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Martin Küster
Ein konstitutioneller Fabrikmonarch

Der Berliner Sozialreformer Heinrich Freese

Er sei ein »aufgeklärter Großindustrieller« und »unzweifelhaft einer der anständigsten Arbeitgeber«. Das bescheinigte im November 1896 der sozialdemokratische »Vorwärts« dem Fabrikbesitzer Heinrich Freese in Berlin. In einer Besprechung von dessen Buch »Fabrikantensorgen« meinte der Rezensent: Allein ein Blick aufs Inhaltsverzeichnis – Arbeiterschutzgesetze, Achtstundentag, Wohlfahrtseinrichtungen, Arbeiterausschüsse, Gewinnbeteiligung und Arbeiterwohnungsfrage – zeige, Herrn Freeses Sorgen seien »nicht Dinge, die in erster Linie das Herz des lebenden Fabrikantengeschlechtes bekümmern«1).
     Als dieses Buch erscheint, lebt der am 23. Mai 1853 in Hamburg geborene Heinrich Johannes Carl Freese bereits 23 Jahre in der Reichshauptstadt. Aus der kleinen Berliner Filiale der väterlichen Jalousiefabrik an der Alster hat er das führende deutsche Unternehmen seiner Branche gemacht: die »Hamburg-Berliner Jalousie-Fabrik Heinr. Freese« mit Stammbetrieb in der Luisenstädtischen Wassergasse, später Rungestraße 18 a, und Filialen in Hamburg, Breslau und Leipzig.

Freeses Arbeiter produzieren maschinell und in großen Serien. So fertigen und installieren sie sämtliche Jalousien des preußischen Ministeriums der öffentlichen Arbeiten in der Wilhelmstraße 79. Vorwiegend für öffentliche Aufträge arbeitet die Werksabteilung, die Freese 1883 zusätzlich in Betrieb genommen hat: der Fabrikteil, der Pflasterklötze aus imprägniertem Hartholz für Straßen, Brücken, Gehwege, Höfe und Werkstätten herstellt und verlegt.

Freeses Holzpflaster in der königlichen Munitionsfabrik

In einem Schreiben an Albert von Maybach (1822–1904) erinnert Freese Anfang 1890 daran, daß sein Holzpflaster bereits von den Königlichen Eisenbahnbetriebsämtern Braunschweig, Königsberg und Kassel mit Erfolg verwendet worden sei. Zudem habe sein Betrieb in den letzten Monaten in der Königlichen Munitionsfabrik Spandau umfangreiche Plattenpflasterungen ausgeführt.2) Ein beigefügter technischer Informationsprospekt resümiert: »Außer in den Städten Berlin (Lützowstraße, Friedrichstraße, Spandauer Straße, Königstraße) und Hamburg« seien auch in Frankfurt a. M., Hanau, Halle, Karlsruhe und Rom Pflasterungen mit seinem System erfolgt.3) – Mit zeitweise bis zu 700 Arbeitern und Angestellten4) war Heinrich Freese gewerbestatistisch in die Kategorie »Großindustrieller« aufgestiegen.

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Fabrikordnung und Fabrikparlament

Diskret warb Freese von 1890 bis 1894 damit, daß sein Holzpflasteraus denBismarckschen Waldungen zu Friedrichsruh stammte. Doch dann schlampte man in Friedrichsruh derart, daß Berliner Behörden die Beseitigung bereits gelegten Pflasters verlangten und Freese schleunigst die Holzpflasterproduktion umorganisieren mußte, wollte er im Kampf gegen die Asphaltierung bestehen. Wenn der Fabrikant auch sehr geschmeichelt war, daß der Eiserne Kanzler am 30. April 1888 Freeses Holzpflasterarbeiten in der Lützowstraße in Berlin W besichtigt hatte – zur Innen- und Sozialpolitik Bismarcks (1815–1898) stand Freese als Anhänger der »alten Fortschrittspartei«, der bis 1884 konsequent linksliberal agierenden Deutschen Fortschrittspartei, konträr. Diese Partei sah zwar in der Sozialdemokratie den politischen Gegner, lehnte aber Bismarcks Sozialistengesetz ab. Was dessen Sozialgesetzgebung betraf, bemühte sich Freese, deren Unzulänglichkeiten für die eigenen Arbeiter zu mildern. Und – das unterscheidet ihn von wohl- und mildtätigen Arbeitgebern seiner Zeit – er forderte und förderte das eigene Mitentscheiden und Mitwirken seiner Arbeiter für Verbesserungen ihrer materiellen und rechtlichen Lage.
     Als erstes wollte Freese seinem Berliner Stammbetrieb eine neue Fabrikordnung geben.

»Bis dahin war die Veröffentlichung von Änderungen in der üblichen Weise erfolgt«, gesteht Freese in seinem Buch »Die konstitutionelle Fabrik«. »Die Arbeiterschaft fand eines Tages am schwarzen Brett neue Vorschriften, die meist Verschärfungen der bisherigen, nach Ansicht des Arbeitgebers nicht genügend beachteten Bestimmungen enthielten. Einwendungen, die gegen den Inhalt der neuen Fabrikordnung erhoben wurden, waren mit dem Hinweis beantwortet worden, daß diese Vorschriften nötig seien. »Es war mir bei diesem Verfahren allerdings aufgefallen, wie sehr es im Widerspruch stand zu den Forderungen, die ich selbst als junger, der bürgerlichen Linken angehörender Politiker im Vereinsleben mit Eifer vertreten hatte.«5)
     Die neue Fabrik- oder Arbeitsordnung sollte beraten werden von einer Vertretungskörperschaft der Arbeiter, die Freese nach dem Vorbild der Arbeiterausschüsse englischer Fabriken schaffen wollte. Am 3. August 1884, einem Sonntag, trat in einem Fabrikraum der Wassergasse 18 a die Arbeitervertretung erstmals zusammen. Einen Teil ihrer Mitglieder hatte der Prinzipal aus den Reihen des aufsichtsführenden Personenkreises ernannt, den anderen Teil bildeten die Mitglieder des Festausschusses. Der wurde seit 1879 von den Arbeitern in Vollversammlungen gewählt und organisierte den jährlichen Sommerfest- Ausflug. Acht Tage später, zum Ende der sechsten
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Sitzung, stand die neue Fabrikordnung. Sie durfte nur in Vereinbarung mit der Arbeitervertretung geändert werden und sollte fortan zugleich als Arbeitsvertrag gelten. Das ausgehandelte Regelwerk war ein Kompromiß. Konsens von Anfang an war der Verzicht auf jegliche Nachtarbeit, ausgenommen davon das Ausbessern von Straßen, deren Verkehrsdichte dies nicht am Tage erlaubte.
     Das »Fabrikparlament«, das nach seiner Satzung öffentlich und mindestens einmal im Quartal zusammenzutreten hatte, erhöhte nach wenigen Jahren seine Autorität als Arbeiterrepräsentanz: 1890 wählte erstmals eine Arbeiter- Generalversammlung elf der Mitglieder. Arbeitgeber Freese ernannte vier weitere. Sein Ernennungsrecht, auf das er erst anläßlich des 25jährigen Jubiläums der Arbeitervertretung verzichtete, nutzte Freese mehrfach auch dazu, Frauen in dieses Gremium zu bringen. (1897 wählten die Arbeiter der Breslauer Fabrik, 1901 die der Hamburger und der Leipziger Filiale eigene Ausschüsse.)

Staatsratsdebatte und Tarifverhandlung

In Berlin war Heinrich Freese der erste Industrielle, der eine Arbeitervertretung einberufen hatte (seit 1911 trug sie die gesetzliche Bezeichnung Arbeiterausschuß). Das brachte ihm Anfang 1890 die Berufung zum

Sachverständigen für Arbeiterfragen im Preußischen Staatsrat. Der sollte eilig beraten, welche gesetzlichen Konsequenzen sich aus dem »Arbeitererlaß« vom 4. Februar 1890 ergeben könnten, den Kaiser Wilhelm II. (1859–1941, Kaiser von 1888–1918) aus der Defensive gegen die erstarkende Arbeiterbewegung verkündet hatte. Die kaiserlichen Fragen, »ob eine allgemeine Einführung der Arbeiterausschüsse, in denen die Arbeiterschaft eines Unternehmens eine konstitutionelle Vertretung erhält, wünschenswert sei« und »ob es rätlich und ausführbar sei, für Betriebe mit einer gewissen Arbeiterzahl die Einrichtung von Arbeiterausschüssen vorzuschreiben«,6) beantwortete der Sachverständige aus der Wassergasse mit dem Plädoyer, in allen gewerblichen Betrieben mit mindestens 20 Mitarbeitern obligatorisch Arbeiterausschüsse einzuführen. Doch die Verbände der Großindustrie liefen Sturm gegen dieses Ansinnen. Der Staatsrat lehnte es ab, Arbeiterausschüsse als obligatorisch zu empfehlen. Die Reichstagsmehrheit zog nach.
     Bei den Beratungen im Staatsrat hatte ein Jurist und Verfassungsrechtler den Arbeitgeber mit dem Monarchen, die Werksbeamten, die leitenden Angestellten also, mit den Ministern und die Ausschußmitglieder mit den gewählten Volksvertretern verglichen. Heinrich Freese machte sich diesen Vergleich zu eigen. Die Einführung von Arbeiterausschüssen mit dem Recht, eine
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Arbeitsordnung zu beraten und anzuerkennen, bedeute für jedes Fabrikwesen den Übergang vom absoluten zum konstitutionellen System. Er räumte allerdings ein: »Von vielen entscheidenden geschäftlichen Entschließungen, von denen Wohl und Wehe des Betriebes abhängen, ist das Fabrikparlament ausgeschlossen.« Und, was er dann oft in der Praxis nicht wahrhaben möchte: »Der Gegensatz zwischen Unternehmer und Arbeiterschaft wird gemildert, begrenzt, aber nicht aufgehoben. Eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft wird durch die Bildung von Arbeiterausschüssen mit noch so weitgehenden Rechten nicht herbeigeführt.«7)
     Die von der Arbeitervertretung in Freeses Berliner Fabrik 1884 bestätigte Arbeitsordnung bestimmte, daß die Tarife durch Verhandlungen des Chefs mit der Arbeiterschaft der einzelnen Werkstätten zustande kommen sollten. Der nach dieser Vorschrift im Dezember 1884 abgeschlossene Tarifvertrag war einer der ersten in ganz Deutschland. Die Tarife wurden alle zwei, später alle drei Jahre neu ausgehandelt. Die Arbeiter der entsprechenden Werkstatt waren durch die Mitglieder der Arbeitervertretung aus ihrem Bereich sowie durch den Vorsitzenden vertreten. Über die Akkordlöhne, die Freese favorisierte, hatte der Arbeiterausschuß jedoch nicht zu verhandeln. Hier lag eine der Grenzen der »konstitutionellen Fabrik«.
Acht Stunden und Gewinnbeteiligung

Im Jahre 1889 trat Freese an seine Berliner Arbeitervertretung mit dem Vorschlag heran, es mit dem Achtstundentag zu versuchen. »Mich leitete ... keine Schwärmerei für die bekannte Forderung einer Dreiteilung des Tages in Arbeit, Erholung und Schlaf, womit mancher Arbeitgeber, wenn sie ihm bewilligt würde, sehr zufrieden sein würde«, bekannte der Autor der »Konstitutionellen Fabrik« in der ersten Auflage seines Buches. Wenn Heinrich Freese selbst sehr ausgedehnte Arbeitstage hatte, dann lag das nicht nur an seiner Fabrikantentätigkeit. Im Bund für Bodenbesitzreform übte er ab 1890 das Amt des Bundesvorsitzenden aus, gab über Jahre das Bundesorgan »Frei Land« heraus und übernahm ab 1898 den Ehrenvorsitz der Nachfolgeorganisation Bund für Bodenreform. Freese engagierte sich des weiteren in der 1891 in Berlin gegründeten Centralstelle für Arbeiter- Wohlfahrtseinrichtungen. Und schließlich diente er von 1893 bis 1909 dem Berliner Spar- und Bauverein als Vorstandsmitglied, Kassenwart und Werber neuer Genossenschaftsmitglieder in der eigenen Fabrik. Doch weiter zum Achtstundentag: »Ich hoffte durch eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 8 Stunden die Kosten für den Maschinenbetrieb, die Beleuchtung und Heizung zu vermindern und durch Gewöhnung der Arbeiter an eine bessere Zeit-

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ausnutzung die Leistungsfähigkeit der Fabrik zu erhöhen.«8) Eine vom Arbeiterparlament einberufene Generalversammlung lehnte eine Verkürzung der Arbeitszeit auf acht Stunden ohne Lohnausgleich ab. Man einigte sich versuchsweise auf neun Stunden. Das Konzept des Unternehmers ging in der Folgezeit auf: Die Arbeit in den Werkstätten intensivierte sich bei etwa gleichbleibenden Löhnen. Am 3. März 1892 war im Stammbetrieb der Achtstundentag Realität. (In der Zweigfabrik Breslau erst am 16. Dezember 1916! Auf den Baustellen blieb es für Freese-Arbeiter bis 1919 beim Neunstundentag.)
     Daß die »Masse arbeitswilliger Hände dem Unternehmertum heute feindlich gegenübersteht, anstatt an seinem Erfolg mit Kopf und Hand teilzunehmen«, wertete Heinrich Freese als »das eindringlichste Zeichen dafür, daß in dem heutigen Lohnsystem nicht alles so ist, wie es sein sollte«. Die Beteiligung am Unternehmergewinn könne hier helfend eingreifen, als neues Lohnsystem, »das die vorhandenen Gegensätz überbrückt und alle Beteiligten eines Unternehmens zu einer Familie vereint«.9)
     Teilhabe am Gewinn führte der Inhaber der Hamburg- Berliner Jalousie-Fabrik 1889 jedoch vorerst lediglich für seine »Beamten« ein. Die Arbeiter kamen zwei Jahre später dran. Am 30. Januar 1891 verteilte der Prinzipal zwei Prozent seines im Vorjahr erzielten Reingewinns. Für die Beamten rentierte sich das mit 9,97 Mark pro 100 Mark ihres
Jahresverdienstes. Für die Arbeiter blieben 63 Pfennige auf 100 Mark übrig – etwa das Drittel eines Wochenlohnes! 1895 machte es bei einem auf fünf Prozent gestiegenen Ausschüttungssatz ungefähr ein Drittel mehr als einen Wochenlohn aus. Daß unter allen Mitteln die Gewinnbeteiligung eines der wirksamsten zur »Hebung der Lage der arbeitenden Klassen«10) werden könne – dies blieb ein Traum Freeses.
     Bevor das Jahrhundert auf die Anfangsziffern 19 umschaltete, stimmte die Arbeitervertretung in der Rungestraße 18 a folgendem Vorschlag ihres Firmenchefs zu: Alles, was über fünf Prozent Gewinnbeteiligung ansteigt, wird den Arbeitern nicht mehr direkt ausgezahlt, sondern es wird der betrieblichen Unterstützungskasse zugeführt, deren Gelder wiederum verzinslich bei der 1875 eingerichteten Betriebssparkasse angelegt sind. Die am 2. November 1885 ins Leben gerufene Unterstützungskasse war für die Arbeiter und deren Familien wohl die wichtigste jener Reformneuerungen Freeses, die er unter dem Kennwort »Wohlfahrtseinrichtungen« zusammenfaßte. Sie stockte die zeitlich und finanziell außerordentlich begrenzten Leistungen auf, die dem Arbeiter nach dem Bismarckschen Krankenversicherungsgesetz zustanden. Gegen die Zahlung eines geringen Wochenbeitrages erhielten die Freese-Arbeiter schrittweise höhere Krankengelder für eine längere Dauer. Dem Freeseschen Arbeiter-
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ausschuß war es auch möglich, in bestimmten Fällen zeitlich begrenzte kleine Witwenpensionen sowie Betriebspensionen zu genehmigen, letzteres geschah allerdings von 1902 bis 1922 nur siebenmal.

Der Krach mit den Gewerkschaften

Daß Industriearbeiter sich Gewerkschaften zuwandten, war in den Augen Freeses eigentlich nur auf das falsche, uneinsichtige Verhalten der anderen, der unaufgeklärten absoluten Fabrikmonarchen zurückzuführen. »Gerade dadurch, daß die Arbeitgeber sich weigern, ihren Arbeitern im eigenen Hause einen Einfluß auf die Arbeitsbedingungen zu gewähren, zwingen sie sie, sich ausschließlich auf die außerhalb der Fabrik bestehenden Organisationen zu verlassen. Diese Organisationen zu brechen, ist selbst dem kapitalkräftigen englischen Unternehmertum nicht gelungen. Es wird auch in Deutschland unmöglich sein, und die Bildung von Arbeiterausschüssen kann deshalb weder den Zweck noch den Erfolg haben, die Wirksamkeit dergewerkschaftlichen Organisationen aufzuheben.«11)
     Es war aber das Verhältnis des Fabrikanten Heinrich Freese zu den sehr selbstbewußt, kampffreudig und mitgliederstark gewordenen Gewerkschaften, das in den Jahren 1910 und 1911 zum großen unreparablen Krach führte. Der Umzug der Fabrik im

Herbst 1908 nach Niederschönhausen (Blankenburger Straße 33–35, spätere Hausnummer 90–100) hatte den Arbeiterinnen und Arbeitern bessere Sozialräume gebracht, Kinderspielplätze, Schrebergärten im werkseigenen »Luisengarten«, wo nun auch die Sommerfeste stattfanden. Doch die Losung im Männer- Erholungsraum, »Die Fabrik für alle. Alle für die Fabrik«, ging nicht auf.
     Vorgeschichte, Ursachen, Ausweitung des großen Krachs füllen viele Spalten des SPD- Zentralorgans »Vorwärts« und der »Holzarbeiter- Zeitung«, Organ des Deutschen Holzarbeiterverbandes, auf der einen und der Freeseschen Streitschrift »Der freie Werkvertrag und seine Gegner« auf der anderen Seite. Am 24. November 1910 empfiehlt Freese den Mitgliedern seines Arbeiterausschusses sowie den übrigen Arbeitern der Fabrik, aus den »sozialdemokratischen Verbänden« auszutreten. Neun Tage später teilt er am Schwarzen Brett mit, er werde keine Mitglieder dieser Verbände mehr in Berlin und in allen Filialen einstellen. »Ich lege Wert darauf, daß bei Anstellungen möglichst die Mitglieder a) der deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker), der christlichen nationalen (evangelischen) oder christlichen Arbeiterverbände eingestellt werden.«12) Am 18. März 1911 bricht der Streik aus. Besonders öffentlichkeitswirksam ist der Ausstand der Holzpflasterer: In Berlin, Posen, Hannover, Frankfurt a.M.,
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Breslau, Dortmund, Bonn, Karlsruhe und Leipzig bleiben Straßen unfertig liegen.
     Die 1913 erschienene Polemik über den freien Werkvertrag und seine Gegner schließt Freese mit einem »Mahnruf« an »meine Standesgenossen«, »dem Kampfe um die Seele des Arbeiters und damit um die Zukunft unseres Volkes nicht länger auszuweichen. Der Sieg liegt noch in unserer Hand. Wir können ihn aber nur erringen, wenn wir den Forderungen der Zeit nachgekommen sind. Nur wenn das geschehen ist, werden die Arbeiter aufhören, dem Lockruf der Sozialdemokratie zu folgen. Die Reihen der nationalen Vereine und Gewerkschaften, der Kriegervereine und der vaterländischen Jugendorganisationen werden sich dann füllen. Der konstitutionellen Fabrik wird dann die Zukunft gehören.«13)

Die letzte Sitzung des Arbeiterausschusses

Die Stunde der Kriegervereine und vaterländischen Jugendverbände kam bald. Der Weltkrieg sorgte für Kriegerwitwenrenten und Kriegswaisenbeihilfen in Freeses Fabrik. Der von Freese erhoffte »Zuwachs an Macht und Landbesitz« und der einem Sieg folgende »Aufschwung auf allen Gebieten«14) blieben aus. Es folgten statt dessen die »Jahre des Unheils 1918 und 1919«, die an Freeses Unternehmen »nicht spurlos vorübergegangen«15) seien. Im letzten Kriegsjahr hatte

Freese zwar noch ein Stadtgeschäft in Berlin W 35, in der Steglitzer Straße 54 (heute Pohlstraße), eröffnet. Doch nachdem er bereits die Leipziger Filiale wegen Unrentabilität aufgegeben hatte, verkaufte er im Juni 1919 die Fabrik in seiner Geburtsstadt. Das Niederschönhausener Werk nannte sich nun »Heinrich Freese G.m.b.H. Jalousiefabrik Niederschönhausen«. Freeses Arbeiterausschuß trat am 30. November zu seiner letzten Sitzung zusammen. Er übergab die Unterstützungskasse und die übrigen Wohlfahrtseinrichtungen dem siebeneinhalb Monate zuvor gewählten Betriebsrat.
     Es wurde stiller um Heinrich Freese. Anläßlich seines 70. Geburtstages verlieh die Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen dem »vorbildlichen Arbeitgeber und Schöpfer der >konstitutionellen Fabrik< in Ehrung seiner Verdienste um Theorie und Praxis der Sozialpolitik« die Würde eines Dr. rer. pol. h. c.16) Ein Jahrzehnt später machte der NS-Staat aus dem Fabrikbesitzer einen Betriebsführer, eine »Person, die zur Entscheidung über die im Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit geregelten betrieblichen Angelegenheiten, z. B. Erlaß einer Betriebsordnung, berufen ist«.17)
     Höchstwahrscheinlich der Tages- Luftangriff vom 21. Juni 1944 war es, der Fabrik und Fabrikantenvilla des Heinrich Freese zerstörte. Der alte Heinrich Freese fand Unterkommen bei seinem Sohn Heinrich in Strausberg, in der Bismarckstraße.
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Unter dem Datum des 29. September 1944 zeigte auf dem Standesamt Strausberg der Rittmeister a. D. Heinrich Freese das Ableben seines Vaters an.
     Von des Berliner Sozialreformers Heinrich Freese Grab ist heute genausowenig zu finden wie von seiner einstigen Fabrik.

Quellen:
11     »Vorwärts. Berliner Volksblatt« vom 22.11.1896, 3. Beilage
2     Heinrich Freese, Brief an den Staatsminister der öffentlichen Arbeiten Albert von Maybach vom 21. 1. 1890, Abschrift, Otto-von- Bismarck- Stiftung, Friedrichsruh, Wirtschaftsarchiv
3     Friedrichsruher Holzpflaster- Platten der Hamburg- Berliner Jalousie-Fabrik, Berlin 1890, Ebenda
4     Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 3, München, New Providence, London, Paris 1996, S. 420
5     Heinrich Freese, Die konstitutionelle Fabrik, Jena 1909, S. 1
6     Heinrich Freese, Das konstitutionelle System im Fabrikbetriebe, 2. veränderte Ausgabe, Gotha 1905, S. 4
7     Ebenda, S. 13, 62
8     Heinrich Freese, Die konstitutionelle Fabrik, a. a. O., S. 29
9     Heinrich Freese, Fabrikantenglück, Eisenach 1899, S. 43 f.

10     Heinrich Freese, Fabrikantensorgen, Eisenach 1896, S. 53
11     Heinrich Freese, Das konstitutionelle System ..., a. a. O., S. 64
12     »Vorwärts. Berliner Volksbatt« vom 20.12.1910
13     Heinrich Freese, Der freie Werkvertrag und seine Gegner, Jena 1913, S. 57
14     Heinrich Freese, Die Bauverhältnisse in Großberlin vor und nach dem Kriege, Jena 1915, S. 35
15     Heinrich Freese, Die konstitutionelle Fabrik, 4. durchges. Auflage, Jena 1922, S. 15
16     150 Jahre Promotion an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, Stuttgart 1984, S. 591
17     Der Volks-Brockhaus, 10. Auflage, Leipzig 1943
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