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Annette Vogt
Seltene Karriere einer Emigrantin

Die Wissenschaftlerin Charlotte Auerbach (1899–1994)

Vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert bestimmten vor allem vier Akademien das wissenschaftliche Geschehen in Europa: die 1662 gegründete Royal Society in London, die 1666 ins Leben gerufene Académie des Sciences in Paris, die 1700 in Berlin und 1724/25 in St. Petersburg gegründeten Akademien der Wissenschaften.
     Die Mitgliedschaft in einer dieser Akademien gehörte zu den größten Ehrungen, die die wissenschaftliche Welt verleihen konnte. Frauen blieben von diesen Gremien fast bis in die Gegenwart ausgeschlossen. Von Ausnahmen abgesehen, wurden sie erst nach 1945 Mitglieder. Die Berliner Akademie wählte 1949 Lise Meitner (1878–1968) zum ersten weiblichen Mitglied. Nur insgesamt 16 Frauen gelang es zwischen 1949 und 1989, in dieses Gemium aufgenommen zu werden.1)
     Die Pariser Akademie wählte 1962 eine Naturwissenschaftlerin zum Mitglied, 1978 waren es erst drei Frauen.2) In der Petersburger Akademie wurden zwar schon 1889 die Mathematikerin S. V. Kovalevskaja (1850–1891)


Charlotte Auerbach

 
und 1907 die Physikerin und Nobelpreisträgerin Marie Curie (1867–1934) zu (korrespondierenden) Mitgliedern gewählt. Aber die mit der Oktoberrevolution verkündete Gleichberechtigung der Frau spiegelte sich in der Akademie nicht wider. Von 1917 bis 1984 wurden nur 15 Wissenschaftlerinnen aufgenommen, das erste ordentliche Akademiemitglied wurde 1939 die Physiologin Lina Solomonovna Stern (1878–1968).3)

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Die Royal Society schließlich nahm auch erst ab 1945 Wissenschaftlerinnen in ihre Reihen auf, aber zwischen 1945 und 1990 wurden insgesamt 47 Frauen zum Mitglied gewählt.4) Zwei der in die Royal Society gewählten Frauen sind ehemalige Emigrantinnen: Charlotte Auerbach und Marthe Vogt, über die wir im nächsten Heft berichten werden.
     Seine Roman-Biographie über den berühmten sowjetischen Genetiker Nikolaj Timoféeff- Ressovsky (1900–1981) begann Daniil Granin mit einem Bericht vom 13. Internationalen Genetiker-Kongreß, der im Sommer 1978 in Moskau stattfand. Erstmals konnte der – nicht rehabilitierte und deshalb nicht ins Ausland dürfende – Timoféeff- Ressovsky seine Kollegen aus aller Welt wiedersehen, und erstmals konnten auch viele sowjetische Gelehrte die Legende »Ur« persönlich sprechen.

Tränen vor Freude, und auch aus Kummer

Unter den vielen Begegnungen schilderte Granin auch folgende:»Eine zierliche, nicht mehr junge Frau umarmte ihn, küßte und drückte ihn. Es war Charlotte Auerbach, deren Bücher kürzlich ins Russische übersetzt erschienen waren und Interesse erregt hatten, man kannte sie schon vom Ansehen, während man von Ur nicht wußte, wie er aussah ... Charlotte war aus England gekommen,

wohin sie einst aus Hitlerdeutschland geflohen war. Ur hatte ihr geholfen, in England Fuß zu fassen. Das war 1933 gewesen, lange her, möglicherweise hatte er es vergessen, sie aber erinnerte sich genau. Rasche Frauentränen, Freudentränen, rannen ihr über die Wangen. Außer der Freude war es auch der Kummer über die lange Trennung. 45 Jahre waren vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Epochen waren versunken, die Welt hatte sich verändert, Ur aber war für sie der gleiche geblieben, sie sah noch immer den Älteren in ihm, obwohl sie beide (fast – A. V.) vom gleichen Jahrgang waren.«5)
     Die aus Nazi-Deutschland geflohene Genetikerin Charlotte Auerbach war seit 1957 Fellow of the Royal Society in London. Sie war die 13. Frau, die in die Royal Society aufgenommen wurde.6) Als ehemaliger Emigrantin gelang ihr in ihrem neuen Heimatland Großbritannien eine erstaunliche wissenschaftliche Karriere. Der Beginn dieser Laufbahn aber war mit Berlin verbunden.
     Im Winter 1928/1929 kam die junge Frau Charlotte Auerbach als Doktorandin an das Kaiser-Wilhelm- Institut (KWI) für Biologie in Berlin-Dahlem, um bei dem bedeutenden Biologen Otto Mangold (1891–1962) eine Dissertation anzufertigen. Das KWI für Biologie war eines der ersten Institute der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft und genoß einen ausgezeichneten Ruf.
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Charlotte Auerbach erhielt kein reguläres Stipendium und mußte deshalb zwei Jahre als Lehrerin an einer Berliner Schule arbeiten, ehe sie von 1931 bis 1933 bei Mangold ihre Untersuchungen fortsetzen konnte.
     Charlotte (Lotte) Auerbach wurde am 14. Mai 1899 in Krefeld geboren und wuchs wohlbehütet als einziges Kind in einer angesehenen Familie auf. Ihr Vater, Friedrich Auerbach (1870–1925), hatte Chemie studiert, auch promoviert und war zuletzt als Oberregierungsrat im Reichsgesundheitsamt in Berlin tätig. Ihre Mutter Selma, geb. Sachs (?–1955), widmete sich mit Liebe ihrem Kind.

In den 20er Jahren geringe Chancen für Wissenschaftlerinnen

Die Familie lebte seit 1904 in Berlin. Charlotte besuchte die Auguste-Viktoria- Schule in Charlottenburg und studierte nach dem Abitur fünf Jahre Zoologie, Botanik, Chemie und Physik an den Universitäten in Berlin und Würzburg, hier bei dem berühmten Hans Spemann (1869–1941). Im November 1924 bestand Charlotte Auerbach das Staatsexamen in Biologie, Chemie und Physik an der Berliner Universität und hatte damit die Möglichkeit, als Lehrerin zu arbeiten. Ihre Chancen als Wissenschaftlerin waren gering, denn Frauen wurden seit Beginn der 20er Jahre wieder aus den Instituten der Universität verdrängt. Sie mußten den aus

Lazaretten oder Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden Männern die Plätze räumen.
     Charlotte Auerbach arbeitete von 1924 bis 1925 als Studienrätin an einer Privatschule in Heidelberg, von 1925 bis 1928 als Lehrerin an verschiedenen Gymnasien in Berlin. Ihr Wechsel nach Berlin hing mit dem Tod ihres Vaters zusammen, und sie lebte nun wieder mit ihrer Mutter zusammen. Die Familie hatte den Großteil des Vermögens durch Kriegsanleihen und Inflation verloren, so daß Charlotte Auerbach gezwungen war, als Lehrerin zu arbeiten und eventuell einiges zu sparen, um damit spätere Forschungen für die Dissertation finanzieren zu können. Bereits in diesen Jahren wurde sie mit dem wachsenden Antisemitismus ihrer Umgebung konfrontiert.7)
     Sie betrachtete den Lehrerberuf nicht als Erfüllung und versuchte, zurück in die wissenschaftliche Arbeit zu kommen. Vermutlich durch Vermittlung von Spemann kam sie zu Mangold an das KWI für Biologie. Aber das ersparte Geld reichte offenbar nur für ein Jahr, denn von 1929 bis 1931 arbeitete sie wieder als Lehrerin an verschiedenen Berliner Schulen, ehe sie 1931 wieder in die Abteilung Otto Mangolds kam. In dieser Zeit lernte sie einige Kollegen näher kennen, darunter die Genetiker Elena (1898–1973) und Nikolaj Timoféeff- Ressovsky vom KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch.8)
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Nach der Machtübernahme der Nazis verschlechterten sich auch die Bedingungen am KWI für Biologie drastisch. Durch das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 verlor Charlotte Auerbach ihre finanzielle und berufliche Absicherung, denn sie wurde sofort aus dem Schuldienst entlassen.
     Mit diesem Gesetz wurden politische Gegner(innen), vermeintliche Gegner-(innen) und alle, die nach NS-Definition »nicht arisch« waren, nicht nur aus den Beamtenstellen, sondern aus allen Einrichtungen des öffentlichen Dienstes entlassen. Das traf für alle Schulen, Fach- und Hochschulen zu, an den Universitäten waren nicht nur die – nichtbeamteten – Professoren und Privatdozenten, sondern auch alle Assistenten und Laboranten von diesem Gesetz betroffen. Auch die Institute der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft mußten dieses »Gesetz« umsetzen. Nur in ganz wenigen Fällen fanden die so Vertriebenen und ihrer Existenz Beraubten Hilfe oder Unterstützung.

Der bittere Weg in die Emigration

Charlotte Auerbach wurde von ihrer Mutter dringend gemahnt, Deutschland sofort zu verlassen.9) Der mit dem Vater befreundet gewesene, berühmte Physiko-Chemiker Herbert Freundlich (1880–1941), der bis 1933

Abteilungsleiter am KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie war und ebenfalls von dem Nazi-Gesetz betroffen wurde, riet Charlotte Auerbach zu einer Emigration nach Großbritannien. Noch 1933 verließ sie Deutschland.
     Charlotte Auerbach war nun Emigrantin und trat den zunächst bitteren Weg in eine ungewisse Zukunft an. Aber sie hatte auch Glück. Sie war an einem KWI gewesen, dessen international geschätzter Ruf auch in Großbritannien galt und ihr half. Sie wurde von einem Freund ihres Vaters an die Universität in Edinburgh vermittelt, an der vergleichsweise wenig Emigranten Zuflucht gesucht hatten.
     Sie war 34 Jahre alt und in der Wissenschaft eine Anfängerin, was es der Emigranten- Hilfsorganisation, der Academic Assistance Council bzw. ab 1937 die SPSL, erleichterte, Stipendien für sie zu besorgen. Ihr geringer Status als künftige Wissenschaftlerin erleichterte es sowohl ihr als auch ihren Betreuern, ein produktives Verhältnis aufzubauen. Erst hier in Edinburgh konnte sich ihr Wunsch, Wissenschaftlerin zu werden, erfüllen. Bereits vor 1933 hatte sie in Berlin das Empfinden, daß der wachsende Antisemitismus ihr keine Chance im Wissenschaftsbetrieb in Deutschland lassen würde. Scherzhaft und mit Bitterkeit bemerkte sie später Kollegen gegenüber: »thanks Hitler I became a scientist« (Dank Hitler konnte ich Wissenschaftlerin werden).10)
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Der Academic Assistance Council publizierte 1936 die »List of Displaced German Scholars«.11) Hier waren insgesamt 1 624 Wissenschaftler namentlich genannt, darunter 78 Wissenschaftlerinnen. 28 der 78 Frauen kamen aus Berlin, 13 waren von der Berliner Universität vertrieben worden. Charlotte Auerbach war nicht unter den in der »List« genannten Wissenschaftlerinnen, da sie in Deutschland noch keine akademische Position hatte. An ihrem Beispiel wird deutlich, daß die Zahl der aus Deutschland vertriebenen Wissenschaftler um ein vielfaches höher war als die seither in der Literatur angegebene, denn »Anfänger« oder »unbezahlt Tätige«, die es in vielen Institutionen gab, wurden nicht erfaßt.

Heimisch geworden in einer fremden Wissenschaftskultur

Dennoch gehörte Charlotte Auerbach dank ihrer Jugend, den Gutachten ihrer Berliner Kollegen und natürlich ihrer Begabung zu den glücklichen Emigrantinnen, denen es gelang, in einem fremden Land, in einer fremden Wissenschaftskultur nicht nur heimisch und akzeptiert zu werden, sondern auch bleibende Anerkennung zu finden. Sie hatte das seltene Glück, ihr ganzes weiteres Leben, sie starb im März 1994, in Großbritannien verbringen und an derselben Universität lehren und arbeiten zu können. An der Universität in Edinburgh beendete sie

1935 ihre Dissertation (den Ph.D.) und konnte ab 1938 zusammen mit dem späteren Nobelpreisträger Hermann Joseph Muller (1890–1967) ihre Forschungen zur Genetik beginnen.
     Muller war Auswärtiges Wissenschaftliches Mitglied am Berliner KWI für Hirnforschung gewesen, mit den Timoféeff- Ressovskys gut bekannt und hatte bis 1937 in der Sowjetunion mit den damals führenden Genetikern zusammengearbeitet. Er war wesentlich an der Organisation des Internationalen Genetiker-Kongresses 1939 in Edinburgh beteiligt gewesen, der eigentlich in der Sowjetunion hatte stattfinden sollen, aber wegen der Stalinschen Repressionspolitik nach Edinburgh verlegt worden war. Mit Muller begann eine jahrelange fruchtbare Zusammenarbeit. Muller erhielt 1946 den Nobelpreis für Medizin für seine Entdeckung von 1926, daß Mutationen mit Hilfe von Röntgenstrahlen hervorgerufen werden können.
     Charlotte Auerbach blieb am Institute of Animal Genetics an der Universität von Edinburgh auch nach Mullers Weggang in die USA. Sie wurde 1947 Lecturer (Dozentin), 1957 Reader und 1959 schließlich Professor(in). Von 1959 bis 1969 leitete sie die Abteilung für Mutationsforschung des Medizinischen Forschungsrates. Im Jahr 1957 erfolgte die Wahl zum Mitglied der berühmten Akademie – Fellow of the Royal Society in London.12)
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Anläßlich ihrer Emeritierung widmete ihr 1969 die internationale Zeitschrift »Mutation Research« eine Festschrift. Ihre vielen Arbeiten, Zeitschriften-Artikel und Bücher wurden im Nachruf der Royal Society als Bibliographie veröffentlicht.
     Seit wenigen Jahren ist sie immerhin in ihrem Geburtsland auch in einem Lexikon und in einem Grundlagenwerk zur Geschichte der Biologie mit einer Kurzbiographie vertreten.13)

Quellen:
1     Vgl. Werner Hartkopf, Die Berliner Akademie der Wissenschaften. Ihre Mitglieder und Preisträger. 1700–1990, Berlin, Akademie-Verlag, 1992
2     Vgl. Index Biographique de L'Académie des Sciences, 1666–1978, Paris 1979
3     Vgl. Lina S. Stern (Selbstdarstellung), in: Elga Kern, (Hrsg.), Führende Frauen Europas, München 1930, Bd. 2, S. 137 ff., vgl. außerdem Gerda Hoffer, Zeit der Heldinnen. Lebensbilder außergewöhnlicher jüdischer Frauen, München, dtv, 1999, S. 159 ff.
4     Vgl. Joan Mason, The Women Fellows' Jubilee, in: Notes and Records Royal Soc. London, 49 (1), 1995, p. 125 ff. einschließlich Tabelle aller 52 fellows von 1947 bis 1994
5     Daniil Granin, Der Genetiker. Das Leben des Nikolai Timofejew- Ressowski, genannt Ur, Köln, Pahl-Rugenstein Verlag, 1988, S. 6 f.
6     Vgl. zu den weiblichen Fellow of the Royal Society Joan Mason, a. a. O.
7     Vgl. G. H. Beale, Charlotte Auerbach, in:

Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society. London 1995, Vol.41, p. 24, (im folgenden Beale (1995))
8     Zum Forscher-Ehepaar Timoféeff- Ressovsky vgl. Helga Satzinger und Annette Vogt, MPI für Wissenschaftsgeschichte, Preprint Nr. 112, Berlin 1999, sowie Annette Vogt, Ein russisches Forscher-Ehepaar in Berlin-Buch, in: Berlinische Monatsschrift, Heft 8/1998, S. 17 ff.
9     Vgl. Beale (1995), p. 25
10     Prof. Raphael Falk im Gespräch mit Annette Vogt im Dezember 1996. Die Autorin bedankt sich nochmals für die Gespräche 1996 und Frühjahr 1999
11     List of Displaced German Scholars, London 1936. Wieder publiziert 1987: Emigration. Deutsche Wissenschaftler nach 1933. Entlassung und Vertreibung. List of Displaced German Scholars 1936. Supplementary List of Displaced German Scholars 1937. Hrsg. Herbert A. Strauss, Berlin 1987
12     Vgl. Joan Mason, a. a. O.
13     Vgl. Ute Deichmann, in: Jutta Dick/ Marina Sassenberg (Hrsg.), Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, Lexikon, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1993, S. 32 f., Ilse Jahn (Hrsg.), Geschichte der Biologie. Jena 1998, S. 768
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