schädels, der ihnen ja nun im Original vorlag, überschreite nämlich 1700 Kubikzentimeter, während das Mittel männlicher europäischer Schädel der Gegenwart zwischen 1400 und 1500 läge.38) Indem also Kants Schädel, wie die beiden Anatomen zuletzt ausführten, »das Durchnittsmaass der übrigen preussischen und litauischen Schädel um circa 300 ccm« übertreffe, habe er »einen ungewöhnlich voluminösen Inhalt gehabt«.39) Im Zusammenhang mit der im Frühjahr 1999 bekannt gewordenen Untersuchung des Schädels Goethes im Jahre 1970 muß dann freilich verwundern, daß die Kapazität der Schädelkapsel des Königsberger Philosophen die des Weimarer Dichters, welche mit 1550 Kubikzentimetern angegeben wird,40) so deutlich übertrifft.
     Dabei hob Kupffer an Kants Schädelkapsel die »sehr beträchtliche« Breite hervor und vertrat als Resultat seiner Untersuchung die Auffassung, daß »mit der steigenden Intelligenz das Hirnvolumen, und dem entsprechend die Capacität der Schädelkapsel«,41) und zwar besonders in der »Breitendimension«, zunehme: »Die Thatsache«, so Kupffer, »dass ein eminentes Denkvermögen sich hier mit hochgradiger Brachycephalie verband, dass die Entwickelung der Breitendimension dem Schädel Kant's den hervorstechenden Charakter verlieh, giebt der
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Auffassung, dass mit steigender Intelligenz die Schädelkapsel vorherrschend an Breite gewinnt, eine bedeutsame Stütze.«42) Bei dem jetzt bekannten Schädel Goethes erweist sich zumindest die Theorie von der Kapazität des Hirnschädels als Gradmesser der Intelligenz – Höhen- und Breitenmaße stehen nicht zur Verfügung – als falsch. Mit der Kapazität von 1550 Kubikzentimetern läge er nach Kupffers Bewertung, »dass ein Schädel, dessen Inhalt das Maaß von 1600 ccm überschreitet, in dieser Hinsicht bereits oberhalb des mittleren Durchschnitt's männlicher europäischer Schädel der Gegenwart liegt«,43) nur im mittleren Durchschnitt! Wie konnte Goethe da erkennen, ist man geneigt anzumerken, daß Kant »der vorzüglichste (der neueren Philosophen), ohne allen Zweifel«,44) sei?
     Wie Bessel Hagen festhielt, wurden die Gebeine Kants schließlich am Totensonntag, dem 21. November 1880, »in einen mit weißseidenem Bahrtuch und durchsteppter Decke ausgeschlagenen Zinksarg gelegt«. Im Sarg deponierte man die Glasröhre mit den eingeschmolzenen, auf Hanfpapier geschriebenen Dokumenten und einem Protokoll, in dem es heißt, daß die Herren, die der »Ausgrabung der Gebeine Kants beiwohnten, bezeugen, dass ... die ausgegrabenen Gebeine, einschliesslich des Schädels, wieder in einen an der bisherigen Grabstätte beigesetzten Sarg hineingelegt worden sind.« Die »Aktenstücke« wurden in einer »Abschrift im
Stadtarchiv zu Königsberg« niedergelegt.45) Mit dem Archiv sind sie bei dem Bombardement der Stadt am 29./30. August 1944 verbrannt, doch ist ihr genauer Wortlaut in Bessel Hagens Schrift von 1880 überliefert.
     Unberührt blieb die Gruft mit dem Sarg bei der Erneuerung der Grabstätte im Jahre 1923/24 anläßlich der zweihundertsten Wiederkehr von Kants Geburtstag.46) Die baufällige neugotische Grabkapelle wurde auch infolge des veränderten Zeitgeschmacks nicht mehr für würdig befunden. Friedrich Lahrs (1880–1964), Professor für Architektur an der Königsberger Kunstakademie, der ab 1898 in Charlottenburg Hochbau studiert und bis 1908 in Berlin gearbeitet hatte, 1906 hatte er den Schinkel- Preis erhalten, schuf über der Gruft mit dem Metallsarg eine offene Ehrenhalle mit schlanken Porphyrpfeilern und flachem Kupferdach. Die Stelle, unter der die Gebeine Kants ruhen, nimmt seither ein granitener Kenotaph ein. Anders als der Dom blieb das Grabmal in den Bombennächten des Jahres 1944 und in den Kämpfen um die Festung Königsberg 1945 nahezu unversehrt. Ob jedoch die Gruft noch heute den doppelten Zinksarg mit den Gebeinen Kants (und den Dokumenten) birgt, muß offenbleiben. Nach Kriegsende und noch 1950 wurde zumindest der Kenotaph aufgebrochen und beraubt,47) dann aber von der sowjetischen Stadtverwaltung wiederhergestellt und unter Denkmalschutz gestellt.
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Quellen und Anmerkungen:
1     Zur Ausgrabung vgl. Carl Kupffer und Fritz Bessel Hagen, Immanuel Kants Schädel, Königsberg 1880; Fritz Bessel Hagen, Die Grabstätte Immanuel Kants mit besonderer Rücksicht auf die Ausgrabung und Wiederbestattung seiner Gebeine im Jahre 1880, in: Altpreussische Monatsschrift Bd. 17, Königsberg 1880, S. 643 ff.; Carl Kupffer und Fritz Bessel Hagen, Der Schädel Immanuel Kant's, in: Archiv für Anthropologie Bd. 13, Braunschweig 1881, S. 359 ff.
2     Vgl. Fritz Bessel Hagen, a.a.O., S. 653 ff.
3     Wilhelm Gottlieb Kelch, Immanuel Kants Schädel. Ein Beytrag zu Galls Hirn- und Schädellehre, Neudruck der Ausgabe von 1804, Königsberg 1924, S. 4 und Titelbild; Eduard Anderson, Das Kantzimmer im Stadtgeschichtlichen Museum, Königsberg 1936, S. 19 f.
4     Fritz Bessel Hagen, a.a.O., S. 655 f.
5     Ebenda, S. 657
6     Ebenda, S. 650
7     Carl Kupffer und Fritz Bessel Hagen, a.a.O. (1881), S. 360 Anm. 1
8     Eduard Anderson, a.a.O., S. 16 und Abb. letzte Taf. rechts
9     Carl Kupffer und Fritz Bessel Hagen, a.a.O. (1880), 5 S. und 5 Taf.
10     Fritz Bessel Hagen, a.a.O., S. 651
11     Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften Bd. VII, 1. Abt.; Kant's Werke Bd. VII, Berlin 1917, S. 297
12     Brockhaus – Die Enzyklopädie, 20. Aufl. Bd. 8, Leipzig, Mannheim 1997, S. 117
13     Christian Friedrich Reusch, Kant und seine Tischgenossen, Königsberg 1849, S. 8 f. (Sonderdruck von Reusch, Historische Erinnerungen, in: Neue Preußische Provinzial- Blätter Bd. VI, Königsberg 1848)
14     Artur Buchenau und Gerhard Lehmann (Hrsg.), Der alte Kant. Hasse's Schrift: Letzte Äußerungen Kants und persönliche Notizen aus dem opus postumum, Berlin, Leipzig 1925, S. 64, 92
15     Wilhelm Gottlieb Kelch, a.a.O., S. 7
16     Felix Gross (Hrsg.), Immanuel Kant: sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und E. A. Ch. Wasianski. Mit einer Einleitung von Rudolf Malter, Neudruck der Ausgabe Berlin 1912 , Deutsche Bibliothek Bd. 4, Berlin 1993, S. 304
17     Wilhelm Gottlieb Kelch, a.a.O., S. 9
18     Ebenda, S. 7
19     Ebenda, S. 18 f.
20     Ebenda, S. 23 f.
21     Carl Gustav Carus, Grundzüge einer neuen und wissenschaftlich begründeten Cranioscopie, Stuttgart 1841, S. V–VII, 15
22     Derselbe, Atlas der Cranioscopie oder Abbildungen der Schädel- und Antlitzformen berühmter oder sonst merkwürdiger Pesonen, Heft I und II, Leipzig 1843 und 1845; Derselbe, Neuer Atlas der Cranioskopie enthaltend dreissig Tafeln Abbildungen merkwürdiger Todtenmasken und Schädel, 2. vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1864; vgl. auch Carus, a.a.O., S. 47 ff., 67 ff., 81 f.
23     Ebenda, Taf. I bzw. Taf. VII
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24     Vgl. dazu Carl Gustav Carus, a.a.O. (1845), Text zu Taf. I; Fritz Bessel Hagen, a.a.O., S. 667; Carl Kupffer und Bessel Hagen, a.a.O. (1881), S. 369 Anm. 3.
25     Carl Gustav Carus, a.a.O. (1845), Text zu Taf. I
26     Carl Gustav Carus, a.a.O. (1864), Text zu Taf. VII
27     Carl Gustav Carus, a.a.O. (1845), Text zu Taf. I
28     Carl Kupffer und Fritz Bessel Hagen, a.a.O. (1881), S. 401
29     Carl Gustav Carus, a.a.O., Text zu Taf. I
30     Carl Kupffer und Fritz Bessel Hagen, a.a.O. (1881), S. 403
31     Ebenda, S. 402
32     Carl Gustav Carus, a.a.O., S. 5, 14, 42, 51, 60 ff.
33     Ebenda, S. 61
34     Carl Gustav Carus, a.a.O. (1864), Text zu Taf. XI
35     Carl Gustav Carus, a.a.O., S. 9
36     Carl Kupffer und Fritz Bessel Hagen, a.a.O. (1881), S. 403
37     Fritz Bessel Hagen, a.a.O., S. 661
38     Carl Kupffer und Fritz Bessel Hagen, a.a.O. (1880), S. 2 f.; Fritz Bessel Hagen, a.a.O., S. 660 f.; Carl Kupffer und Fritz Bessel Hagen, a.a.O. (1881), S. 378 f.
39     Carl Kupffer und Fritz Bessel Hagen, a.a.O. (1881), S. 379
40     Thomas Steinfeld, Sonderakte Goethe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18. März 1999, S. 49
41     Fritz Bessel Hagen, a.a.O., S. 663
42     Carl Kupffer und Fritz Bessel Hagen, a.a.O. (1881), S. 400 f.
43     Fritz Bessel Hagen, a.a.O., S. 663
44     Uwe Schulz, Immanuel Kant (rowohlts monographien 101), Reinbek bei Hamburg, 1965, S. 165
45     Fritz Bessel Hagen, a.a.O., S. 651 ff.
46     Zum Bau von 1924 vgl. Richard Dethlefsen, Die Grabstätte Kants, in: Zentralblatt der Bauverwaltung, 44. Jg. Nr. 25, Berlin 18. Juni 1924, S. 205–207, Abb. 1–3.
47     Vgl. z.B. Uwe Schulz, a.a.O., S. 43

Für den Hinweis auf den Abguß des Kant- Schädels bin ich Herrn Ing. Günter Wilcke, Präparator am Institut für Anatomie der Charité, zu Dank verpflichtet.

Bildquellen:
Archiv für Anthropologie Bd. 13, Braunschweig 1881, Taf. VII;
W. G. Kelch, Immanuel Kants Schädel, Königsberg 1924, Titelbild;
Aufnahmen des Verfassers

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