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Hans-Peter Doege
Ein Erbspicknick »In den Zelten«

Noch vor einiger Zeit konnte man beim Überqueren des großen Platzes vor dem Reichstag in Richtung Kongreßhalle (Haus der Kulturen der Welt) Straßenschilder entdecken, die ins Nichts führten. Die dazugehörigen Straßen – die Herwarthstraße, die Große Querallee und die Straße In den Zelten – existieren nicht mehr. Sie durchzogen einst ein verhältnismäßig vornehmes Stadtviertel mit Nobelhäusern und schönen Grünanlagen, in denen angesehene Bürger wohnten.
     Hier entstanden vor 250 Jahren die Zelten, die nach und nach in Gasthäuser umgewandelt wurden. Diese Gartenlokale waren einmal fester Bestandteil des Amüsements bei Arm und Reich, und sie behaupteten ihren Platz im Leben der Berliner bis zu ihrer Zerstörung im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges.
     Der Soldatenkönig (1688–1740; König ab 1713) hatte für den Tiergarten nicht viel übrig. Erst unter Friedrich II. (1712–1786; König ab 1740) wurde die Arbeit Friedrichs I. (1657–1713; Kurfürst ab 1688, König ab 1701) fortgesetzt, indem er durch Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699–1753) aus dem

kurfürstlichen Jagdrevier einen Lustgarten gestalten ließ. In diesen Park zog nun die Berliner Bevölkerung und machte ihn zu einem Mittelpunkt ihres sonntäglichen Vergnügens. Besonders beliebt bei den Sonnenhungrigen war eine Lichtung an der Spree. Diese Lichtung, Kurfürstenplatz oder auch einfach die Sieben Kurfürsten (später der Zirkel) genannt, lag weit vor der Stadt. Es lag nahe, den Erholungsuchenden nach ihrem langen Anmarschweg Erfrischungen anzubieten.
     Da der Tiergarten aber seinerzeit unter einer Art Landschaftsschutz stand, war es verboten, dort Gastwirtschaften zu errichten. Und sicher hätte sich Knobelsdorff vehement gewehrt, wäre seine Schöpfung mit Bretterbuden verschandelt worden.
     Zwei Hugenotten, die Traiteure (Speisenwirte) Esaias Dortu und Thomassin, wagten es dennoch, eine solche Erlaubnis zu beantragen. Wider Erwarten erhielt jeder von ihnen die Genehmigung, auf der der Spree zugewandten Seite des Zirkels eine Sommerwirtschaft zu betreiben. Vermutlich wurde die Zustimmung durch den frühen Tod Knobelsdorffs erleichtert oder aber auch durch die Abwesenheit des Königs – er befand sich im Siebenjährigen Krieg – begünstigt. Allerdings waren mit der Genehmigung Auflagen verbunden: Die Lokale durften nur aus Leinwandzelten bestehen und mußten im Winter abgebrochen und in die Stadt gebracht werden. Später kam noch
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ein dritter Hugenotte hinzu. Es war der ehemalige Seidenhändler Mourier. Nun waren es schon drei Zeltenwirte, und ihre Leinwandzelte waren durch Laubengänge miteinander verbunden.
     Mourier erhielt auch 1767 als erster die Erlaubnis, an sein Zelt eine feste Hütte anzubauen, in der er während des Sommers wohnen durfte. An dieser Hütte hatte er ein Schild mit einer goldenen Gans aufgehängt, auf dem stand: »Mon oie fait tout«.1) Er benutzte die bei den Berlinern so beliebten Sprachverdrehungen, denn nur die Naiven dachten, es hieße: meine Gans macht alles, in Wirklichkeit hieß es: Geld macht alles (monnoie=monnaie Geld), denn früher schrieb man Geld auf französisch mit o oder auch mit a. Nach ihm begannen nun auch die anderen hinzugekommenen Zeltenwirte, feste Hütten zu errichten. Aber erst 1786 wurde ihnen gestattet, darin zu wohnen und ihre Wirtschaften auch im Winter zu betreiben. So entstanden ab 1810 nach und nach wetterfeste Unterkünfte, aus denen, wiederholt erweitert und umgestaltet, zu Anfang des 19. Jahrhunderts die stadtbekannten Zelten-Lokale wurden. Zu den Wintervergnügungen zählte das Eislaufen auf der Spree hinter den Zelten. Den Eisläufern konnte von der offenen Galerie hinter dem Zelt 2 zugesehen werden. Die Zelten wurden im Laufe ihrer Geschichte recht unterschiedlich dargestellt: So beurteilt ein Professor Ullrich in seinen
»Bemerkungen eines Reisenden durch die königlich preußischen Staaten in Briefen«, 1779, dieselben als sehr schön wegen ihrer guten Aussicht auf die Spree und das bunte Treiben auf dem gegenüberliegenden Ufer sowie auf das Schloß Bellevue. Lediglich eines der Zelte kam bei ihm nicht so gut weg: Hier spricht er von Krethi und Plethi, wahrscheinlich meinte er die Grünebergschen Sommerhütten, in denen nur die untersten Schichten der Bevölkerung verkehrten.2)
     Ein anderer Bericht beschrieb sie als elende Hütten mit stilloser, scheußlicher Ausstattung, die außen mit Austernschalen benagelt seien. Den Gipfel der Geschmacklosigkeit böte das größte Lokal von allen, das in einem fürchterlichen Rot bemalt und mit den überlebensgroßen Gottheiten an Unverschämtheit nicht mehr zu überbieten sei.
     Um 1806 wurden die Zelten noch einmal lobend erwähnt und auf die schönen Fuß- und Fahrwege hingewiesen, über die man zu ihnen gelangen konnte. Zur Zeit Friedrich Wilhelms III. (1770–1840; König ab 1797) waren die ansehnlichsten Zelte die »Puderdose« und der »Schafstall«, deren Namen sicher auf die Bauform schließen lassen.
     Nach den Akten der überaus peniblen Baudeputation zu urteilen, muß bei all diesen Baulichkeiten vieles im argen gelegen haben. Es hagelte Mahnbescheide mit Bauauflagen, mit Geldstrafen und mit Abriß wurde gedroht.
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Die Zelten im Berliner Tiergarten, Gemälde von Jacob Philipp Hackert, 1760

Aber letztlich müssen es die Zeltenwirte immer wieder verstanden haben, mit Eingaben die Anordnungen zu unterlaufen, denn irgendwann verschwand der Vorgang ohne Erledigungsvermerk aus den Akten.
     Im Zuge der ab 1870 einsetzenden Umbauten aller Zelten erhielten diese nach und nach den Charakter anspruchsvoller Großgaststätten.
So wurde 1887/88 das erste völlig neu erbaute Zelt 1 durch Hans Grisebach errichtet. Der Backsteinbau mit Sandsteingliederungen wies Stilelemente der Spätrenaissance und des ausklingenden Barocks auf. Er hatte zwei übereinanderliegende Säle, eine Terrasse und eine große Glasveranda.
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Promenade bei den Zelten, Bild von Peter Ludwig Lütke

In den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts übernahmen so bekannte Brauereien wie Adler-, Bötzow-, Löwen- und die Oranienburger Schloßbrauerei die Lokale. Sie begannen sofort mit baulichen Veränderungen und gaben den Zelten klangvolle Namen. Das Zelt 1 hieß »Kronprinzenzelt« und das Zelt 2, das feinste unter ihnen, wurde in »Kaiser-Wilhelm- Zelt« umbenannt. Um 1903 kam ein weiteres Lokal, nämlich das Zelt 5 hinzu. Es existierte zwar schon früher, verschwand aber im Zuge der Bebauung
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der Straße und wurde erst später wieder eingerichtet. Dieses Lokal lag in den Erdgeschossen zweier nebeneinanderstehender Häuser und gehörte dem Konditor Aweyde. Ob ihm die Räume auch nach dem Verkauf der Häuser an den Zentralverband der Bäckerei- Innungen zur Verfügung standen, konnte nicht festgestellt werden.
     Sicher ist aber, daß es dieses Lokal auch weiterhin gab, wie folgende, typisch deutsche Begebenheit belegt: Noch während des Zweiten Weltkrieges stellte der Gastwirt Gottfried Illig einen Antrag auf Ausschank in seinem Vorgarten, zu einer Zeit also, als hier schon alles in Schutt und Asche lag. Er bekam die Genehmigung, allerdings befristet bis zum 31. Oktober 1944 und mit der Auflage, den Charakter des Vorgartens nicht zu verändern und denselben vor Blicken von der Straße durch Blatt- oder Rankengewächse abzuschirmen. Nach Ende des Krieges ging ein Beamter dorthin, um zu kontrollieren, ob denn noch ausgeschenkt werde. Mit vier Gegenzeichnungen und seiner Unterschrift stellte der Beamte fest, daß der Ausschank eingestellt und das Gebäude zerstört war.
     Hinter den Zelten, dicht an der Spree, befand sich das Kistenmachersche Etablissement, auch Spreezelt genannt. Neben den historischen Zelten galt es als das feinste Lokal. Dieses Haus gehörte dem Hofschneider Johann Simon Freytag, der das
nach dem früheren Pächter benannte Haus für sich als Altersruhesitz umbauen ließ. Sein Reichtum reizte den Spott der Berliner, die das Haus als Stichlers oder auch Nähnadels Ruh bezeichneten. Dieser Hofschneider war es auch, der dem jungen August Borsig mit 40 000 Talern die entscheidende Starthilfe für seine Unternehmen gewährte, die er später noch einmal um 20 000 Taler erhöhte.
     In der Nähe gab es einen Gondelanlegeplatz. Hier herrschte stets reges Treiben. Adolf Glaßbrenner (1810–1876) berichtete über eine Gondelfahrt : »Alleweil jeht et ab! schreien die Bootsleute und ein Leierkastenmann spielt solange, bis auch der letzte Platz in der Gondel besetzt ist. Die Leute drängen sich auf die Boote und besonders an Sonntagen ist das Gedränge nahezu lebensgefährlich. Viele dieser Gondeln sind mit abenteuerlichen Galionsfigurengeschmückt und eine Gondel faßt etwa 40 Personen und wenn sie voll ist, legt sie ab.«3) Hier legte auch 1817/18 das erste Dampfschiff Preußens, die »Prinzessin Charlotte«, auf seinen Fahrten nach Potsdam an.
     Großer Beliebtheit erfreute sich auch der Konzertgarten. Die erste Inhaberin des Zeltes 5, die Witwe Pauly, soll die Frühkonzerte, wie sie heute noch im Zoologischen Garten abgehalten werden, aus der Taufe gehoben haben. Bereits 1829 schrieb ein Stadtchronist, daß die Besucher in den Zelten nach Tausenden zu zählen waren, wenn der
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Militärgouverneur von Berlin seinen Musikkorps den Befehl zum Aufspielen erteilte, und das soll schon 1770 gewesen sein. Bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts musizierten kleine Gruppen von vier bis sechs Personen. Der Leiter dieser Musikanten ging nach einem bestimmten Stück mit einem Notenblatt in der Hand durch die Reihen und kassierte den obligatorischen Groschen. Die Drückeberger mußten sehr genau auf die Stücke achten, um sich im richtigen Moment dieser Pflicht zu entziehen. Der »Kapellmeister« hatte ein enormes Gedächtnis, nie sprach er einen Gast zweimal an.
     Die Zeltenwirte ließen ihre Gäste bald auch mit Tanzmusik unterhalten, die nur hin und wieder durch einige Potpourris unterbrochen wurde. Wie Alexander Meyer 1873 feststellte, trugen die Zeltenwirte die Musikerhonorare gemeinsam. Nach 1900 gab es fast täglich Konzerte.
     Ein halbes Dutzend Kapellen spielte dann gleichzeitig. Die Berliner standen oder saßen im nahen Tiergarten unter den Bäumen, verzehrten ihre mitgebrachten Brote, lauschten der Musik und sparten sich so das Eintrittsgeld.
     Natürlich wurde auch gespeist in den Zelten. Ob gut oder schlecht, das war eine Frage des Budgets. Die Exzellenzen aßen Ragouts, Frikassees oder Wild und tranken dazu schwere Burgunder oder Rheinweine. Zum Dessert wurden Syrakuser oder Rivesaltes,
Capweine oder die schweren Weine von Peter Simon in kleinen Gläsern gereicht. Der bereits genannte Professor Ulrich schrieb 1779, daß ein Mahl, bestehend aus Huhn, Gurkensalat und einem Quart Pontrack (Pyrenäenwein), 16 Groschen kostete. Das Essen war zwar gut, aber nicht wohlfeil. In Berlin bekam man die ganze Chose billiger.4)
     Ein anderer mokierte sich über das Bier. Er berichtete, daß das Bier dreiachtel Pfennige koste und das Element Wasser sehr vorschmecke – kein Wunder bei der Nähe der Spree, die hier ja auch häufiger über die Ufer träte und in die Keller der Lokale eindränge. Auch die Gläser wären etwas kleiner, damit sie von den zierlichen Damenhändchen besser umspannt werden könnten, und damit sie nicht so schwer in der Hand lägen, würden sie zur Hälfte mit Schaum gefüllt.5) Trotzdem waren die Zelten für ihren Bierausschank berühmt. So lobte Alexander Meyer 1873 besonders das Weißbier. Es soll hier das beste Berlins gewesen sein, und dieses wiederum wurde in Zelt 2 ausgeschenkt, das zu dieser Zeit von Herrn Cornel betrieben wurde.
     Über weitere lukullische Spezialitäten gibt uns Rodenberg 1891 Auskunft. Donnerstags gab es nach Altberliner Brauch Erbspicknick bei Schmidt, ein anderer bot, ebenfalls nach Altberliner Tradition, donnerstags Frikassee vom Huhn und freitags großes Fischessen mit allen heimischen Delikatessen an: Aal grün oder mariniert, Hecht auf
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Schlittschuhbahn hinter den Zelten, Gemälde von Wilhelm Eichler, um 1830

Klößen und Schlei in Dill sowie Zander mit Butter und Quappen in Bier.6)
     Andere Zeitgenossen, die lieber anonym bleiben wollten, wiesen darauf hin, daß für den Großteil der Bevölkerung eine saure Gurke und Brot und vielleicht noch eine Salzbrezel den Höhepunkt aller Vergnügungen darstellten.
     1848 wurde aus den einstigen Vergnügungsstätten eine politische Arena. Ursprünglich wollten die aufbegehrenden
Berliner die Räume von Josef Kroll nutzen, doch dieser stellte sie nicht zur Verfügung, ließ sie sogar von der Polizei abriegeln und schützen. Zudem lagen die Zelten außerhalb Berlins und unterstanden somit der Militärregierung in Potsdam. So konnte man sich hier ungestört versammeln. Das Orchesterpodium wurde zur Politkanzel und Nachrichtenbörse.
     Nach den Märztagen blieben die Zelten für lange Zeit verwaist. Sie wurden gemieden
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und gerieten fast in Vergessenheit. Das Orchesterpodium, auf Veranlassung der Regierung entfernt, wurde nie wieder aufgebaut.
     Erst in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kam wieder Bewegung in die Gegend. Im Zuge der Umgestaltung wurden die auf der entgegengesetzten Seite des Tiergartens gelegenen Etablissements geschlossen, und die Zelten entwickelten sich wieder zu einem gehobenen Ausflugsziel.
     Einen ersten Höhepunkt erlebte die Straße im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Neue Straßen wie die Beethovenstraße, das Schlieffenufer, die Große Querallee und die Straße In den Zelten wurden angelegt.
     Um 1820 begann die Bebauung der Straße In den Zelten, die ihren Namen offiziell zum 1. Dezember 1832 erhielt. Sie bestand im wesentlichen aus drei Teilen: Den Zelten 1–4, dem Schellhornschen und dem Beerschen Grundstück an der Westecke des Königsplatzes. Das Schellhornsche Grundstück wurde in sechs Parzellen aufgeteilt und 1836 ein Antrag auf Bebauung der vierten Parzelle mit Wohnhaus und Nebengebäuden eingereicht. Einer Bestimmung von 1751 zufolge durften auf der dem Tiergarten zugewandten Seite der Straße nur Baulichkeiten ausgeführt werden, die den Blick auf den Tiergarten nicht beeinträchtigten. Hierüber gab es viele Beschwerden, und auch Schellhorn mußte einen Prozeß anstrengen. In seinem Falle erteilte der König als letzte Instanz
die Bauerlaubnis. Schellhorn erhielt sie 1837 durch allerhöchste Kabinettsorder für alle Parzellen. Diese Kabinettsorder ist deshalb so interessant, weil hier erstmals stillschweigend eine geschlossene Bebauung geduldet wurde. Mit der Umgestaltung des Königsplatzes in den 70ern, dem Bau des Palais Raczynski, Krolls nach einem Brand wiederaufgebauten Etablissements und des Lehrter Bahnhofes kam die große Zeit der Zelten.
     Die Bebauung der Grundstücke erfolgte in der Hauptsache durch die Baumeister Robert Lorenz, der einige auch zusammen mit Richard Lucae errichtete (Beethovenstraße 1 und 2), Jonas (In den Zelten 8) und Ernst Müller (In den Zelten 9 und 9 a). Das Haus In den Zelten 11 nahm die gesamte Ostseite der Beethovenstraße ein, die bei Errichtung des Hauses gleich mit angelegt wurde. Sie sollte, dem Wunsch des Polizeipräsidenten entsprechend, ursprünglich Meyerbeerstraße heißen – zu Ehren des Komponisten, der hier einige seiner Werke geschrieben haben soll. Doch die allmächtige Kabinettsorder legte die Benennung nach Beethoven fest. Offenbar erfreute sich Meyerbeer bei Hofe nicht allzu großer Beliebtheit.
     Die Straße In den Zelten hat sich in den wenigen Jahren ihres Bestehens stark verändert. War sie zu Anfang wegen ihrer ruhigen Lage und ihrer Nähe zum Tiergarten von angesehenen Privatpersonen, Beamten, Wissenschaftlern und Künstlern sehr gefragt,
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so verlegten später kapitalkräftige Unternehmen, Gesellschaften und Behörden ihren Sitz hierher. Die neuen Eigentümer waren bestrebt, durch Umbau und Aufstockung den nötigen Raum für ihre Einrichtungen zu schaffen. Darunter litt natürlich das bisher ziemlich geschlossene, einheitliche Straßenbild der im Stil der alten Schinkelschen Bauschule errichteten Wohnhäuser.
     In diesen Häusern lebten viele bekannte Persönlichkeiten. Als erste sei hier Bettina von Arnim (1785–1859) genannt. Sie wohnte von 1847 bis 1859 mit ihren drei Töchtern In den Zelten Nr. 5. und war Mieterin des bereits genannten Baumeisters Schellhorn. Dieses Haus wurde 1877 abgerissen und ein Jahr später sehr pompös wieder aufgebaut.
     An der Nordwestecke des Exerzierplatzes stand die Privatsternwarte des Bankiers und Astronomen Wilhelm Beer (1797–1850, BM 1/97), dessen Vater ein Landhaus mit einem schönen Garten in der Straße In den Zelten hatte. Hier wuchs auch Jakob Liebmann Meyer Beer (1791–1864, BM 2/92)auf, der später als Giacomo Meyerbeer bekannt wurde. In diesem Haus gab es schon ein warmes Brausebad und ein Palmenhaus, und im Musiksaal stand ein Flügel, auf dem bereits Mozart und Beethoven musiziert hatten.
     In den Zelten 11 wohnte Clara Schumann (1819–1896) von 1873 bis 1878. Das Haus Nr. 21 gehörte dem Ehepaar Mathilde (1828–1902) <
und Otto Wesendonk (1815–1896). Es war in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Treffpunkt der Berliner Gesellschaft. Bei ihnen wurde Musik großgeschrieben, die Sammelleidenschaft des Hausherrn und die so entstandene Bildergalerie waren bekannt. Nach dem Tode des Paares erbten Karl von Wesendonk (1857–?) und Friedrich Wilhelm Freiherr von Bissing (1873–?) das Haus und machten 1902 die Bildergalerie öffentlich zugänglich. Bis 1909 blieb das Haus in Familienbesitz, 1911 übernahm der Fiskus den Besitz. Später wohnte in diesem Haus an der Ecke zur Großen Querallee Max Reinhardt (1873–1943), der hier auch seine Schauspielschule unterhielt. Immer mehr Künstler zog es aus der Stadt heraus in diese ruhige, beschauliche Gegend. Um 1920 hatte Max Liebermann (1847–1935, BM 6/99) ein Atelier in der Beethovenstraße gemietet, und die Werkstatt des Bildhauers Ferdinand Lepcke (1866–1909) befand sich etwa an der Stelle der heutigen Kongreßhalle.
     Der Sanitätsrat Magnus Hirschfeld (1868–1935, BM 7/94), dem das Haus In den Zelten 10 gehörte, erwarb 1910 das Haus Nr. 9 a. Dort richtete er einen Vortragssaal für 100 Personen ein. Er war Fachmann auf dem Gebiet der Sexualforschung und trat für die Akzeptanz der Homosexualität ein. Während seine Häuser nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und sein Institut verwüstet
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wurden, befand er sich auf einer Dienstreise in Frankreich; er blieb in Nizza und verstarb 1935 im Exil.
     Der Reichsernährungsminister Magnus von Braun (1878–?) mußte seines Sohnes Wernher (1912–1977) wegen eine polizeiliche Verwarnung hinnehmen. Dieser hatte nämlich gerade sein erstes Raketenauto gestartet und es unter die knöchellangen Röcke einer ehrbaren Dame brausen lassen, was ihm eine saftige Ohrfeige einbrachte.
     Und noch einer soll genannt werden: der französische Botschafter Francois Seydoux (1905–1981). Schon 1959 rief er vor Studenten der Freien Universität aus: Auch ich bin ein Berliner, denn ich bin In den Zelten geboren. Sein Geburtshaus war das Haus Nr. 9 a. Das 1880 erbaute und 1945 zerstörte Haus lag etwa an der Ostecke des Kongreßhallen- Areals.
     Das letzte Jahrzehnt der Straße fällt in unsere Zeit. Zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete man auf dem völlig geräumten Areal, auf 1 000 Betonpfählen ruhend, die Kongreßhalle in Form eines offenen Zeltes. Die alte Zeltenallee wurde zusammen mit dem anschließenden Spreeweg in John-Foster- Dulles- Allee umbenannt. Nur ein kleiner Teil der Straße In den Zelten, hinter der Kongreßhalle kaum wahrnehmbar, trug bis vor ein paar Jahren noch den traditionsreichen Namen. Heute ist sogar das Straßenschild verschwunden.
     Die Berliner blieben ihren Zelten treu,
und die Wohnungen, obwohl inzwischen überaltert, blieben sehr gefragt und wurden gern gemietet. Es war immer noch etwas Besonderes, sagen zu können, man wohne In den Zelten.

Quellen und Anmerkungen:
1     vgl. Bogdan Krieger, Berlin im Wandel der Zeiten, Der Tiergarten, Berlin, o. J.
2     nachzulesen bei Hans-Eugen Pappenheim, In den Zelten – durch die Zeiten, Kulturgeschichte am Tiergartenrand 1740–1960, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte, 14. Bd., Berlin 1963
3     Adolf Glaßbrenner, Moabit, Leipzig 1848, S.11
4     vgl. Haus-Eugen Pappenheim, a. a. O.
5     Ebenda
6     Ebenda

Weiter verwendete Literatur:
–     F. W. Borchardt, In den Zelten – Geschichte einer Berliner Straße, Berlin o. J.
–     Förderkreis Kulturzentrum Berlin e. V., In den Zelten – Vergnügen in Tiergarten, Berlin 1976
–     Waldemar Kuhn, Robert Lorenz und die Straße In den Zelten, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte, 1965, S. 86–96
–     Harald Koenigswald, Das verwandelte Antlitz, Berlin 1938
–     Helge Pitz u. a., Berlin-W.; Geschichten und Schicksal einer Stadt Bd. 2

Bildquellen:
Repro Archiv LBV

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