Eine Rezension von Helmut Eikermann

Ein Unrechtsstaat von Anfang an?

Häufig zucken ehemalige DDR-Bewohner bei der pauschalen Bezeichnung „Unrechtsstaat“ für ihr beigetretenes Land zusammen. Wer läßt sich gerne - noch dazu von zumeist höchst Unkundigen, Außenstehenden bescheinigen, er habe vierzig Jahre nicht nur in einem solchen Staat gelebt, sondern ihm auch noch mehr oder weniger bedingungslos gedient?

Als Fazit der zu rezensierenden Dokumentationen - um solche handelt es sich bei allen drei Büchern, auch wenn Beckert über sein engeres Thema hinaus einen Abriß der Entwicklung und der Rolle der DDR-Justiz liefert und Mittmann seinen Report streckenweise mit fiktiven Mitteln erzählt - ergibt sich schlüssig: Die DDR, belastet gleichermaßen mit dem unseligen Erbe jüngster deutscher Vergangenheit wie mit den menschenverachtenden stalinistischen Traditionen des NKWD, war von Anfang an ein Unrechtsstaat. Die Autoren, die diesen Vorwurf verbal zwar nicht erheben, seine Richtigkeit jedoch immer wieder belegen, sind keineswegs außenstehend und unkundig. Rudi Beckert hat bis zum letzten Tag der DDR und ihres höchsten Gerichtshofs als Oberrichter an eben diesem Obersten Gericht (OG) gewirkt; der Theaterwissenschaftler Günter Agde war über viele Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Künste und publizierte nach 1989 u. a. die Dokumentenbände über das 11. Plenum des ZK der SED 1965 und über das sowjetische Speziallager Nr. 7 in Sachsenhausen; Wolfgang Mittmann, Hauptkommissar der Kriminalpolizei i. R. und Autor von Kriminalerzählungen, -hörspielen und -romanen hat sich seit den sechziger Jahren intensiv mit der Geschichte der Volkspolizei befaßt, zuerst mit der offiziellen, bald aber auch mit der bis dahin ungeschriebenen, deren Ergebnis sein Buch ist, dem bald ein zweiter Band folgen wird.

Beckert gliedert die vor dem OG verhandelten Fälle in Prozesse zum Schutz der Volkswirtschaft, deren erster am 29. April 1950 auf der Bühne des Dessauer Theaters mit einem Strafmaß von 90 Jahren Zuchthaus für neun Angeklagte endete, in Politprominenz auf der Anklagebank - immerhin standen (innerhalb eines Jahres!) drei Minister, darunter der Justiz- und der Außenminister, ein stellvertretender Minister und zwei Staatssekretäre der ersten DDR-Regierung als vom ehemaligen Nazi-Juristen Melsheimer angeklagte Wirtschaftsschädlinge, Spione und Staatsfeinde vor den obersten Richtern und wurden zu hohen, z. T. lebenslangen Zuchthausstrafen verurteilt -, in Feinde in den eigenen Reihen und in Spione, Agenten, Hetzer, Terroristen und andere. Beckerts bittere Bilanz nach eingehendem Studium der erst- und letztinstanzlichen Urteile, gegen die eine Berufung nicht möglich war, lautet: „Die begangenen Ungesetzlichkeiten ungeschehen zu machen ist unmöglich; sie wiedergutzumachen sehr schwer und oft unbefriedigend. Sie aufzudecken ist notwendig.“

In der Tat findet sich unter den in der Sammlung aufgelisteten Urteilen samt Vorgeschichte kein einziges, das einer rechtsstaatlichen Prüfung auch nach den Maßstäben des DDR-Rechts standhielte. Ungesetzliche Methoden der Strafverfolgung, mittelalterliche Haftbedingungen und psychische, in den ersten Jahren oft genug auch physische Folter bis zur Geständniserpressung, gezielt einseitige und unwahre politische Propaganda, Vorverurteilungen, Beschimpfungen, willkürliche Gesetzesauslegungen und Einschränkungen des Verteidigungsrechts waren im Umfeld der OG-Prozesse wie in der gesamten politischen Strafjustiz der DDR an der Tagesordnung. Beckert schließt sich der Einschätzung Karl Wilhelm Frickes an, eines - nicht zuletzt infolge eigener Erfahrungen - profunden Kenners dieser politischen Strafjustiz der DDR: „Die Bedeutung des OG als Herrschaftsinstrument der SED läßt sich direkt aus seinen Entscheidungen in politischen Strafsachen ablesen. Allein die politischen Strafurteile des OG spiegeln die Geschichte der DDR einprägsam wieder.“

Man kann davon ausgehen, daß alle Urteile des OG vom jeweiligen Generalsekretär der Partei festgelegt, zumindest abgesegnet, aber auch verschärft und in Einzelfällen wieder aufgehoben wurden; der zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilte Handelsminister Hamann und sein Staatssekretär Paul Baender wurden zwei Jahre nach der Urteilsverkündung „begnadigt“; Paul Merker, nach fast zweieinhalbjähriger Untersuchungshaft im März 1955 als Spion zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, wurde 15 Monate später vom gleichen OG (in gleicher Zusammensetzung!) in einer zweiten Verhandlung freigesprochen.

In Wahrheit waren die Prozesse gegen angebliche Spione und Wirtschaftsverbrecher in erster Linie gegen die bürgerlichen Kräfte in den Blockparteien und gegen ehemalige Sozialdemokraten und politisch unbequeme Abweichler und Westemigranten in den eigenen Reihen gerichtet. Daß ein vom späteren BND-Chef Gehlen in seinen Erinnerungen für „den Dienst“ vereinnahmter stellvertretender Ministerpräsident von den „Organen“ nicht entlarvt wurde, sei hier nur am Rande angemerkt.

Gegen die weniger prominenten Agenten und Saboteure, denen sämtlich Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten vorgeworfen und mitunter sogar nachgewiesen wurde, kam es ab Mai 1952 mehrfach zu Todesurteilen, die fast immer auch vollstreckt wurden. Nicht nur im Fall Burianek, dem ersten der Hingerichteten, kamen Beckert beim Studium der Akten Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Voruntersuchung, Prozeß und Urteil. Möglicherweise läßt sich die Vorgeschichte dieser und ähnlicher Vorgänge eines Tages detailliert aus den Unterlagen der Gauck-Behörde rekonstruieren.

Mittmann hat solche Rekonstruktionen - ohne Kenntnis von Gauck-Unterlagen - in vier Fällen mit besonderer Akribie vorgenommen. Vom Eisenbahnattentat in Burkau über den Schauprozeß in Dessau und die Blutspur der „Großfahndung Uckro“ reichen seine Recherchen bis zum „Feuerteufel von Döbberick“, einem Pyromanen, aus dem die Staatssicherheit einen vorsätzlichen Staatsfeind machte. Die größte Fahndungsaktion in der Geschichte der Volkspolizei hingegen endete mit einem so schmählichen Fehlschlag, daß sich darüber in der offiziellen Geschichte der Volkspolizei kein einziges Wort findet. Dafür sorgte ein Mann, der im Oktober 1953 zumindest für einige der Toten und Verletzten in der Gegend um das märkische Uckro veranwortlich war und sich an anderer Stelle der Volkspolizeigeschichte ins beste Licht zu setzen wußte: Willi Seifert, Generalleutnant und Stellvertreter des Chefs der VP und jahrzehntelang stellvertretender Innenminister der DDR.

„Im November 1949 gelang es der Zentralen Kommission für staatliche Kontrolle mit maßgeblicher Unterstützung der Volkspolizei und der Werktätigen, eine von BRD-Konzernen gelenkte großangelegte Wirtschaftssabotage in Sachsen-Anhalt aufzudecken“, heißt es in der erwähnten VP-Geschichte, obwohl die Polizei allenfalls die Bewachungskräfte für die Prozeßinszenierung im Dessauer Theater stellte. Hier hieß der eigentliche Macher Fritz Lange, Chef jener allmächtigen Zentralen Kommission, einem Vorläufer der Hauptabteilung XVIII im Ministerium für Staatssicherheit. Mittmann hat mancherlei interessante Fakten über den Dessauer Prozeß zusammengetragen, die Beckerts Ausführungen ergänzen. Auch im Fall des Tschechen Zbynek Janata - bei Beckert „Ein Mord, der nicht verhandelt wurde“ - finden sich die Einzelheiten über die Todesschüsse von Uckro bei Mittmann, der u. a. zahlreiche Zeitzeugen und Teilnehmer der Großfahndung befragt hat. Auf die gleiche Weise ist der professionelle Kriminalist - in Ergänzung zu den in allen drei Büchern ausführlich zitierten Dokumenten - bei seinen Ermittlungen in der Oberlausitz vorgegangen, wo laut Willi Seifert bei „einem Attentat, das faschistische Elemente am 29. November 1945 in Burkau, Kreis Kamenz, auf einen von einer antifaschistischen Brigade gefahrenen Personenzug verübten, ... sechs Reisende getötet und zahlreiche verletzt (wurden). Durch hervorragenden Einsatz aller beteiligten Dienstzweige der Polizei konnten die Täter innerhalb kurzer Zeit ermittelt und dem Gericht übergeben werden.“ In Wahrheit - und die stand seit Dezember 1945 fest, wie Mittmann nachweist - hatte eine schwere Lok einen Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg zur Explosion gebracht. Die Toten waren der Lokführer und fünf weitere Eisenbahner - von Seifert zur „antifaschistischen Brigade“ hochstilisiert. Und die angeblichen Täter - wahllos verhaftete ehemalige HJ-Angehörige aus Burkau und Umgebung - wurden vom sowjetischen NKWD innerhalb weniger Wochen und ohne Gerichtsverfahren freigelassen.

Weniger Glück hatten die 39 Greußener Jungs, deren erschütterndes Schicksal Günter Agde beschreibt. Auch sie gerieten mit tatkräftiger Unterstützung deutscher Polizeikräfte Ende 1945 in die Fänge des NKWD, nachdem wichtigtuerische KPD-Mitglieder die Existenz des Werwolfs in der thüringischen Kleinstadt Greußen mittels selbstverfertigter Zettel nachzuweisen versucht hatten. Obwohl der Drahtzieher bald darauf entlarvt und verhaftet wurde, kamen die zumeist 15- bis 22jährigen nicht wieder frei. Agde kommentiert das Tauziehen um die Verurteilung des Verursachers und den verzweifelten Kampf der Eltern um ihre über Jahre vermißten Söhne nur sparsam. Gewiß trifft hier die Hauptverantwortung für das schreiende Unrecht den sowjetischen NKWD. Daß jedoch vier der gerichtsnotorisch schuldlosen Jugendlichen - der jüngste war am Tag vor seinem 15. Geburtstag verhaftet worden - nach Jahren im Speziallager Sachsenhausen, die fünfzehn von ihnen nicht überlebten, zwei weitere sterben wenig später, erst zum 1. Jahrestag der DDR freigelassen wurden, geht auf das Konto der DDR-Justiz. „Dieser Gnadenerweis ist ein Ausdruck der Stärke unserer Republik“, teilt Dr. Leo Zuckermann dazu mit, in jenen Tagen noch Staatssekretär und Chef der Präsidialkanzlei Wilhelm Piecks, später Direktor des Instituts für Rechtswissenschaft. Ende 1952 gerät er selber als Helfershelfer Merkers unter Beschuß und flieht nach dem Westen.

Das Gnadengesuch an Pieck für den letzten - noch im Oktober 1953 (!) in Waldheim inhaftierten - Greußener blieb unbeantwortet. Agdes Buch schließt mit dem knappen Satz: „Von den 38 Greußener Jungs sind 24 nicht nach Hause zurückgekehrt.“

War das ein Rechtsstaat?

Rudi Beckert: Die erste und letzte Instanz
Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR.
Keip Verlag, Goldberg 1995, 340 S.

Günter Agde: Die Greußener Jungs
Hitlers Werwölfe, Stalins Geheimpolizisten und ein Prozeß in Thüringen.
Eine Dokumentation.
Edition Reiher im Dietz Verlag, Berlin 1995, 288 S.

Wolfgang Mittmann: Fahndung
Große Fälle der Volkspolizei.
Verlag Das Neue Berlin, 1995, 256 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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