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Joachim Bennewitz
Lediglich eine Änderung des Namens?

Aus der Geschichte der Stephanus-Stiftung Weißensee

Mit Datum vom 20. Oktober 1941 erhielten die Partner der in Berlin-Weißensee ansässigen Bethabara- Beth-Elim- Stiftung der Inneren Mission einfache Postkarten mit folgendem Text: »Wir teilen Ihnen mit, daß sich das Kuratorium der Stiftung veranlaßt gesehen hat, den Namen der Bethabara-Stiftung umzubenennen. Unsere Stiftung heißt nunmehr Adolf-Stöcker- Stiftung.
     Die Geschäftsführung bleibt dieselbe. Es handelt sich lediglich um eine Änderung des Namens. Wir bitten Sie, alle Zuschriften unter dem neuen Namen an uns gelangen zu lassen. Heil Hitler! gez. Dr. Hansgeorg Schroth«

     Keine erläuternde Begründung war beigefügt, offenbar ging man davon aus, daß die Adressaten sich die Gründe für die »ledigliche« Namensänderung denken konnten. Hatte doch mit der ab 1. September verfügten Einführung des Judensterns und der wenige Tage später wirksam gewordenen

Nutzungsbeschränkung öffentlicher Verkehrsmittel für Juden eine weitere Etappe in der »Lösung der Judenfrage« begonnen. Am 18. Oktober 1941 wurde der erste Massentransport vom Berliner Bahnhof Grunewald aus in das Ghetto Lodz (Litzmannstadt) auf den Weg gebracht. Es war also keineswegs erstaunlich, daß nach jahrelangen ideologischen Vorbereitungen alttestamentarische Namen kirchlicher Einrichtungen aufgehört hatten, einen für »gute Volksgenossen« guten Klang zu haben. Wie in Berlin, fand das auch an anderen Orten seinen Niederschlag, und so wurden die durch Namen dokumentierten christlichen Zielsetzungen, in Weißensee in bis dahin 60jähriger Geschichte der Stiftung mit Leben erfüllt, in Frage gestellt.
     Der junge Pfarrer Ernst Berendt (1842–1919) kam 1877 aus Pommern nach Berlin, hier an das Frauengefängnis der Königlichen Stadtvogtei berufen. Er lernte die Situation der aufstrebenden Reichshauptstadt von ihrer dunkelsten Seite kennen, die sich so ganz von dem unterschied, was er zuvor in Naugard erlebt hatte. Besonders die Lage der Frauen und Mädchen war es, die ihn nach Wegen der Verbesserung der Lebensbedingungen des »untersten Standes« suchen ließ. Und sein christliches Selbstverständnis von der Aufgabe des Menschen, wohltätig und hilfsbereit zu sein, aber auch an das Wort Gottes heranzuführen, war es, das ihn schon ein Jahr später zur Gründung einer Stiftung für strafentlassene Frauen
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und Mädchen veranlaßte. Er hatte sehen müssen, daß vom Staat und den bestimmenden kirchlichen Kreisen keine Hilfe kam, um die Resozialisierung und eine Verhinderung künftiger Straffälligkeit zu ermöglichen. Zuerst bildete er christliche Familien- Wohnstätten und beschaffte Arbeitsplätze, dann gründete er ein Zufluchtheim. Am 8. Mai 1879 wurde im nahe gelegenen Weißensee die erste Einrichtung dieser Art in Preußen eröffnet. Berendt gab seiner Stiftung das
Haus Bethabara I um 1883
heute noch geltende Geleitwort aus Psalm 94.3: »Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig; der Herr aber ist noch größer in der Höhe.« Er benannte sie wie das Heim nach dem alttestamentarischen Ort Bethabara, »der Stelle am reißenden Fluß«, durch die eine Furt an das rettende andere Ufer führt. 1889 erfolgte die Erweiterung durch das Haus Beth-Elim, das »Haus, in dem man Station machen kann«. 1900 wurden die ersten weiblichen Fürsorgezöglinge aufgenommen, 1912 erfolgte die Einrichtung der ersten diakonischen Lehrküche Deutschlands. Als Ernst Berendt 1919 starb, konnte die Stiftung in die Hände seines Sohnes Ernst Berendt jun. (1878–1942) gelegt werden. Ihm gelang es, den Wirkungskreis unter den veränderten Bedingungen der Nachkriegsjahre zu erweitern. Er gründete mit der Parkklinik das erste homöopathische Krankenhaus Deutschlands. 1931 verlagerte sich der Schwerpunkt der Arbeit auf Entbindungen und Säuglingspflege.
     Nach dem Ende der Weimarer Republik dauerte es nicht lange, bis sich der NS-Staat auch offen in die Belange der Stiftung einmischte. 1936 mußten drei Häuser der NS-Studentenschaft zur Verfügung gestellt werden, »was Aufgaben und christliche Grundsätze der Stiftungsarbeit erheblich
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   36   Probleme/Projekte/Prozesse Aus der Geschichte der Stephanus-Stiftung  Vorige SeiteNächste Seite
beeinträchtigte«.1) Pfarrer Berendt als Mitglied der Bekennenden Kirche geriet in dieser Zeit in das Visier der Gestapo, nachdem er wiederholt in seinen Kanzelpredigten gegen den von ihm vorhergesagten Krieg gesprochen und sich in Fürbittegottesdiensten für verfolgte und inhaftierte Christen, darunter Pastor Niemöller (1892–1984, im KZ als »persönlicher Gefangener des Führers« 1938–1945), eingesetzt hatte.
     Achtmal kam es zu Festnahmen. Berendt beschloß daher 1938, die Einrichtung der Inneren Mission zu übertragen, um die Eigenständigkeit der Stiftung erhalten zu können. Sie sollte nicht unter den staatlichen Repressionen gegen seine Person leiden. Er legte auch die Funktion des Direktors nieder, verblieb aber im Kuratorium. Doch schon am 26. Juni 1939 gab er seinen Sitz auf und verließ schließlich 1940 Berlin und übernahm eine Pfarrstelle in Baden-Baden. Mit einem sehr persönlich gehaltenen handschriftlichen Brief verabschiedete sich Berendt am 3. Juni vom Präsidenten der Inneren Mission, Pfarrer Constantin Frick: »Indem ich aus meinem hiesigen Amt scheide, drängt es mich, Ihnen einen ergebenen Abschiedsgruß zu sagen – verbunden mit einem Dank für alle erfahrene Hilfe und Förderung, Ihr dankbar ergebener Berendt.«2) Auch an seinem neuen Wirkungsort setzte er sich für Verfolgte, insbesondere für jüdische Bürger, ein. Er wurde erneut, diesmal am 4. Advent 1940, inhaftiert, verurteilt
und in das KZ Dachau eingeliefert. Dort starb er, bevor er »auf Transport« geschickt werden konnte, am 4. August 1942.3)
     Die Stiftung in Weißensee wurde ab 1938 durch das von der Inneren Mission bestellte Kuratorium unter Leitung von Kirchenrat D. Dr. Theodor Wenzel weitergeführt. In dessen Amtszeit fiel nun die bisher durch keine schriftliche Weisung belegte Aktion zur Tilgung der alttestamentarischen Namen. In Hamburg wurden zum 1. Januar 1941 die ersten Umbenennungen vorgenommen. Dort waren die Häuser Bethanien, Bethesda, Bethlehem, Siloah, Tabea und andere betroffen. Ab 1. März folgte in Berlin-Steglitz das Diakonissen- und Krankenhaus Ebenezer, nunmehr Sophien- Krankenhaus.4) Aufschlußreich sind Notizen aus den Protokollbüchern des Vorstandes des evangelischen Diakonissenhauses ELIM. Sie belegen die These, daß es letztlich nur »dringlicher Wünsche« der Staatsorgane bedurfte, um die Namensänderungen in Gang zu setzen. Am 25. Oktober 1940 wurde der Vorstand davon informiert, daß »Herr H. zu Obersenatsrat Heine der Hamb. Staatsverwaltung gerufen sei, der ihm mitgeteilt habe, der Staat wünsche eine Änderung. Nach eingehender Beratung sind alle Mitglieder des Vorstandes damit einverstanden, dem Wunsch des Staates nachzukommen, obgleich unsere Namen uns Programm bedeuten.«5) Es gab also keine Anordnung, die staatlichen Stellen konnten sich mit Appellen begnügen,
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und diese fanden offene Ohren.
     Pastor Frick bemühte sich während dieser Zeit, so kann vermutet werden, die Folgen auf ein Mindestmaß zu beschränken. So wandte er sich im Mai 1941 an den ihm als Sachverständigen des deutschen Sprachvereins benannten Studienrat Hans Müller in Brake mit der Frage, für welche der in einer beigefügten Liste aufgeführten 57 alt- und neutestamentarischen Namen, die in insgesamt 330 Fällen für christliche Einrichtungen Verwendung gefunden hatten, eine Eindeutschung anzunehmen sei. Die Antwort verdeutlicht die Widersinnigkeit des Versuchs, die Sprache, ein Ergebnis jahrhundertelanger Einflüsse aus mehreren Kulturen, zu einem »rassereinen« Objekt zu machen.6)
     Anders verhielt sich der Sohn des Gründers der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, Pastor Friedrich von Bodelschwingh (1877–1946), der am 9. Juli 1941 Präsident Frick antwortete, daß man an dem bekannten Namen Bethel auch weiterhin festhalten will, desgleichen an den Namen der Häuser Sarepta und Nazareth. Er sei auch mit dem Regierungspräsidenten in Minden übereingekommen, die Frage einschließlich der Straßennamen »aus technischen Gründen bis nach dem Krieg« zurückzustellen.7)
     Für Berlin-Weißensee haben sich keine Unterlagen finden lassen, wann, wie und durch wen die Namensänderung an das Kuratorium herangetragen wurde.

Pfarrer Ernst Berendt jun.

 
Bekannt ist nur die eingangs zitierte Postkarte, deren Schreibweise des Namens Stoecker die Vermutung zuläßt, daß das Problem in sehr kurzer Frist und aus stiftungsfernen Kreisen vorgetragen worden ist. Man dürfte doch unterstellen, daß die Mitglieder des Kuratoriums den Gründer der Berliner Stadtmission

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kannten und bemerkt haben müßten, daß hier eine falsche Schreibweise vorlag. Andererseits fand sich auch ein Brief vom März 1943, der noch immer das ö anstelle oe trug. Bis heute hält die Vermutung, daß ursprünglich der Name Berendt vorgeschlagen worden sei, Ernst Berendt das jedoch abgelehnt habe. Nach Kenntnis der Akten, die sich mit gänzlich anderen Aspekten der Arbeit des Stiftersohnes beschäftigen, muß eindeutig verneint werden, daß aus dem Kuratorium heraus eine solche Anregung möglich gewesen wäre. Daß nun dagegen der als Antisemit bekannte Stoecker (BM 3/99) zum Namensgeber gemacht wurde, kann als Indiz dafür gelten, daß der gegen staatliche Willkür renitenten Haltung Berendts in den zurückliegenden Jahren damit begegnet werden sollte. Andererseits mußte das Berendt, der davon in seinem Baden-Badener Exil erfuhr, um so mehr bedrücken, als er wußte, daß seine Vorfahren – mindestens bis zum Urgroßvater – jüdisch gewesen sind und ein ostpreußischer Zweig mosaisch geblieben war.8)
     Obgleich nun innerhalb kurzer Zeit die Kirchenorgane sich dem staatlichen Ansinnen gebeugt und die Bibel zumindest partiell als nicht mehr dem Zeitgeist entsprechend anerkannt hatten, führte das keineswegs zu einem allseitigen Lob durch das NS-Regime. Im Gegenteil, »Das Schwarze Korps«, die Zeitung für die SS, brachte am 6. Februar 1941 bereits einen Artikel, der
offenen Hohn enthielt und in dem es u.a. hieß: » Die Liste der alten Namen liest sich wie ein zionistisches Vereinsregister. Die Namen waren also für deutsche Krankenhäuser in einer deutschen Stadt (gemeint ist Hamburg, J. B.) nicht sehr sinnvoll, und acht Jahre nach der Machtergreifung ließ sich auch über den guten Geschmack nicht mehr streiten. Dennoch geschah die Umbenennung einer staatlichen Anordnung gehorchend und nicht aus eigenem Triebe. Die kirchliche Verwaltung hat sich nur der >Gewalt< gebeugt.« Danach folgen in Entgegnung zu der Versicherung, die Häuser auch weiterhin in christlichem Sinne zu führen, ironische Ausführungen übelster Art.
     Die Stoecker-Stiftung behielt ihren Namen auch nach 1945 weiter. Es wurde offenbar kein Anlaß gesehen, so, wie dies in Hamburg geschehen war, auch hier wieder die Rückbenennung vorzunehmen. 1950, als die Innere Mission ihre Verwaltungstätigkeit beendete und die Stiftung wieder selbständig wurde, trug sie noch immer diesen Namen. Der neue Direktor, Pastor Willi Federlein, schließlich war es, der in seiner langen Amtszeit (1950 bis 1979) 1962 die Namensfrage aufgriff. Nicht selbständig wohl, wie aus einem Schriftwechsel hervorgeht, den er in dieser Zeit mit einem befreundeten und zum Kuratorium gehörenden Rechtsanwalt führte. Aus dem Inhalt wird erkennbar, daß bei der Beschlußfassung des Kuratoriums zur Annahme eines
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neuen Namens auch die von jüdischer Seite in Berlin gestellte Frage nach dem Antisemitismus Stoeckers eine Rolle gespielt haben muß. Man darf annehmen, daß es der damalige (Ost-)Berliner Rabbiner Martin Riesenburger war, der den Anstoß gegeben hatte. Jedoch erst am 21. Mai 1963 entschloß sich das Kuratorium in diesem Sinne. Hier nun darf gemutmaßt werden, daß der Gedanke, den Namen des Gründers, auch im Gedenken an seinen ermordeten Sohn, zu verwenden, erwogen wurde. Doch die Benennung ging schließlich andere Wege. Der neue Name Stephanus-Stiftung wurde zum 9. November 1963, also dem 25. Jahrestag der Novemberpogrome, bekanntgegeben. Der damalige Verwalter des Bischofsamtes im DDR-Teil des Bistums Berlin- Brandenburg, D. Günther Jacob, benutzte die aus diesem Anlaß durchgeführte Veranstaltung in der Pfingstkirche zur Bekanntgabe des Kuratoriumsbeschlusses. Zuvor hatte er den Hauptvortrag unter dem Titel »Die Kirche und die Juden im Hitlerreich« gehalten.
Der von Achim Kühn geschaffene Glockenstuhl wurde 1975 eingeweiht
     Stephanus war nach der Apostelgeschichte Kap. 6 und 7 einer der ersten Diakone der Urgemeinde und stand auch im Dienst der Verkündigung. Er starb als Märtyrer durch Steinigung. Mit der Namensgebung sollte die neue, gegenüber der Gründungszeit veränderte
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Aufgabe verdeutlicht werden: der diakonisch-missionarische Charakter der Stiftung, wie er sich nach der veränderten politischen Situation in Berlin ergeben hatte. Heute, nach 120 Jahren, widmet sich die Stephanus-Stiftung mit einer größeren Anzahl von Einrichtungen inner- und außerhalb Berlins insbesondere der Altenpflege, der Betreuung körperlich und geistig Behinderter und der Gestaltung des Lebensabends von Senioren. Name und Aufgabe haben in diesen Jahrzehnten mehrfache Wandlungen erfahren, nicht jedoch der Grundgedanke, der Anlaß zur Gründung der Einrichtung war.

Quellen und Anmerkungen:
1     Siehe auch Stephanus-Stiftung, Aus der Geschichte 1878–1998, Berlin 1998, S. 5
2     Archiv des Diakonischen Werkes Berlin, CA 1194/2
3     Antifaschistischer Widerstand in Berlin-Weißensee 1933 bis 1945, Gedenkstätte deutscher Widerstand, Berlin 1988, S. 128 ff.
4     Die Hamburger Einrichtungen wurden sämtlich 1945/46 wieder mit den ursprünglichen Namen versehen. Nach schriftlicher Auskunft des Diakoniewerks ELIM vom Mai 1998 sind jedoch Dokumente darüber nicht vorhanden, nur Protokollnotizen, die diese Namen wieder verwenden. Im Gegensatz dazu erfolgte in Berlin keine Rückbenennung. Die Gründe dafür konnten nicht festgestellt werden, die 1983 herausgegebene Festschrift »100 Jahre Diakonissendienst

in Berlin« vermeidet eine Erklärung dazu, und eine im Januar 1999 dorthin gerichtete Anfrage blieb ohne Antwort.
5     Zitiert nach dem Schreiben des Diakoniewerks ELIM Hamburg vom 11. Mai 1998
6     So wurden u. a. Michael und Petrus als biblischen Ursprungs, aber durch die Formen Michel und Peter als eingedeutscht bezeichnet. Der Adressat räumt ein, »wüßte ich nicht, wie ich die Sache anders auffassen und entscheiden sollte« (Brief vom 30. Mai 1941 von Hans Müller an Pastor Frick). Nicht viel anders lautet auch die Antwort des Direktors des Archivs der freien Hansestadt Bremen, Dr. Friedrich Prüser, vom 12. 6. 1941 – beide ADW, CA 2533
7     Zitiert nach Archiv des Diakonischen Werkes Berlin, CA 2533
8     Joachim Ernst Berendt, Das Leben ein Klang, München 1996, S. 166 ff.

Bildquelle: Archiv Eva Luchmann

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